Freitag, 1. Oktober 2021

U90 und die Frage "Ist Sport Mord?"

Mein Gewicht heute früh: 89,9 Kilogramm. Nicht nur neues Niedrigstgewicht, sondern damit habe ich einen echten Meilenstein erreicht. 

Wann habe ich wohl zuletzt weniger als 90 Kilo gewogen? Ich habe, um ehrlich zu sein, keine Ahnung. Nach der Geburt meines Sohnes 1987 hatte ich sie noch, die 8 an der ersten Stelle (und die schien damals ja auch schon schlimm genug, weil es vor der Schwangerschaft natürlich eine 7 gewesen war). Was ich aber nicht weiß, ist wann ich sie durch die 9 ersetzt habe. Möglicherweise Ende 1989 nach meinem Bänderriß. Vor der OP - damals wurde so etwas noch operiert - mußte ich tagelang liegen, und danach hatte ich 6 Wochen lang einen Gips und war krankgeschrieben. In dieser Zeit habe ich gemerkt, daß ich irgendwie mehr zu werden schien.

Mein dirty little secret: Ich habe ein wenig geschummelt, um die heiß ersehnte U90 zu erreichen. Aber es war, finde ich, nicht schlimm geschummelt. Heute morgen habe ich nämlich statt zwei Bechern Kaffee nur einen getrunken. Sieht jetzt fast so aus, als hätten diese 200 ml hin oder her den Unterschied gemacht. Vielleicht hätte der zusätzliche Becher aber auch eine ausgiebigere Sitzung auf "Für kleine Bloggerinnen" ausgelöst, als ich sie heute hatte (ich spüre da immer noch etwas in meinem Gedärm blubbern),  und die Sache wäre gewichtsneutral ausgegangen. 

Daß ich mich erst nach dem Kaffee wiege, hat gewissermaßen historische Gründe. Anfangs habe ich meine Fasterei ja verheimlicht, um keine Fragen gestellt zu bekommen, auf die ich keine Antwort geben wollte, also mußte die Waage unauffällig an strategischer Stelle untergebracht werden. Und an diese Stelle kam ich erst nach dem Kaffeetrinken ran, ohne von meinem Mann erwischt zu werden. Das ist natürlich alles längst Geschichte, aber ich bin bei meinem Wiegezeitpunkt geblieben, damit die Ergebnisse in sich vergleichbar sind.

Daß es doch noch knapp werden würde, war mir gestern, als die Waage mir 90,8 zeigte, bereits bewußt. Den ganzen Tag über sind mir die bescheuertsten Ideen durch den Kopf gegangen, auf welche Weise ich ein Gewicht unter 90 heute sicherstellen könnte. Das reichte von einem mindestens einstündigen Spaziergang heute morgen, bevor ich mich auf die Waage stelle (aber das wäre noch schlimmer gemogelt gewesen wegen des Wasserverlusts und außerdem habe ich für so was ja gar keine Zeit) über ein starkes Abführmittel (noch dämlicher ginge es kaum) bis zu, nicht lachen, einem Friseurbesuch. Ich sollte nämlich schon längstens mal wieder, was mich davon abhält, ist, daß mir mein Stammfriseur verloren gegangen ist und es mich Überwindung kostet, einen neuen zu suchen. Dieses Jahr habe ich meine Haare mehrmals selbst nachgeschnitten, und als Notlösung ging das. Gestern habe ich wieder ein kleines bißchen an mir herumgeschnipselt und mir überlegt, daß es, wenn es richtig gemacht würde, auch hundert bis zweihundert Gramm ausmachen müßte, was mir ein Friseur wegschneiden würde. 

Was für geistige Klimmzüge nur wegen einer Zahl, etwas Abstraktem! Aber Symbole sind halt auch psychologisch wichtig. Und diese 8, ich erwähnte es schon, wenigstens einmal noch in diesem Jahr zu sehen, bedeutet mir wirklich unheimlich viel. Falls es bis zum nächsten März dauern sollte, bis ich sie zum zweiten Mal sehe, kann ich das aber problemlos aushalten, obwohl es natürlich nett wäre, sie dieses Jahr noch öfters begrüßen zu können. 

***

Herman Pontzer feuert dieses Jahr wirklich aus allen Rohren. Die Frequenz seines Outputs an wissenschaftlichen Fachartikeln ist  verblüffend, und jeder enthält interessante neue Detailerkenntnisse. Der, um den es mir heute geht, ist sogar in der Zeit zurückgewandert, denn als Erscheinungsdatum des Aufsatzes in "Current Biology" wird der 25. Oktober 2021 angegeben. Trotzdem ist er aber bereits seit dem 27. August online verfügbar. Ich habe ihn gestern das erste Mal gesehen.

Und, wow, hat der es in sich! Deshalb muß Benjamin Bikman auch noch weiter auf seinen Einsatz warten. Neben Pontzer sind übrigens Dutzende Autoren mitbeteiligt gewesen.

Es geht wieder einmal um den Sport und den dabei schwindenden Kalorienverbrauch. Daß es so ist, daß also der Stoffwechsel sich an mehr Bewegung anpaßt und den Energieverbrauch reduziert, steht für Pontzer ja längst zweifelsfrei fest (und seine Belege haben auch mich überzeugt). Aber nun bohrt er außerdem hartnäckig an dem dicken Brett mit der Frage, warum das eigentlich so ist. Den möglichen Antworten nähert er sich mit jeder Studie weiter an; man hat das Gefühl, er versucht sie zu umzingeln. In der aktuellen Studie wurden bereits existierende Daten ausgewertet, die sich diesmal weder mit Extremleistungen oder Berufssportlern noch mit exotischen Volksgruppen, sondern mit ganz normalen Leuten und deren Energieverbrauch befassen, und zwar sowohl mit deren Grundumsatz als auch ihrem Gesamtumsatz.

Herausgefunden wurde auf Basis der ausgewerteten Daten, daß der "Schwund" beim Energieverbrauch des Körpers bei mehr Bewegung im Durchschnitt 28 % beträgt. Mit anderen Worten, wer Sport zum Abnehmen treibt, könnte dann - natürlich erst nach der schwungvollen Anfangsphase, bevor der Stoffwechsel sich ändert; das müßte mehrere Monate dauern - nur 72 % seines Mehrverbrauchs durch Sport in seiner Energiebilanz kalkulieren.

Jedenfalls wäre das so, wenn wir Zahlen in einer Statistik wären, denn ein Durchschnittswert bedeutet ja, daß es auch Studienteilnehmer gab, bei denen der Schwund niedriger oder höher ausfiel. In Wirklichkeit ist die Sache, betrachtet man nicht den Durchschnitt, sondern Gruppen mit unterschiedlichen Merkmalen - in diesem Fall der BMI -, nämlich sogar noch viel unangenehmer: Der Energiekompensationseffekt, also der Rückgang des Gesamtumsatzes, variiert und es stellte sich heraus, daß er umso höher ausfällt, je höher der BMI. Bei den zehn Prozent der Dicksten - das waren die Teilnehmer ab einem BMI von ca. 35 - liegt dieser Schwund sogar bei 50 %. Genau diejenigen, die am verzweifeltsten abnehmen möchten, haben also im Durchschnitt besonders wenig davon, Sport zu treiben. 

Wenn man das jetzt bitte noch auf die einzelnen Teilnehmer dieser Gruppe "BMI 35+" herunterbrechen könnte ...? Ist das nämlich wirklich bei allen so, oder gibt es auch innerhalb dieser Gruppe ein paar Glückspilze und Pechvögel, bei denen der Schwund noch höher ausfällt? Ich fürchte fast, daß eine solche Auswertung dies herausbekäme.

Es ehrt die Autorengruppe einschließlich Pontzer, über den ich ja auch schon kritische Worte gefunden habe, daß sie die Frage aufwerfen, was bei diesem Phänomen Ursache und was Wirkung ist, und dazu aufrufen, sich mit den kausalen Ursachen zu befassen, anstatt die Sache kurzerhand in das klassische Weltbild irgendwie mit einzubauen zu versuchen, wie das sonst so üblich ist, also den Studienteilnehmern Schummeleien größeren Stils zu unterstellen, was ihren tatsächlichen Sporteinsatz betrifft.

Unter anderem ziehen sie auch eine genetische Prädiposition als Ursache in Betracht und deuten auch an, daß dies ihr Hauptverdächtiger sei. Mein eigener Hauptverdächtiger ist zwar ein anderer, denn ich nehme an, der Täter sind die Stoffwechselveränderungen, die auch zu der Adipositas führen, aber erstens könnte ich mir daneben durchaus eine Rolle der genetischen Veranlagung vorstellen und zweitens wäre die Suche nach dem Täter, auch wenn man an der falschen Stelle damit anfängt, jedenfalls endlich mal wieder eine richtige Chance, bei der "Befragung der Zeugen" auf die richtige Spur gelenkt zu werden. Drittens bin ich mit den Schlußfolgerungen für die Praxis, die gezogen werden, dann wieder einverstanden, weil sie in beiden Fällen gelten.

In beiden Fällen nämlich gäbe es Teilpopulationen, die aus Sport bei der Gewichtsreduktion großen Nutzen ziehen können, aber ebenso andere, bei denen es den Aufwand von vornherein nicht lohnt - und natürlich ein ganzes Spektrum von graduellen Abstufungen zwischen diesen beiden Extremfällen. Man könnte somit individuelle Empfehlungen abgeben, ob Sport in einem bestimmten Fall zur Gewichtsabnahme eher empfehlenswert ist oder eher nicht. Das Wissen, daß man die Kalorienkalkulation im Lauf der Zeit anpassen müssen, würde sicherlich dem einen oder anderen helfen, weiterhin motiviert zu bleiben - auch wenn ich diese Sache natürlich zwiespältiger sehe.

Die zugrundeliegende genetische Basis zu verstehen, könnte der Schlüssel dazu sein, wenigstens im Bereich Bewegung/Sport individuell vorzugehen, indem man erst einmal herausfindet, welche Erfolgschancen der einzelne Patient überhaupt hätte, wenn man ihn dazu bringt, Sport zu treiben. Aber sollte man in diesem Bereich feststellen, daß ein Zusammenhang gar nicht erkennbar ist oder die Wirkung viel zu gering, um das Phänomen zu erklären, käme man vielleicht auf die von mir schon wiederholt aufgeworfene Frage, wie man unabhängig vom BMI eine Unterscheidung zwischen Übergewicht und Adipositas treffen könnte. Ich halte es durchaus für möglich, daß Sport bei Übergewicht - verstanden als ernährungsbedingte oder genetisch bedingte Pummeligkeit - positiv wirkt, aber gegen Adipositas - verstanden als eine Stoffwechselstörung mit unter anderem der besonders auffallenden Folge einer Gewichtszunahme (sowie zahlreichen unauffälligeren, aber Lebensdauer und -qualität reduzierenden weiteren Folgen) - nicht viel hilft.

Daneben werfen die Autoren außerdem eine weitere enorm wichtige Frage auf, nämlich die Frage, an welcher anderen Stelle der Körper eigentlich seinen Energieverbrauch bei zusätzlicher Bewegung einschränkt (denn irgendwo müssen die betreffenden Kalorien ja eingespart worden sein) und welche eventuellen negativen gesundheitlichen Auswirkungen das haben könnte, etwa auf das Immunsystem. In meinem Blogartikel zu Pontzers Buch "Burn" habe ich diese Frage ebenfalls schon einmal gestellt, und dabei dachte ich an Leistungssportler und ihre allseits bekannte Anfälligkeit für Infektionskrankheiten. Daß Krebszellen und Mikro-Tumoren im Körper ein geschwächtes Immunsystem so effektiv nutzen können, wie mir das bei Fungs Krebs-Buch klar wurde, war mir da noch nicht bewußt. Aber in diesem Zusammenhang betrachtet wird mir erst so richtig klar, wie bedeutsam es wäre, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Das Immunsystem zu schwächen, um Gewicht zu verlieren, wäre nämlich definitiv nicht gesund. Eine Antwort auf die Frage, ab welchem Punkt beim Sporttreiben das Immunsystem als verzichtbare Reservefunktion betrachtet wird und Teile davon in den Ruhemodus heruntergefahren werden, ist also dringend zu suchen.

"Sport ist Mord" - es könnte sein, daß dieser flapsige Spruch, den ich als ausgewiesener Sportverächter auch gerne mal verwende, in manchen Fällen viel wörtlicher zu nehmen ist, als ich das für möglich gehalten hätte. 

Am Ende des Artikels steht ein Aufruf, den ich im Volltext übersetzen möchte, weil ich ihn so wichtig finde: 

Die ständig wachsende und sich diversifizierende Palette der Gewichtsreduktionspläne und -moden, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, spiegelt die Realität wider, die Forschern wohlbekannt ist, daß die verordneten Sportprogramme zur Gewichtsreduktion selten zu substantiellen oder dauerhaften Veränderungen der Körpermasse führen. Die wenigen nationalen Richtlinien, die veröffentlicht wurden, sind sich einig über die Empfehlung eines Kaloriendefizits von 500 bis 600 Kalorien täglich durch Sport und Ernährung als Mittel zur Gewichtsreduktion. Diese Richtlinien richten sich an die Bevölkerung insgesamt und berücksichtigen nicht die Unterschiedlichkeit der Energiekompensation, die sich bei unterschiedlichen Ausmaßen von Fettmasse zeigen, wie es in vorliegender Studie gezeigt wurde. Die Public-Health-Strategien für Gewichtsreduktion sollten mit unserem wachsenden Verständnis für die Prozesse, wie und in welchem Ausmaß Individuen Energie kompensieren, überarbeitet werden, um diese Energiekompensation mitzuberücksichten. Weitere Forschung über die potentiell schwerwiegenden Unterschiede der Energiekompensation zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ist notwendig. Personalisierte Sportpläne mit dem Ziel einer Gewichtsreduktion könnten künftig an individuelle genetische Voraussetzungen angepaßt entwickelt werden.

Nein, völlig zufrieden bin ich damit natürlich noch nicht. Mir fehlt wenigstens eine Andeutung über einen aufkeimenden Anfangsverdacht, daß man die Sache mit dem Kalorieninput auch noch einmal kritisch unter die Lupe nehmen müsse, da sich in der Sache mit dem Kalorienoutput auf einmal zeigt, daß immer mehr von dem, was man bislang immer für wahr gehalten hat, falsch ist oder eingeschränkt werden muß. Aber es ist ein vielversprechender Schritt in die richtige Richtung, und der fehlende zweite Schritt kann ja noch kommen. 

Was mich besonders beeindruckt hat, ist diese in drängendem Ton gehaltene Aufforderung ganz zum Schluß. So häufig hatte ich beim Lesen von Studien zu diesem Thema schon das Gefühl, daß es die Autoren letztlich überhaupt nicht interessiert, ob und wenn ja welche Wirkung ihre Arbeit im "richtigen Leben" haben wird, daß mir dieser Ton geradezu ins Auge sprang. 

Wollen wir hoffen, daß diese Studie die nötige Resonanz findet. Und wollen wir außerdem hoffen, daß diese Forscher am Thema weiter dranbleiben und Stück für Stück immer mehr Antworten finden, die sich - anders als die bisherigen -, im richtigen Leben angewandt, wirklich als zutreffend bestätigen und damit den ratsuchenden Menschen besser helfen können als das klägliche heutige Arsenal der Adipositasberatung.




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