Freitag, 29. Mai 2020

Nadja Hermann - die Kalorienlogikerin


Mein Gewicht heute früh nach dem ersten von zwei Fastentagen: 99,5 Kilogramm. Morgen werde ich wohl bei um die 98 Kilo liegen, was mich schon ein bißchen enttäuscht, denn ich fiebere ja gerade der symbolträchtigen Zahl 50 entgegen, und das sind halt doch wieder nur 49 Kilo Abnahme. Andererseits besitze ich seit letzter Woche ein Kleid in der Größe 40/42, das mir perfekt paßt und supertoll an mir aussieht, das bestätigt mir in ausreichendem Maße, daß trotzdem nichts Grundsätzliches bei mir falsch läuft und ich mein Herz nicht zu sehr an die Zahl auf der Waage hängen muß. 

Natürlich ist diese Kleidergröße ein Ausreißer nach unten; Kleidergrößen darf man genausowenig wie die Zahl auf der Waage für bare Münze nehmen. Ich habe noch drei weitere Kleider in derselben Größe gekauft (alle, ohne sie vorher anzuprobieren), von denen sind zwei ein bißchen zu knapp und eines deutlich zu klein. Die warten nun im Kleiderschrank darauf, daß meine Körperform sich so weit verändert hat, daß sie an mir so toll aussehen werden wie das erste. Nur bei dem letzten gehe ich davon aus, daß ich noch bis zum nächsten Jahr warten muß, die beiden anderen sollten schon im Hochsommer - für den sie auch gedacht sind - für mich tragbar sein. Mein schrumpfender Oberkörper macht's möglich. 

Ich habe nicht die leiseste Ahnung, an welchen Körperteilen sich das Gewicht, das ich dort verloren habe, jetzt gerade gemütlich zu machen versucht, da die Waage es ja immer noch anzeigt, aber es hat doch gewisse Vorzüge gegenüber der umgekehrten Situation, die ich anfangs erlebt hatte. Die ersten fast dreißig Kilo Abnahme  fanden nämlich nur auf der Waage statt. Das erste Mal, daß ich kleinere Kleidergrößen kaufen konnte, war im Sommer 2018, also 15 Monate nach Beginn meiner Abnahme.

Seitdem habe ich immer mindestens ein Kleidungsstück in Reserve, das mir noch zu klein ist, und bislang hat es bei keinem länger als ein Jahr gedauert, bis ich es anziehen konnte. Ich hatte auch nicht ernsthaft damit gerechnet, das bewußte Kleid jetzt schon tragen zu können, da hatte ich wohl Glück mit dem Schnitt. Trotzdem ist es ein geiles Gefühl: mein erstes Kleid in Größe 40/42 seit meiner Schwangerschaft im Jahre 1987.

Aber eigentlich poste ich heute aus einem ganz anderen Grund. Vor ein paar Tagen geriet ich nämlich in eine Diskussion über eines der populärsten Abnehmbücher überhaupt. Dessen Autorin polarisiert: Die einen sind von ihr begeistert, die anderen hassen sie aus tiefster Seele. Über die Bestsellerautorin Nadja Hermann habe ich mir schon länger meine eigenen Gedanken gemacht, und dazu muß ich zu weit ausholen für eine Forumsdiskussion, also schreibe ich es hier. 

Nadja Hermann gilt als Expertin dafür, wie man abnimmt, denn ihr selbst ist das eindrucksvoll gelungen: von 150 auf 63 Kilogramm, noch dazu in einer rekordverdächtig kurzen Zeit von 15 Monaten. Ergänzend zum erbrachten praktischen Beweis ist sie, was die Theorie betrifft, außerdem Verhaltenstherapeutin „mit ernährungswissenschaftlichem Hintergrund“ und hat einen Doktortitel – wobei sie diesen Doktortitel, wohlgemerkt, nicht in Ernährungswissenschaften hat, was dem betonten „Dr. Nadja Hermann“, mit dem der Ullstein-Verlag auf dem Umschlag auftrumpft (und das bei den Autorenangaben an dieser Stelle eigentlich nicht üblich ist), einen Spin in Richtung „knapp an der Wahrheit vorbei“ verleiht.

Trotzdem: Noch mehr Expertise als bei einem Menschen, hinter dessen Hochschulbildung Intelligenz und Wissen vermuten werden darf, und der einen solchen Erfolg bei der eigenen Abnahme vorweisen kann, sollte man wohl kaum irgendwo finden können. 

Der Rat dieser Expertin läßt sich so zusammenfassen: „Alles hängt beim Abnehmen ausschließlich von den Kalorien ab, und wer etwas anderes behauptet, macht sich nur etwas vor“ – der sitze nämlich einer sogenannten „Fettlogik“ auf. Diese Fettlogik sei es, die ihn am Abnehmen hindere, indem sie ihn davon abhalte, das ihrer Meinung nach offensichtlich Notwendige zu tun. Jeder, der seine Energiezufuhr geringer halte als den Verbrauch, könne nämlich abnehmen und sein Wunschgewicht anschließend auch halten, und zwar, indem er seine Kalorienzufuhr nicht mehr höher als seinen Kalorienverbrauch werden läßt.

Das Buch von Nadja Hermann, „Fettlogik überwinden“, war lange in den Bestsellerlisten. Unzählige begeisterte Rezensionen bei Amazon bestätigen, daß eine Botschaft, die ausdrückt, jeder könne aus eigener Kraft etwas gegen sein Übergewicht tun, vielen zuvor Entmutigten gereicht hat, um wieder daran zu glauben, daß ihnen noch zu helfen ist, und, wahrscheinlich noch wichtiger, daß sie sich selbst helfen können. Über ein Buch mit so motivierender Wirkung würde ich gerne auch nur Positives sagen können, aber die Sache hat leider einen Haken: Nadja Hermann liegt mit ihrer zentralen These falsch, und das auch noch auf eine ganz besonders fiese Art. Daß die Autorin mit einigen der von ihr aufs Korn genommenen „Fettlogiken“ tatsächlich blanken Unsinn oder nur halb Verstandenes aufspießt, manches davon unausrottbare Mythen schon seit anno Köhnlechner oder noch länger, macht die Anwendung der Empfehlungen in diesem Buchs nicht erfolgversprechender. Es liegt nämlich in der Natur der Sache, daß bei einer gewissenhaften Umsetzung ihrer Empfehlungen alles zunächst wie versprochen funktioniert, aber mit Zeitverzögerung – wir reden hier von Zeiträumen zwischen sechs Monaten und ca. zwei Jahren – bei der Mehrheit auch derer, die zunächst erfolgreich abgenommen hatten, das Einsetzen einer Wirkung zu erwarten ist, die als Jojo-Effekt berüchtigt ist. Sie nehmen also wieder zu. 

Genau dies war auch Nadja Hermann, in deren gesamtem Leben der Kampf um ihr Körpergewicht – das kann man ihrem Buch entnehmen – eine Art roter Faden gewesen war, unzählige Male passiert, aber zum Zeitpunkt, als sie ihr Buch geschrieben hatte, war sie sich völlig sicher, daß ihr das nun nie wieder passieren würde, weil sie nun ja die Fettlogiken erkannt und überwunden hatte, die ihr bis dahin den Weg versperrt hatten. Inzwischen ist das allerdings auch schon wieder ein paar Jahre her. Ob ihr Optimismus, was sie persönlich betrifft, berechtigt war oder nicht, darüber kann man leider nur spekulieren, denn auch wenn die Autorin nach einer längeren Online-Pause wieder in den sozialen Medien aktiv ist: Ihr derzeitiges Gewicht ist ein so gut gehütetes Geheimnis, daß niemand sie auch nur danach zu fragen scheint. 

Nun könnte man argumentieren, es sei doch ihre Privatsache, ob sie sich zu diesem Thema äußert oder nicht. Aber ist es das wirklich noch, nachdem man so viel Geld daran verdient hat, ein angeblich für jeden und jederzeit funktionierendes Konzept zu publizieren? Eigentlich hätte jeder, der ihr Buch heute kauft, eine Auskunft darüber verdient, ob ihr das Gewichthalten seit Erscheinen des Buches wirklich gelungen ist, und wenn ja, ob dies tatsächlich so einfach war, wie sie es vermutet hatte. 

Ich komme auf diese Frage später noch einmal zurück. Einstweilen stelle ich nur einmal fest, daß man im Web zwar weiterhin geradezu Horden von überzeugten Jüngern ihrer Herangehensweise findet, darunter allerdings praktisch niemand, der den versprochenen dauerhaften Erfolg tatsächlich vorweisen kann. Nadja Hermanns Jünger der ersten Stunde stecken also längst zum großen Teil in einer neuen „Fettlogik“-Falle, denn nach Meinung der Autorin können sie ja nur selbst daran schuld sein, wenn das Abnehmen bei ihnen mißlungen ist. 

„Fettlogik überwinden“ selbst zu lesen war ich lange Zeit gar nicht interessiert, da die Methode, mit der ich innerhalb von ca. drei Jahren fast fünfzig Kilogramm abgenommen habe und von der ich erwarte, in gemächlicherem Tempo als Nadja Hermann, aber dafür so lange ich will weiter abnehmen und nach Erreichen meines Zielgewichts dieses auch tatsächlich dauerhaft halten zu können, a) im klaren Widerspruch zur Methode der Autorin steht und b) nach wie vor funktioniert und dies hoffentlich auch weiter tun wird. Aber als ich anfing, über ein eigenes Blog nachzudenken, war mir natürlich gleich klar, daß bei diesem Thema früher oder später Nadja-Hermann-Fans auftauchen und mir einen vom Pferd erzählen würden. Also habe ich das Buch am Ende doch gelesen. Man möchte ja auf Augenhöhe kommunizieren können. 

Ich tat noch mehr als nur das, ich habe mir auch von einer Auswahl der darin angegebenen Quellen einen eigenen Eindruck verschafft, wie ich das auch bei anderen mir als wissenschaftliche Beweise verkauften Thesen schon seit mindestens zwanzig Jahren gewohnheitsmäßig mache. Hermanns Umgang mit Quellen erwies sich als, nun ja: selektiv: Was ihr nicht ins Konzept paßte, ignorierte sie, und zwar sogar dann, wenn es in genau denselben Quellen nachgelesen werden kann, von denen sie die Teile zitiert, die ihr besser ins Konzept paßten. Eine ziemlich verbreitete und menschlich bis zu einem gewissen Grad verständliche Fehlleistung - aber außerdem noch harmlos angesichts der Abgründe, die sich in den Quellen selbst zum Teil auftaten, wenn man sie sich mal näher vornahm. 

Ich will diesen Blogbeitrag, der ohnehin ziemlich lang ausfallen wird, nicht zu sehr ausufern zu lassen und auch nicht über jede Kleinigkeit nörgeln, mit der ich in dem Buch nicht einverstanden war. Aber das ist auch gar nicht nötig. Alles Bedeutende, das ich falsch fand, ist wegen desselben zentralen Fehlers der Autorin falsch, den ich hier wörtlich zusammenfassend wiedergebe: „Fazit: Abnehmen funktioniert. Diäten funktionieren. 100 Prozent der Menschen sind in der Lage abzunehmen.“ (S. 151, Kapitel „95 Prozent aller Diäten scheitern!“)

Was daran falsch ist: In der Tat gelingt es mit praktisch jeder Art von Diät einem gar nicht so kleinen Teil der Abnehmenden, ein selbst gewähltes Zielgewicht zu erreichen. Voraussetzung ist, daß sie diszipliniert dranbleiben. Eine Diät definiert sich aber nicht nach ihrem Ergebnis unmittelbar nach Erreichen des Zielgewichts als „erfolgreich“ oder „gescheitert“, sondern nach dem, was auf längere Sicht von diesem Ergebnis noch bzw. nicht mehr übriggeblieben ist. Daß Diäten, auch dann, wenn sie zunächst „funktionieren“, in ihrer überwältigenden Mehrheit in einer längerfristigen Perspektive scheitern, bestätigen aber sogar die Wissenschaftler, die Nadja Hermann in ihrem Buch zu Kronzeugen für das Gegenteil erklärt hat. In einer der von ihr herangezogenen Studien fand ich etwa folgende recht erstaunliche Definition für den Erfolg von Diäten:

„However, research has shown that 20% of overweight individuals are successful at long-term weight loss when defined as losing at least 10% of initial body weight and maintaining the loss for at least 1 y.”

Mit anderen Worten:
  • Eine angewandte Methode wird als „erfolgreich“ definiert, auch wenn bis zu 80 Prozent ihrer Anwender schon im ersten Jahr mit ihr scheitern.
  • Die angewandte Methode gilt als erfolgreich, wenn 20 Prozent ihrer Anwender ein Jahr lang nicht scheitern. Auch dann, falls sie später ebenfalls noch scheitern sollten.
  • Die angewandte Methode gilt als erfolgreich, auch wenn das Zielgewicht, das üblicherweise im Normalgewichtsbereich liegt, nicht erreicht, geschweige denn gehalten wird.
Diese Definition von „Erfolg“ drückt vor allem eines aus: Die typischen Ziele des typischen Abnehmenden werden, und dies für nahezu jeden, von den Autoren dieser Formel für von vornherein völlig unerreichbar gehalten. Somit kann aber auch Nadja Hermanns Fazit „Abnehmen funktioniert“ aus Sicht ihrer vermeintlichen Zeugen nur dann gelten, wenn man beim Abnehmen auf Ziele wie „Ich will den Normalgewichtsbereich erreichen und dauerhaft normalgewichtig bleiben“ verzichtet und sich stattdessen mit den wesentlich bescheideneren Zielen gemäß obiger Definition zufrieden gibt. Aber sogar diese zweifelhafte Art von meist nur vorübergehendem „Erfolg“ ist nach Einschätzung von Nadja Hermanns Kronzeugen nur für einen von fünf Abnehmenden zu erwarten. 

Jede der in dem betreffenden Kapitel von „Fettlogik überwinden“ angeführten Studien krankt an diesem Grundproblem – mit einer einzigen Ausnahme. Aber genau dieser einen Studie, von der Nadja Hermann prompt behauptete, sie spiegle am ehesten die reale Erfolgsquote wider, liegen auch die unbrauchbarsten Daten zugrunde, nämlich solche, die durch eine telefonische Umfrage bei Zufallskandidaten erhoben worden waren. 

Was habe ich gegen eine solche Datengrundlage? Vor allem frage ich mich, warum Hermann nichts gegen sie hatte. Ich darf beispielhaft aus ihrem Buch Seite 34 zitieren: „Wer also nicht weiß, daß Selbstauskünfte in Sachen Ernährung ganz direkt ausgedrückt kompletter Unfug sind, der hört allerlei erstaunliche Forschungsergebnisse zu Ernährung …“ Diese Meinung kommt noch an anderen Stellen vor, und im Prinzip teile ich sie. Aber ausgerechnet bei in Zufalls-Telefoninterviews von wildfremden Callcenter-Agenten ohne Vorwarnung erhobenen und völlig unüberprüfbaren Daten soll man sich nun auf einmal voll und ganz auf die Angaben der Befragten verlassen können? Noch dazu bei so intimen Fragen wie Erfolg oder Mißerfolg von Diäten?

Noch einmal zurück zur ersten Studie. Bei ihr gibt es nämlich, näher betrachtet, ein ganz ähnliches Problem. Es handelt sich bei dieser Studie um eine Auswertung von Daten aus der National Weight Control Registry (NWCR) in den USA. Aus diesem Datenmaterial sind bislang 37 Studien zu den unterschiedlichsten Aspekten der Gewichtsreduktion entstanden. 

In der Datenbank, die Grundlage jener Studien ist, werden seit 1993 Fälle erfolgreicher Gewichtsreduktion gesammelt. Verlangtes Minimum, um als „erfolgreiche Gewichtsreduktion“ zu gelten: 30 pound, also 13,6 kg Gewichtsabnahme und das Halten dieser Abnahme für mindestens ein Jahr. Die erhobenen Daten basieren auf Eigenangaben von durch Werbemaßnahmen rekrutierte Personen (offenbar nicht zwangsläufig US-Bürger: Gehe ich nach dem Registrierungsformular, müßte ich mich dort ebenfalls registrieren lassen können; ausprobiert habe ich es aber nicht). Dabei werden – oder wurden zumindest anfangs – auch so etwas ähnliches wie Nachweise, etwa in Form von Vorher/Nachher-Fotos, erbeten. Wohl kein ernsthaftes Hindernis für Scherzkekse und Wirrköpfe, aber immerhin eine kleine Hürde. Knapp 20 Prozent der Teilnehmer wurden allerdings, und zwar bereits in der Anfangszeit, in die Datenbank aufgenommen, obwohl sie sogar diese Minimal-Hürde gerissen, also keinerlei Nachweis erbracht hatten. So ist dies der allerersten, 1997 erschienenen Studie auf Basis dieser Daten zu entnehmen. 

“Subjects unable to provide documentation did not differ significantly from others with respect to the primary variables under investigation; therefore, they were included in the sample”, wurde dies begründet. Welche Auswirkungen es aber auf die Datenqualität hatte, zeigt sich daran, daß ich in einem runden Dutzend von auf diesem Datenmaterial basierenden Studien immer wieder auf sonderbare Detailangaben gestoßen bin. In einer Studie zum Beispiel war unter den 40 Teilnehmern, die aus der Registry ausgewählt worden waren, mindestens eine Person, deren behauptete Gewichtsabnahme schon 43 Jahre zurücklag. Rechnet man nur diesen einen Teilnehmer aus der Gesamtzahl heraus, sinkt der durchschnittliche Zeitraum seit der Gewichtsabnahme für die 39 anderen um ein volles Jahr im Vergleich zu dem ermittelten Durchschnittswert für alle 40. Diese Durchschnittswerte sind also ungefähr so aussagekräftig, als würde ich bei der Ermittlung der Durchschnittstemperatur meiner Wohnräume auch die Innentemperatur des Gefrierschranks mit einschließen. Merkwürdig fand ich auch, daß nicht einmal begründet wurde, warum solche extremen „Ausreißer“ mit eingeschlossen wurden. Man sollte doch meinen, 40 Kandidaten für diese eine Untersuchungen hätten sich innerhalb einer vierstelligen Gesamtzahl an Registrierten auch dann noch auftreiben lassen, wenn man Gewichtsabnahmen, die schon vor der ersten Mondlandung stattgefunden haben sollen, dabei ausgeklammert hätte. 

Daß bei jedem Follow-up ein beträchtlicher Teil der Teilnehmer einfach nicht mehr reagiert, ist bei Studien über längere Zeiträume ein typisches Problem. Auch im vorliegenden Fall liegt es nicht sonderlich nahe, zu vermuten, dies wären ausgerechnet die erfolgreichsten unter den Registrierten gewesen. Die hohe Zahl der Drop-outs führt deshalb zu Ergebnissen, die höchstwahrscheinlich positiver ausfallen, als sie es bei vollzähliger weiterer Beteiligung der anfänglichen Teilnehmer wären. Das läßt sich nicht vermeiden, es sei denn, man bezieht die mutmaßliche Entwicklung bei den Drop-outs als fiktive Berechnung mit ein, wie ich das auch schon gesehen habe, was aber ebenfalls nicht ganz unproblematisch ist. 

Auch Befragungen, bei denen man sich auf die Richtigkeit der Antworten verläßt, ohne sie zu überprüfen, sind außerhalb dieses speziellen Projekts in der Epidemiologie ziemlich verbreitet. Ob dies sinnvoll ist bzw. wie man dafür Sorge tragen kann, trotzdem mit den erhobenen Daten ein annäherndes Abbild der Realität zu schaffen, sei an dieser Stelle dahingestellt. Was mich in speziell diesem Fall unangenehm berührt hat, ist die Ungeniertheit, mit der das völlige Fehlen irgendwelcher Qualitätsstandards beim Sammeln des Datenmaterials wie eine Selbstverständlichkeit präsentiert wurde, die nicht einmal eine Begründung wert war. Dabei wäre es naheliegend und weder schwierig noch aufwendig gewesen, ein paar Minimal-Standards zu definieren und umzusetzen. Zum Beispiel eine Beschränkung auf Abnehm-Erfolge, die zum Zeitpunkt der Registrierung maximal 3, 4 oder meinetwegen 5 Jahre her waren. Das hätte alleine schon deshalb viel mehr Sinn als das tatsächlich gewählte Vorgehen ergeben, weil aus der weiteren Gewichtsentwicklung nach der Registrierung umso mehr möglicherweise nützliche Erkenntnisse gewonnen werden könnten, je kürzer der Zeitraum zwischen Gewichtsabnahme und Registrierung ist. 

Daß auf den Erkenntnisgewinn der angestrebten Studien klar verbessernde und sehr einfach umzusetzende Einschränkungen verzichtet wurde, weckt in mir einen bösen Verdacht: Dieses gesamte Programm zielte und zielt bis heute wahrscheinlich gar nicht darauf ab, wissenschaftliche Ergebnisse im eigentlichen Sinne, also von in der Lebenswirklichkeit von Patienten nutzbaren Erkenntnissen zu gewinnen. Eher handelt es sich um eine Art Potemkinsches Dorf, in dem wissenschaftliche Arbeit nur vorgetäuscht wird. Warum? Nun, beispielsweise, um die Fördergelder zu kassieren, mit denen vom Staat über Stiftungen bis zur Industrie solche Arbeiten für gewöhnlich finanziert werden. In diesem Fall käme es von vornherein nicht darauf an, ob die Datengrundlage, mit der man arbeitet, gut oder schlecht ist, weil es dann ausreichend ist, wenn die produzierten Studien richtig aussehen, sie also im üblichen Fachjargon geschrieben werden, typische epidemiologische Verfahrensweisen mit den vorhandenen Daten angewandt wurden und eine Menge Fußnoten enthalten. 

Auf diesen Gedanken brachte mich nicht nur die demonstrative Gleichgültigkeit gegenüber der Datenqualität bei diesem Projekt, sondern auch, daß eine gewisse Maureen McGuire zu den Autoren der ersten auf diesen Daten basierenden Studie gehörte. Das ist nämlich die Dame, der wir schon glauben sollten, Telefonumfragen nach dem Zufallsprinzip würden besonders vertrauenswürdige Angaben über Abnehmerfolge liefern, siehe weiter oben. Hinter dem Sammeln und Auswerten von Daten fragwürdiger Aussagekraft scheint also Methode zu stecken. Dasselbe gilt aber auch für das Umdefinieren von Mißerfolgen in Erfolge. Denn die oben zitierte absurde Erfolgsdefinition für eine "erfolgreiche" Gewichtsreduktion wird zwar mittlerweile in der Literatur regelmäßig aufgegriffen, ist also erfolgreich etabliert worden. Es handelt sich aber nicht um eine Formel mit einer ehrwürdigen und langen Geschichte in der einschlägigen Forschung, für die es irgendwann einmal einen plausiblen Grund gab. Sie stammt im Original vielmehr aus der Feder der Leiterin des NWCR-Programms, Rena R. Wing, und ist erst um die 20 Jahre alt. 

Aber tun wir einen Moment lang trotzdem so, als würden wir die Träger der National Weight Control Registry für eine respektable wissenschaftliche Institution und die Angaben der Autoren der daraus erstellten Studien für absolut vertrauenswürdig halten. Denn auch in diesem Fall bieten sie keine Bestätigung für Nadja Hermanns Optimismus: 

„Participants in the registry report having lost an average of 33 kg and have maintained the minimum weight loss (13.6 kg) for an average of 5.7 y. Thirteen percent have maintained this minimum weight loss for more than 10 y. … Thus, by any criterion, these individuals are clearly extremely successful.” (Wing and Phelan, Quelle s. oben.)

Nadja Hermann selbst gälte in dieser Studie als „extrem erfolgreich“, sollte sie im Jahre 2025 ein Gewicht von bis zu 136,4 Kilogramm mit sich herumschleppen, was wir ihr nicht wünschen wollen und was ganz bestimmt nicht ihren Wünschen entspricht, ihr aber die Eintrittskarte in den „Club der extrem erfolgreichen 13 Prozent“ der Teilnehmer in der Registry locker verschaffen würde. Ein „Erfolg“ wie hier geschildert hat also gar nichts mit dem zu tun, was den Lesern von „Fettlogik überwinden“ als angeblich realistische Zielvorstellung vorgegaukelt wird: ein Zielgewicht, das sie einmal erreicht haben, auch in zehn Jahren noch halten zu können, sofern sie sich nur diese zehn Jahre lang richtig verhalten. 

Die Studie beschreibt eindeutig, daß dies für die allermeisten nicht zu erwarten ist:
“Findings from the initial follow-up study (15) indicated that, after 1 y, 35% gained 2.3 kg (5 lbs) or more (7 kg on average), 59% continued to maintain their body weight, and 6% continued to lose weight.”

Schon nach einem einzigen Jahr hatte also bei über einem Drittel der Teilnehmer eine Wiederzunahme eingesetzt, die durchschnittlich 7 Kilogramm ausmachte. Knapp 60 Prozent konnten ihr Gewicht zu diesem Zeitpunkt noch halten oder hatten ihre Zunahme zumindest auf weniger als 2,3 Kilogramm beschränkt – was an sich im Rahmen normaler Gewichtsschwankungen liegt, aber bei einem Teil wohl ebenfalls bereits ein Einsetzen der Wiederzunahme signalisiert. Nur 6 Prozent aller Teilnehmer nahmen zu diesem Zeitpunkt dagegen immer noch ab. 

Diese 6 Prozent sind meiner Meinung nach die interessanteste Gruppe von allen, denn ihre dauerhaften Erfolgsaussichten sind wahrscheinlich die besten. Würde man herausfinden, worin der Unterschied zwischen diesen 6 Prozent und dem Rest besteht, käme man vielleicht der Antwort auf die Frage, wie man wirklich erfolgreich abnimmt, endlich mal ein bißchen näher. Aus irgendwelchen Gründen hat sie aber unter den Wissenschaftlern, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, mit diesem Datenmaterial Zahlenspiele zu machen, niemand für interessant genug gehalten, um sich näher mit ihr zu beschäftigen. 

„95 Prozent aller Diäten scheitern!“ Das ist also gar keine „Fettlogik“, sondern umschreibt die wissenschaftlich belegte Situation ziemlich genau. Jedenfalls dann, wenn man „Scheitern“ so definiert, wie ein Leser von Nadja Hermanns Buch es für seinen eigenen Fall täte: eine Wiederzunahme in bedeutendem Umfang innerhalb weniger Jahre nach der Gewichtsreduktion anstelle des angestrebten dauerhaften Haltens eines einmal erreichten Zielgewichts trotz einer dem zu erwartenden Bedarf angepaßten Ernährung. Natürlich ist es dann ein Trost, wenn man wenigstens immer noch ein niedrigeres Gewicht hat als vor Beginn der Diät, aber es ist nicht das, was man wollte und was Nadja Hermann für erreichbar hält, wenn man es nur ernsthaft und konsequent genug will.

Dafür, daß dies fast jedem passiert, muß es aber irgendwelche Gründe geben. Wenn niemand diese Gründe herauszufinden versucht, weil in der Wissenschaft alle viel zu beschäftigt damit sind, Mißerfolge in Erfolge umzudeuten und sich gegenseitig für diese „Erfolge“ auf die Schulter zu klopfen, werden diese Gründe auch weiterhin bei fast jedem fast immer den größten Teil aller Diäterfolge zunichte machen und die davon Betroffenen zur Verzweiflung treiben. 

Aus Perspektive des selbst Betroffenen ist der sogenannte Jojo-Effekt nicht als Wirkung irgendeiner erkennbaren Ursache erfaßbar, die einzige halbwegs plausible Erklärung kann deshalb nur eigenes Fehlverhalten sein – wie das prompt auch fast immer vermutet wird. Von Außenstehenden sowieso, aber ebenso auch von einem großen Teil der selbst Betroffenen, darunter auch solche, die sich so eisern disziplinieren, daß sie bereit sind, sich wegen des kleinsten Abweichens vom Pfad der Tugend selbst die Schuld an einer Gewichtszunahme zu geben. Wäre der Grund für dieses Phänomen aber tatsächlich in persönlichem Fehlverhalten zu suchen, müßte man schlußfolgern, daß praktisch niemand sich nach einer Diät richtig verhält. Das steht nicht nur im Widerspruch zu vergleichbar schwierigen Willensleistungen – so gibt es etwa mittlerweile in Deutschland mehr Exraucher als Raucher –, sondern führt mich auch zu der anfangs angesprochenen Frage zurück: Ist es dann wenigstens Nadja Hermann selbst gelungen, sich zwischen dem Ende ihrer Gewichtsabnahme im Frühjahr 2015 und heute, fünf Jahre später, „richtig“ genug zu verhalten? Konnte sie ihr Gewicht von 63 Kilogramm wie geplant bis heute halten, wenigstens annähernd? 

Da die Autorin ihr Blog vor ca. zwei Jahren für die Öffentlichkeit unzugänglich gemacht und sich auch sonst nirgends mehr öffentlich zu ihrem Körpergewicht geäußert hat, kann ich über die richtige Antwort auf diese Frage nur spekulieren. Irgendwie glaube ich aber nicht daran, daß ihr das gelungen ist. Daß irgendwas bei Nadja Hermann nicht mehr ganz nach Plan lief, habe ich am Rande nämlich selbst noch mitbekommen, als ich im Herbst 2017, nach meinem ersten halben Jahr Intervallfasten und auf der Suche nach einer Erklärung für meine mir unerklärlich erscheinende 20-Kilo-Abnahme, beim Recherchieren ihr damals noch öffentliches Blog entdeckte. Ich erinnere mich an einen Blogbeitrag, in dem sie schrieb, der Energiebedarf von Frauen müsse in Wirklichkeit niedriger liegen als allgemein angenommen. Ein paar erste hartnäckige Zusatzpfunde wollten sich mit ihrer zuvor so erfolgreichen Methode einfach nicht abschütteln lassen, und dafür suchte sie nach einer Erklärung. So jedenfalls glaube ich mich zu erinnern, aber wann genau dieser Beitrag geschrieben wurde und ob ich wirklich jedes Detail korrekt im Gedächtnis behalten habe, kann ich nicht mehr überprüfen, denn das Blog wurde ja zwischenzeitlich für den öffentlichen Zugang geschlossen. 

Ich habe von damals her noch im Kopf, daß die regelmäßig und intensiv Sport treibende Nadja Hermann einen Kalorienbedarf von ca. 1700 Kalorien als normal für Frauen wie sie selbst schätzte. Das läge nur noch geringfügig über den Lebensmittelrationen von 1550 Kalorien, wie sie für Normalverbraucher in den allerersten Nachkriegsjahren des Zweiten Weltkriegs vorgesehen waren, die als schwer erträgliche Hungerjahre im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft in Erinnerung geblieben sind. Vor Nadja Hermann ist noch nie jemand auf die Idee gekommen, daß eine angemessene Energiezufuhr möglichst nahe an der in diesen Hungerjahren liegen müsse. Deshalb blieb mir dieses Detail im Gedächtnis, obwohl ihr Blog meine eigenen Fragen nicht beantworten konnte, so daß ich mich dort nicht allzu lange aufhielt. 

In der Folgezeit wird es kaum wieder einfacher für Nadja Hermann geworden sein. Man kann sich schließlich denken, wie eng das Verhaltenskorsett geschnürt ist, das sie sich in ihrem Alltag auferlegt hat, wenn schon ein zweiwöchiger Besuch bei der Familie, wie in ihrem Buch beschrieben, trotz ihrer Bemühungen, keinen völligen Kontrollverlust zu erleiden, eine Zunahme von sage und schreibe sieben Kilogramm ausgelöst hat. 

Die Vermutung liegt nahe, daß bei Nadja Hermann auch später jede Abweichung vom erkorenen Pfad der Tugend sofort zu einer unverhältnismäßigen Reaktion ihres Körpers führte. Wenn es aber eine Konstante in jedermanns Leben gibt, dann die, daß man solchen Abweichungen nie so konsequent ausweichen kann, wie man es müßte, um die daraus resultierenden Gewichtszunahmen zu vermeiden. Genau das ist übrigens auch der rote Faden durch alle Erklärungen überzeugter langjähriger Nadja-Hermann-Anhänger für ihre eigenen Mißerfolge: Alles hat prima geklappt, aber dann …
  •  wurde ich schwanger
  •  erlebte ich einen Todesfall in der Familie/eine Trennung oder Scheidung
  •  wechselte ich den Arbeitsplatz
  •  wurde ich krank/brach mir ein Bein und war lange bettlägerig
… und dann erwies sich der eingeübte Lebensstil als nicht umsetzbar oder nicht durchzuhalten, worauf umgehend und mit Macht die Zunahme wieder einsetzte. 

Ich halte die Annahme deshalb für realistisch, daß Nadja Hermann wahrscheinlich schon seit mindestens vier Jahren wieder, wie nach ihrer ersten Radikaldiät 2003, mit wachsender Frustration gegen ihr steigendes Gewicht ankämpfen muß.

Um nicht mißverstanden zu werden: Ich möchte Frau Dr. Hermann weder persönlich angreifen noch mich gar über sie lustig machen. Häme finde ich nicht angebracht bei einem Thema, bei dem wir alle miteinander letztlich im selben morschen Kahn sitzen, von einer mit realitätsfernen Zahlenspielereien beschäftigten Wissenschaft und einer neoliberalem Gedankengut huldigenden Gesundheitspolitik verlassen, und uns irgendwie selbst zu helfen versuchen müssen. Daß wir uns dabei irren und uns vielleicht auch manchmal in etwas verrennen können, ist ja nur menschlich. Nadja Hermanns meinungsstarkes Auftreten, das auf die einen Leser so motivierend wirkte und die anderen so erboste, war meiner Meinung nach vor allem eines: Pfeifen im dunklen Wald. Sie wollte, glaube ich, niemanden dringender von der Richtigkeit ihrer Schlußfolgerungen überzeugen als sich selbst. Kann man es ihr verdenken, daß sie unbedingt glauben wollte, nun endlich hätte sie verstanden, was sie zu tun hatte, und deshalb werde es diesmal auch – im Unterschied zu allen ihren früheren Versuchen – gelingen, ihr Gewicht dauerhaft zu halten? 

Genau mit dieser Botschaft traf ihr Buch so sehr einen gesellschaftlichen Nerv, daß es zum Bestseller wurde. Auch ihre Leser wünschen sich ja nichts dringender, als die Sache mit dem Abnehmen endlich richtig zu verstehen, um mit dieser Hilfe endlich eine von außen gesetzte, aber auch selbst verinnerlichte Norm erfüllen zu können, an der sie bislang immer wieder gescheitert sind. Die unbändige Wut, mit der ein anderer Teil der Leser auf dieses Buch reagiert hat, ist die Kehrseite dieser Euphorie. Beides hat genau dieselbe Wurzel, nämlich die kafkaeske Situation, daß schlank zu sein einerseits zur Bürgerpflicht erklärt wird, aber andererseits niemand den Nichtschlanken verraten kann, wie sie das anstellen sollen, ohne daß dabei das Scheitern praktisch vorprogrammiert ist. Da auch die Wissenschaft, siehe oben, dazu keine überzeugenden Antworten vorzuweisen hat, werden die Betroffenen mit einer unlösbaren Aufgabe alleine gelassen und müssen sich darüber hinaus regelmäßig beschuldigen lassen, zu faul, zu verfressen und zu undiszipliniert, also: selbst schuld daran zu sein, daß ihnen die Aufgabe unlösbar erscheint. 

Der Unterschied zwischen den Euphorischen und den Erbosten besteht darin, daß die Euphorischen solche Beschuldigungen als berechtigt akzeptiert haben, weil es sich im richtigen Leben nun einmal für praktisch jeden als nahezu unmöglich erweist, immer so heilig zu sein, wie man es der Theorie nach sein müßte. Nur weil sie an ihr eigenes Fehlverhalten glauben, können sie überhaupt daran glauben, mit Hilfe dieses Buchs endlich den Schlüssel zur Lösung ihres Problems gefunden zu haben. Die Erbosten halten die Vorwürfe hingegen für unwahr und begründen das meist mit ihren eigenen Erfahrungen. Nur deshalb sind sie sich von vornherein sicher, daß die Anweisungen, an die sie sich halten sollen, den versprochenen Erfolg nicht bringen werden. Wen würde es denn nicht wütend machen, wenn etwas offensichtlich Sinnloses von ihm verlangt wird? Und wessen Ärger würde sich nicht noch vervielfachen, wenn man sie nebenbei noch der Lüge oder, nur geringfügig weniger beleidigend, des Selbstbetrugs bezichtigt? 

Genau das macht auch den „Bootcamp“-Ton, den die Autorin teilweise anschlägt und den die Hoffnungsvollen als aufrüttelnd und ermutigend empfinden, für die Hoffnungslosen so unerträglich. 

Gehe ich nach den oben zitierten wissenschaftlichen Belegen, liegen die Erbosten in der Sache richtig und die Euphorischen werden  trotz Nadja Hermanns Anweisungen voraussichtlich nur ein weiteres Mal Schiffbruch beim Abnehmen erleiden. Das Web wimmelt zwar immer noch von Nadja-Hermann-Enthusiasten, aber das sind alles Begeisterte nach zwei Wochen bis maximal nach zwei Jahren. Langzeitschilderungen finden sich kaum, aber von den wenigen, auf die ich stieß, hat nicht ein einziger sein Gewicht halten können. Keiner von ihnen gibt aber dem Konzept die Schuld daran, sondern immer nur sich selbst, der eigenen Schwachheit, weil man halt immer noch zu viel „sündigt“ und zu wenig „Buße tut“. Diese Art von „Fettlogik“ ist so lange unüberwindlich, wie man Nadja Hermanns Buch und der darin empfohlenen Herangehensweise als Wegweiser zum erfolgreichen Abnehmen vertraut.

Mittwoch, 20. Mai 2020

Zahlen als Zauberformeln: Warum Wissenschaft unwissenschaftlich sein kann (und oft genug auch ist)

Mein Gewicht heute morgen zu Beginn des zweiten Fastentags dieser Zweier-Serie: 99,9 Kilogramm. Minus knapp über zwei Kilogramm im Vergleich zu gestern, das ist okay. Morgen werde ich wohl wieder knapp über der 98 herumkrebsen. Das macht aber nichts, denn ich habe schon am Samstag endlich diese gläserne Decke durchbrochen und bin mit 97,3 Kilogramm endlich unter 98 gelandet. Irgendwie sind meine Wochenenden in letzter Zeit so voll mit anderen Aufgaben, daß ich es nicht geschafft habe, aus diesem Anlaß sofort einen Blogartikel zu schreiben.

Und eigentlich habe ich heute auch keine Zeit dafür, aber irgendwie stoße ich schon den ganzen Tag immer wieder mit der Nase darauf, daß Zahlen, von denen man ja eigentlich meinen sollte, sie seien klar, eindeutig und verläßlich, von vielen Menschen auf eine - finde ich - ganz merkwürdige Art verstanden werden, und ich muß mal versuchen, in Worte zu fassen, was ich daran so irritierend finde. Auch wenn das nun ein weiterer Corona-Post wird. Grundsätzlich sehe ich dasselbe Problem auch in anderen Bereichen. Auch die Zahl auf der Waage ist ja ein abstrakter Wert, der ideologisch genug aufgeladen ist, um auch mich emotionale Höhenflüge und depressive Anwandlungen erleben zu lassen. Und das, obwohl ich zu der Minderheit derer gehöre, die im Prinzip ganz genau wissen, daß das ein Riesenquatsch ist. 

In meiner Abnehmhistorie waren es immer die "runden" Zahlen, die emotionale Bedeutung hatten. Zehn Kilo Abnahme, zwanzig, dreißig ... und daß ich jetzt kurz vor der fünfzig stehe, natürlich auch. Mir ist es wichtig genug, diesen Wert möglichst rasch zu erreichen, daß ich nächste Woche eine weitere Zwei-mal-zwei-Woche geplant habe. Ebenso verdrießt es mich in letzter Zeit, seit ich regelmäßig von der Waage ein Gewicht unter 100 Kilogramm angezeigt bekomme, wenn ich wieder über 100 bin, und es ist für mich jetzt auch zum dringenden Teilziel aufgerückt, das möglichst rasch nicht mehr zu erleben. Dabei ist es eigentlich totaler Blödsinn, sich so auf einen abstrakten Wert zu fixieren, den mir die Waage anzeigt und dessen alltägliche Schwankungen ja nicht nur von Zu- und Abnahme des Speicherfetts künden können, sondern auch von Wassereinlagerungen oder vom Füllungsgrad von Magen und Darm. Daneben kann parallel zum abgebauten Fett auch Muskelmasse aufgebaut worden sein.

Fitnessfanatiker werden es nicht glauben, daß Muskelmasse auch ohne Sport aufgebaut werden kann, aber da beim Fasten mehr Wachstumshormone ausgeschüttet werden (und gerade bei mehrtägigen Fastenintervallen noch stärker), ist das durchaus nicht ausgeschlossen. Körperliche Veränderungen wie mein über Winter um sechs Zentimeter geschrumpfter Brustumfang trotz ausbleibender Gewichtsabnahme zeigen ja deutlich, daß eine Veränderung stattgefunden haben muß.

Eigentlich ist meine Kleidung ein viel präziserer Indikator dafür, ob das Fasten die gewünschte Wirkung hatte oder nicht. Wenn die Hose plötzlich schwerer zugehen würde, wäre das (sofern ich mich nicht gerade bis zum Platzen vollgegessen habe und es einfach am vollen Bauch liegt) ein schlechtes Zeichen, daß ich meine im Januar noch deutlich zu knappe und beim Anziehen unmöglich an mir aussehende rote Kunstlederjacke jetzt trage und mich in ihr wohlfühle und mein Spiegelbild dann auch erfreulich finde, ist ein gutes Zeichen.

Auch Corona hat bei mir den Eindruck hervorgerufen, daß Zahlen - auch wenn sie nicht lügen - von Fachleuten wie Laien häufig nicht richtig verstanden werden, und meiner Meinung nach hat das etwas damit zu tun, daß alle zu glauben scheinen, wenn man nur die echte, akkurate absolut bis auf die letzte Nachkommastelle zutreffende Zahl herausgefunden hätte, dann könnte man gleichzeitig auch die Lösung für das zu lösende Problem finden. Immer mehr komme ich - auch in anderen Bereichen - aber zu der Auffassung, daß diese Detailfixiertheit eher ein Hindernis bei der Gewinnung von Erkenntnissen ist. Diese Erkenntnisse sollen ja dafür gut sein, nicht in einer abstrakten Berechnung, sondern in einer mit unzähligen und größtenteils von vornherein auf keine Weise zu klärenden Variablen versehenen Realität bestimmte erhoffte Wirkungen erreichen. Was als Grundlage für jede denkbare praktische Anwendung benötigt wird, ist eigentlich nur die Gewißheit, daß die grobe Richtung stimmt, und dies ist in Wirklichkeit alles, was sich durch epidemiologische Erkenntnisse bestimmten lassen kann, und auch das nur, wenn bei der Forschungsarbeit auch wirklich die richtigen Fragen gestellt wurden (ist das nicht der Fall, mögen die Antworten zwar korrekt sein, aber sie sind nicht relevant).

Alles Weitere wäre dann nicht mehr Sache einer Wissenschaft wie der Epidemiologie, bei der es per se immer um Durchschnittswerte aus vielen Fällen geht, sondern das müßte dann auf Basis der jeweils einzelnen Person herausgefunden werden.

Bei Corona gibt es in keinem Bereich eine exakt ermittelbare Zahl. Die Zahl der Infizierten versteht sich zusätzlich einer Dunkelziffer, die per se nicht exakt bestimmbar ist, und die auch in jedem Land und möglicherweise sogar in jeder Region, Stadt oder jedem Dorf wahrscheinlich besonders stark davon abhängt, wieviele Tests durchgeführt wurden, und das ist ganz unterschiedlich.

Die Zahl der Todesfälle enthält möglicherweise nicht nur "Todesfälle durch Corona", sondern auch Todesfälle von Infizierten, die aber an etwas anderem gestorben sind. Umgekehrt ist aber auch mit Todesfällen zu rechnen, bei denen die Coronainfektion gar nicht erkannt wurde, und die Statistiken der Todesfälle (aus allen Todesursachen) zeigt in praktisch jedem Land der Welt, daß während der Corona-Epidemie eine deutlich höhere Übersterblichkeit (also: mehr Todesfälle, als in den Vorjahreswochen oder -monaten durchschnittlich verzeichnet wurden), als sich alleine durch die Zahl der Coronatoten ergeben würde. Vorhin las ich, daß sich aus der Todesfallstatistik in Schweden für den Monat April eine Differenz von immerhin 1000 zusätzlichen Todesfällen ergibt. Aber das ist kein spezifisch schwedisches Problem, es ist überall so.

Die Fixiertheit auf bestimmte als exakt verstandene Einzelwerte, etwa auch den berüchtigten "R-Wert" ergibt alleine deshalb schon keinen richtigen Sinn. Der R-Wert ist, wie auch das RKI klar sagt, eine Schätzung. Es spielt deshalb in Wirklichkeit gar keine Rolle, ob er heute bei 0,99 und morgen bei 1,03 liegt, worüber in den Medien manchmal überflüssigerweise ganz aufgeregt seitenlang berichtet wurde.

Der R-Wert bekommt seine Bedeutung nicht als exakte Zahl mit zwei Nachkommastellen, sondern in Zusammenhang mit zwei anderen Werten:

1) der Zahl der aktuell (bekannten) Infizierten. Je höher diese Zahl, desto gefährlicher ein R-Wert über 1. (Und je weniger getestet wird, desto bedenklicher eventuell die unbekannte Zahl der tatsächlich Infizierten)
2) dem Zeitverlauf der letzten Tage (mindestens drei oder vier).

Was man daran erkennt, sind nur die Tendenzen, ob die Richtung, in die sich die Sache bewegt, gut oder schlecht ist. Und auch dann darf man seinen gesunden Menschenverstand nicht einfach abschalten und nur auf die Zahlen starren.

Je länger und je deutlicher der R-Wert über 1 liegt, desto eher besteht ein Grund zur Sorge. Schwankt der R-Wert über längere Zeit hinweg um den Wert 1 herum, ist das kein Grund zum Jubeln, aber auch kein Grund, sich große Sorgen zu machen: Die Zahl der momentan Infizierten bleibt ungefähr gleich, weil immer ungefähr genauso viele Neuinfektionen dazukommen, wie von der Krankheit genesen oder gestorben sind. Liegt der R-Wert längere Zeit deutlich unter 1, bedeutet das, daß die Zahl der Genesenen und Verstorbenen höher liegt als die Zahl der Neuinfektionen. Die Zahl der aktuell Infizierten geht also zurück. Je weniger Infizierte, desto weniger schwere Erkrankungen und desto weniger Todesfälle sind zu erwarten.

Aber je niedriger die Zahl der Infizierten, desto stärker können die Ausschläge von Tag zu Tag sein, und umso wichtiger wird es, die Gründe für einen Ausreißer nach oben zu kennen, anstatt sich nur über die nackte Zahl zu entsetzen. Ist die Anzahl der Neuinfektionen über das ganze Land verteilt, oder gab es einen bestimmten Ausbruchspunkt, wo sich viele Menschen auf einmal angesteckt haben, wie zum Beispiel die jüngst schwerpunktmäßig getesteten Mitarbeiter von Schlachthäusern? Und wie weit hat sich das Virus über diesen Ausbruchspunkt anderswohin verbreiten können? Ich habe das in den letzten Tagen nicht verfolgt, aber angesichts der immer noch bestehenden Beschränkungen könnte ich mir vorstellen, daß speziell diese Infektionen - die einen großen Teil der Neuinfektionen ausmachen - eine so geringe Verbreitungswirkung über den betroffenen Betrieb hinaus haben, daß der R-Wert, in dem sie mit einbezogen wurden, in Wirklichkeit ein gutes Stück niedriger ausfallen könnte, wenn er das Ansteckungsrisiko für die Allgemeinheit möglichst genau abbilden sollte.

Nur, Zahlen umfassen nun einmal nie die ganze Realität, und umgekehrt halte ich es für sinnlos, die komplette Wahrheit in Zahlen hineinquetschen zu wollen, denn sie paßt da beim besten Willen nicht rein.

Zahlen fand ich schon immer faszinierend. Ich lese gerne Statistiken und finde sie manchmal spannender als jeden Krimi. Sie erzählen mir ganze Geschichten. Aber dafür muß ich sie in die Realität zurückübersetzen, ich muß sehen, was in der Realität wirklich ist, und die Zahlen dazu in einen Zusammenhang bringen. Das wiederum bedeutet, daß die nachkommastellengenaue Zahl zu etwas plötzlich merkwürdig Vagem, Verschwommenem werden kann, etwas, das von verschiedenen Blickwinkeln her betrachtet ganz unterschiedlich aussehen kann. Das macht für mich einen Teil des Reizes von Zahlen aus. Ich finde es furchtbar irritierend, daß Anhänger und Gegner der Coronabekämpfungsmaßnahmen, darunter nicht nur Laien, sondern auch Fachleute, oft auf genau die gleiche Weise falsch argumentieren, indem sie Zahlen kurzerhand wie Zauberformeln verwenden. Wir leben nun einmal in keiner mathematischen Formel, und ich bin auch keine Nachkommastelle in einer Statistik.

Das ist, wie gesagt, kein spezielles Corona-Problem, und es beschränkt sich auch nicht auf medizinische Fragen, aber ich empfinde es im medizinischen Bereich als besonders störend, weil ich es nicht ausstehen kann, wie eine Nummer behandelt zu werden. Wahrscheinlich war das einer der Gründe dafür, daß ich so lange keine Waage besessen habe. Aber jetzt, wo ich sie habe, beeinflussen mich die Zahlen, die ich von ihr erfahre. Und ich bin bekennender Groschenromanleser: Die Geschichte, die mir diese Zahl erzählt, gefällt mir immer viel besser, wenn sie ein Happy End hat.









Montag, 11. Mai 2020

Stabil unter 100 aus dem Shutdown?

Mein Gewicht heute morgen zum Start meines dritten zweitägigen Fastenintervalls: 101,5 Kilogramm, das ist ein akzeptabler Wert, obwohl ich ein bißchen frustriert darüber bin, daß es ein volles Kilogramm mehr ist als gestern abend vor dem Abendessen. Bei eintägigen Fastenintervallen  kann ich normalerweise an Eßtagen damit rechnen, daß ich am nächsten Morgen ungefähr dasselbe Gewicht habe wie abends vor dem Abendessen, aber zweitägige Fastenintervalle wirken halt doch in mancher Hinsicht anders.

Die positive Seite besteht darin, daß ich, falls ich heute, wie ich gestern noch hoffte, mit weniger als 101 Kilogramm gestartet wäre, höchstwahrscheinlich von vornherein mit einer niedrigeren Abnahme hätte rechnen müssen. Ich kann es nur immer wieder wiederholen: Diese hohen Gewichtsschwankungen, egal ob nach oben oder nach unten, haben fast immer in erster Linie mit dem Wasserhaushalt des Körpers zu tun, ein zweiter beeinflussender Faktor kann der Füllungsgrad von Magen und Darm sein. (Wenn es eine "echte" Zunahme ist, wie zu Ostern, fühlt sich das tatsächlich auch anders an.) Mein Wasserpegel ist also über Nacht noch einmal angestiegen, damit wird er heute durch das Fasten auch stärker fallen können.

Ich merke aber auch in dem zweiten Bereich, daß ich in den letzten zwei Wochen mehr Fastentage als sonst hatte (sieben statt fünf von vierzehn Tagen), weil mein Stuhlgang unregelmäßiger geworden ist. Nach zwei- oder dreitägigen Fastenintervallen kann es auch passieren, daß ich - manchmal kurz nach meiner ersten Mahlzeit, manchmal sogar vorher, fragen Sie mich aber nicht, wo das dann noch herkommt - den "flotten Otto" bekomme. Aber diesmal ist das nicht passiert. Statt dessen hat es eben drei Tage gedauert, bis die Endprodukte meiner Verdauung sich dazu durchringen konnte, sich von mir zu verabschieden.

Diese und nächste Woche habe ich zusammengerechnet weniger Fastentage als in den letzten zwei Wochen, nämlich sechs von vierzehn, aber immer noch einen mehr, als ich es sonst gewohnt bin. Natürlich frage ich mich mittlerweile, ob es vielleicht erforderlich werden könnte, dauerhaft von fünf auf sechs Tage in vierzehn Tagen zu gehen, da sich meine Abnahme verlangsamt hat. Die nächste Frage wäre, ob ich dann gleichmäßig jede Woche drei Fastentage einlegen oder dabei bleiben sollte, in den Spätschichtwochen meines Mannes zweimal zwei Tage zu fasten. Zweitägige Fastenintervalle haben ein paar echte Vorteile, die ebenso für letzteres sprechen würden, wie auch, daß es mir widerstrebt, in seinen Frühschichtwochen etwas zu verändern.

Aber das muß ich jetzt noch nicht entscheiden, denn ich bin mir nicht sicher, wie groß der Einfluß der Corona-Beschränkungen darauf gewesen ist. Auch wenn sich in meinem Alltag wenig verändert hatte, es läßt sich nicht abstreiten, daß ich bewußt so wenig wie möglich nach draußen gegangen bin. Vielleicht ist es also gar nicht erforderlich, sobald mein Alltag, was Alltagsbewegung betrifft, wieder dem von vor Corona entspricht. 

Wie auch immer, es kann sein, daß ich mindestens in der Woche vor Pfingsten noch einmal zwei zweitägige Fastenintervalle einschiebe, bevor ich diese Entscheidung treffe; das mache ich davon abhängig, mit welchem Gewicht ich in die betreffende Woche starte. Daß meine Abnahme sich verlangsamt hat und es deshalb länger dauern wird, bis ich bei meinem Zielgewicht ankommen werde, damit kann ich mich grundsätzlich abfinden, aber dreistellige Zahlen auf der Waage mag ich langsam wirklich nicht mehr sehen, und ich bin bereit, vorübergehend eine zusätzliche Schippe draufzulegen, um sie endlich hinter mir lassen zu können, falls das nötig sein sollte, um stabil unter 100 aus dem Shutdown zu kommen und anschließend natürlich auch für immer darunter zu bleiben.

Alles in allem kann ich mich aber nicht beschweren. Für Italien wurde heute gemeldet, daß die gesamte italienische Bevölkerung durch die - dort noch viel strengere - Ausgangssperre im Durchschnitt innerhalb von acht Wochen zwei Kilogramm zugenommen habe, und eine Umfrage ergab, daß 47 Prozent den Kampf gegen diese zusätzlichen Kilos zur obersten Priorität erklärt haben. Jetzt bin ich zwar, wie häufig, ein bißchen skeptisch, wenn solche Zahlen durch die Medien geistern, und auch mit den Durchschnittswerten ist es ja immer so eine Sache, sie setzen sich zusammen aus den Werten derer, für die sich nichts verändert hat, und Leuten, die deutlich mehr als zwei Kilo zugenommen haben. Aber wenn fast die Hälfte der Italiener eine Lockdown-Gewichtszunahme wieder runterkriegen will, kommt mir dieser Wert nicht völlig unplausibel vor.

Das eine Kilo, das ich zu Ostern mehr hatte, habe ich glücklicherweise ja schon wieder runter. Bei mir geht es jetzt nicht mehr um das Abarbeiten einer Zunahme, ich strebe wieder zu neuen Tiefstwerten.

Samstag, 9. Mai 2020

Frühlingsgefühle

Mein Gewicht heute morgen: 98 Kilogramm ... neuer Tiefststand. 😊 Das wurde langsam aber auch Zeit. Die 98,1 habe ich schon seit zwei Monaten vergeblich zu unterschreiten versucht, und auch wenn mir klar war, daß das ein bißchen dauern würde (weil dieser Wert im Februar fast ein ganzes Kilogramm unter meinem vorherigen Tiefstwert lag und ich deshalb vermutete, daß er durch irgendwelche Faktoren überzeichnet war), fand ich es doch ein bißchen zermürbend, daß es über so lange Zeit gar nicht runter und zu Ostern sogar - jahreszeituntypisch - ein wenig nach oben ging.

Nächste Woche hoffe ich, mit Hilfe von zwei weiteren zweitägigen Fastenintervallen endlich einen Wert deutlich unter 98 zu erreichen, und bin diesmal ganz optimistisch, daß das auch klappen wird.

In der anschließenden Woche, in der mein Mann Frühschicht hat, mache ich mit einem zweitägigen Fastenintervallen an Dienstag/Mittwoch weiter. Das hat sich so ergeben, weil am Montag die Gastronomie wieder öffnet und ich deshalb gleich einen Tisch reserviert habe, um das zu feiern. Und am Donnerstag derselben Woche ist ja schon wieder Feiertag, Christi Himmelfahrt, also bot es sich so an. Der nächste Feiertag zu Pfingsten nach dem Wochenende darauf paßt mir in mein normales Fastenschema. Ob ich in der Woche davor noch einmal vier Tage fasten werde oder meinen normalen dreitägigen Rhythmus wiederaufnehme, habe ich noch nicht entschieden. Das hängt vermutlich davon ab, wie stark mein Gewicht zwischen Himmelfahrt am Donnerstag und dem darauffolgenden Montag nach oben geht.

Zweitägige Fastenintervalle haben eine Reihe von Vorteilen, aber der regelmäßig besonders steile Gewichtsanstieg danach ist schon ein gefühlter Nachteil, auch wenn es bloß der Wasserhaushalt ist, der seinen besonders tiefen Pegel schnell wieder regenerieren will. Es schlägt einem halt doch ein bißchen aufs Gemüt, wenn man manchmal zwei Kilo an einem Tag zugenommen hat. Auffallend war diese Woche zum Beispiel, daß ich am Donnerstag, dem ersten Tag des zweiten Fastenintervalls, abends trotz des Fastens mehr gewogen habe als morgens. Da war irgendwas in mir wohl immer noch "an den Pumpen". Am nächsten Morgen wog ich dann ziemlich genau zwei Kilogramm weniger als am Abend davor.

Letzte Woche am Mittwoch, meinem einzigen Eßtag, habe ich zum ersten mal seit Monaten wieder einmal eine Magnesiumsprudeltablette benötigt. Ich war schon zu Bett gegangen, als ich in meinem linken Bein einen Krampf heraufziehen spürte. Erst bin ich aufgestanden und ein paar Schritte herumgelaufen, aber weil es dadurch nicht besser wurde, nahm ich doch noch eine Tablette. Ich hatte das Glas noch nicht ausgetrunken, als ich die Wirkung schon spürte. Das finde ich immer wieder eindrucksvoll, und ich frage mich, wie das wohl genau abläuft und warum das nur Sekunden dauert.

Heute haben wir zum ersten Mal in diesem Jahr wieder auf dem Balkon gefrühstückt, und obwohl wir dort immer ein bißchen zu wenig Platz auf dem Tisch haben und es deshalb ein bißchen ein Durcheinander gab, habe ich es sehr genossen. Den Tisch habe ich vor zwanzig Jahren vom Vorbesitzer der Wohnung übernommen, es handelt sich um einen fest installierten selbstgebauten hölzernen Klapptisch, der nur ein winziges bißchen unpraktisch (man kann ihn nicht verschieben) und ansonsten ganz toll ist, weshalb ich mich auch nie dazu überwinden konnte, ihn einer hundertprozentig praktischen Lösung zu opfern.

Es ist jetzt fast zwanzig Jahre her, daß ich diese Wohnung gekauft habe, und die Entscheidung fiel damals, als ich auf dem Balkon war. Das war ebenfalls im Mai. So viel Grün, dachte ich, und nichts davon muß ich selbst pflegen, denn ausgerechnet zu unserem Haus gehört keiner der Gärten, die mir diesen bezaubernden Ausblick bieten. Ich hatte mich vom Fleck weg in den Blick von meinem Balkon verliebt. Um diese Jahreszeit ist es auf dem Balkon besonders schön. Wir haben beim Frühstück die in voller Blüte stehende riesige Kastanie im Hof des Nebengebäudes bewundert und uns gefragt, wo die nur ihre Wurzeln verstaut hat. Mein Mann meinte, vielleicht hängen die Leute im Nachbarhaus ja im Keller ihre Wäsche an ihnen auf, denn Kastanien seien seines Wissens Flachwurzler, gehen also nicht gar so weit in die Tiefe mit ihren Wurzeln. Eine viel kleinere Kastanie in der Nähe ist seit dem letzten Jahr unheimlich gewachsen, und wir rätselten, wie lange sie wohl brauchen wird, bis sie ihrem großen Kollegen Konkurrenz machen wird.

Die Mauersegler, die seit ca. einer Woche wieder zurück sind, machten ihre Kunstflüge, und mein Mann behauptet, er habe einen Vogel in einem Baum hinter meinem Rücken gesehen, der seiner Beschreibung nach ein Stieglitz sein müßte. Das freute mich. Stieglitze habe ich vor dem letzten Jahr nie bei uns ums Haus herum gesehen, aber offenbar haben wir da einen neuen Dauerbewohner bekommen. Ansonsten haben wir an Vögeln das übliche großstadtkompatible Reservoir: Amseln, Meisen, Spatzen, Rotkehlchen, ein zänkisches Elsternpaar, das sich aber traditionell immer erst ab dem Spätsommer regelmäßig bei uns herumtreibt, Krähen und natürlich Unmengen von Tauben. Manchmal sehen - und noch öfter hören - wir auch Mäusebussarde, und ganz sporadisch verirrt sich auch ein Exemplar unserer verwilderten Papageien zu uns in den Hof. Das Exotischste, das ich jemals bei uns gesehen habe, war aber ein Mittelspecht. Erst konnte ich das gar nicht glauben, weil die so selten sind, aber irgendwann erfuhr ich, daß wir tatsächlich im nächstgelegenen Wald (ein bis zwei Kilometer entfernt) eine Mittelspechtpopulation haben. Was komischerweise fehlt, sind Buchfinken, obwohl nur hundert, zweihundert Meter weiter ständig welche zu hören sind.

Ich habe gleich bei der Balkontür ein altes Opernglas, das ich mal auf dem Flohmarkt gekauft habe und gerne nutze, um mir näher anzuschauen, was bei uns hinter dem Haus so alles herumfliegt.

In der anderen Richtung, auf der Straßenseite, wohnt seit vielen Jahren ein Rotschwänzchenpaar, das in irgendeiner Nische an der Fassade des Gebäudes gegenüber nistet. Früher fielen die mir gar nicht so auf, weil dort immer alles voller Tauben war. Seit die Nachbarn die Geduld mit den Tauben verloren und umfangreiche Taubenabwehrmaßnahmen installiert haben, sind die Rotschwänzchen - die sich von diesen Maßnahmen gar nicht beeindrucken ließen - die einzigen gefiederten Hausherren neben den Mauerseglern, die in unserem Gründerzeitviertel an den Fassaden viele Möglichkeiten zum Nisten haben. Bei uns am Haus nisteten letztes Jahr auch welche.

Ach ja, Fledermäuse haben wir natürlich auch, manchmal sehe ich sie in der Abenddämmerung, ihr flatternder Flug ist kaum zu verwechseln. Letzten Sommer hat sich abends mal eine zu uns ins Schlafzimmer verirrt, umkreiste ein paarmal die Deckenlampe und schoß dann wieder aus dem Fenster. Und Eichhörnchen. Die sehe ich öfters, wenn ich das Treppenhaus runtergehe. Wenn ich diese Aufzählung so durchlese, kommt es mir ganz unglaublich vor, daß ich mitten in der Stadt wohne. Hier tobt echt Brehms Tierleben in seiner ganzen Pracht, auch wenn der Bär bislang noch nicht steppt. Worauf ich nämlich noch warte, ist, daß die Waschbären sich bis zu uns in die Innenstadt vorwagen. Am Stadtrand sind sie bereits gesichtet worden.

Beim Einkaufen habe ich heute zum ersten Mal seit mindestens zwei Monaten im Kühlregal Frischhefe gesehen, was ich ganz beruhigend fand, obwohl ich sie nicht brauchte. Trockenhefe war aber immer noch aus. Der Reflex, beim Einkaufen nach Hefe auszuschauen, ist bei mir immer noch intakt. Dinkelmehl fand ich zu meinem Entzücken vor und habe mir gleich ein Päckchen mitgenommen. Die Weizenmehlverknappung scheint ja - ebenso wie die vom Klopapier - schon seit einem Weilchen wieder vorbei zu sein, aber Dinkelmehl gab es lange Zeit gar nicht, und hätte ich nicht vor ein paar Wochen, kurz bevor der Mehl-Notstand auf einmal alle Sorten umfaßte, Schneekoppe-Dinkelvollkornmehl gekauft, weil es das einzige war, das noch angeboten wurde, wäre es bei mir inzwischen längst aus.

Normalerweise kaufe ich aus Prinzip kein Vollkornmehl (ich bin schließlich Ernährungssünderin und habe einen Ruf zu verlieren!), aber die Briegel, die ich heute früh damit gebacken habe, schmeckten nicht schlechter als sonst, sie waren nur optisch ein bißchen anders. Und für den Nachtisch habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben an einer Biskuitrolle versucht. Die gelang mir ganz gut, nur bei der Füllung hatte der Rezeptersteller mit den angegebenen Mengen ein bißchen übertrieben, weshalb ich ein bißchen Mühe hatte, sie komplett unterzubringen. Aber das weiß ich jetzt ja fürs nächste Mal und dosiere entsprechend anders.

Nächste Male wird es sicherlich ein paar geben, denn der Biskuitboden ist wirklich sehr einfach zu machen, geht schnell (ein großer Vorteil, wenn ich samstags auch noch Brot oder Brötchen backen will) und die Füllung kann man ja gut variieren. Diesmal habe ich mich für Ananas-Sahne entschieden, hauptsächlich deshalb, weil ich schon seit einer Weile eine Gelegenheit gesucht hatte, eine Dose Ananas zu verwenden, die ich schon viel länger stehen habe, als ich das eigentlich vorgehabt hatte. So was esse ich ab und zu in einer Art Ananas-Anfall, vor allem, wenn mein Mann Spätschicht hat und ich Zeiten und Art der Mahlzeiten spontan entscheiden kann. Aber ich habe einen so großen Teil meiner Fastentage in diese Spätschichten verlegt, daß es mir irgendwie an Gelegenheiten fehlte, um spontan mal eine Dose Ananas zu schlachten.

Die Biskuitrolle geisterte gestern ab dem Nachmittag durch meine fastenbefeuerte kulinarische Phantasie, im Wechsel mit Lasagne. Ich habe mir nämlich letzte Woche einige Töpfe mit Kräutern auf die Fensterbank in der Küche gestellt, und die will ich dabei endlich einmal zur Anwendung bringen. Aber die Lasagne gibt es erst morgen; heute habe ich erst einmal wieder Essen aus meinem Lieblingslokal geholt. Wahrscheinlich zum letzten Mal vor der großen Wiedereröffnung am 18. Mai (für die ich schon einen Tisch reserviert habe), denn allzu viele Gelegenheiten werde ich nicht mehr haben, da ich ja nächste Woche vier Fastentage habe. Allenfalls nächstes Wochenende wäre noch denkbar, aber da gehe ich vielleicht stattdessen ausnahmsweise mal zu unserem Lieblingschinesen. Der hatte lange Zeit ganz geschlossen, aber letzten Mittwoch sah ich, daß dort jetzt auch Essen to go angeboten wird. Die freuen sich bestimmt auch, wenn ich zu ihnen komme.

So, das war jetzt nach langer Zeit mal wieder ein weitgehend coronafreier Blogpost. Aber keine Sorge, das Thema Corona wird uns noch lange genug beschäftigen, um mich immer mal wieder zu einem Beitrag zu inspirieren. 😏



Donnerstag, 7. Mai 2020

Neue Normalitäten, ethische Grundsätze und kritisches Hinterfragen der Kritiker

Mein Gewicht heute früh zum Start des zweiten zweitägigen Fastenintervalls aus einer Serie von fünfmal zwei aufeinanderfolgenden Fastentagen: 100,5 Kilogramm. Begonnen hatte ich am Montag mit 103,2 Kilogramm, gestern früh waren es 98,7. Die Folgen der "Fastenferien" in Tateinheit mit den Covid-19-Ausgangsbeschränkungen habe ich also wieder eingefangen. Da ich erst die erste in einer Serie von fünf zweitägigen Fastenintervallen abgeschlossen habe, bin ich guten Mutes, daß ich bis spätestens nächste Woche wirklich endlich mal wieder einen neuen Tiefststand feiern kann.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, übernächste Woche das letzte Zwei-Tages-Intervall der aktuellen Serie auch gleich am Montag und Dienstag anzuschließen, aber es zeichnet sich ab, daß bei uns die Außengastronomie wohl ausgerechnet an diesem Montag öffnen wird. Deshalb werde ich es auf Dienstag/Mittwoch verschieben. Für den ersten Öffnungstag der Außengastro stehe ich bei meinem Lieblingslokal schon im Wort, bei dem ich in letzter Zeit auch regelmäßig Essen bestelle. Dann will ich zusammen mit meinem Mann dort essen und dazu ein, zwei Bier genießen. Vielleicht frage ich auch meinen Sohn, ob er mitkommen will.

Zwei sehr unterschiedliche Arten von Unternehmen müssen offenbar bis auf weiteres weiter noch geschlossen bleiben, nämlich die Kneipen und Bars, also reine Schanklokale ohne Speisenangebot und ohne Außenbereich (ich hoffe doch mal, auch Kneipen dürfen, sofern vorhanden, ihre Außenbereiche nutzen), aber auch die Fitnessstudios. Die Inbegriffe von Laster und Tugend nach heute üblicher Auffassung sind damit ironischerweise vereint in einer gemeinsamen neuen Rolle als potentiell besonders bedenkliche Infektionsschleudern.

Natürlich kann man diese Unternehmen nicht einfach kollektiv den Bach runtergehen lassen. Ich nehme an, für sie wie für alle anderen Branchen, die weiter ausharren müssen, wird es noch weitere Hilfen geben. Ich hoffe es jedenfalls, denn kein Unternehmen dürfte es überstehen, wenn es ein halbes oder gar ganzes Jahr lang gar kein Geld verdienen kann, wie das unter Umständen den Schaustellern oder Konzertveranstaltern droht.

Klar ist aber auch, daß die Gastronomie durch die jetzigen Lockerungen noch lange nicht auf ihre vorherigen Umsätze zurückkommen wird. Erstens wird sie qua Hygieneregeln nur ca. die Hälfte der vorhandenen Plätze besetzen können, und zweitens wird es mindestens in Bayern bis auf weiteres eine ziemlich frühe "Polizeistunde" um 20 Uhr geben. (Wie das anderswo wird, habe ich noch nirgends gelesen.) Deswegen - und auch, weil sich das bei uns wegen der Frühschicht meines Mannes anbietet - werden wir uns am Montag, dem 18.5., ein untypisch frühes "Abendessen" zu unserer eigentlichen Kaffeestunde um 15 Uhr gönnen, und sicherheitshalber werde ich dafür wohl reservieren. Am ersten Tag ist das bestimmt nötig, um einen Platz zu bekommen, falls das Wetter gut sein sollte. (Aber wenn nicht, kommen wir halt in der Regenjacke. Schirme sind dort ja vorhanden.)

Ich muß gestehen, ich kann nur sehr schwer einschätzen, wie schlimm die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie - weltweit gesehen und insgesamt - sein werden. Grundsätzlich glaube ich nicht, daß wir als Gesellschaft arm werden, denn der Bedarf an Gütern und Dienstleistungen verringert sich ja nicht. Allzu viele Arbeitslose sind bislang nicht dazugekommen, und die Kurzarbeit, prophezeie ich hier einmal, wird schon im Juni wieder auf Märzniveau sein und bis zum Herbst wieder normal, jedenfalls dann, wenn uns keine große zweite Infektionswelle trifft. Damit sollten die meisten Leute auch ebensoviel Geld wie zuvor ausgeben können, und da der Urlaub im Ausland dieses Jahr wohl ausfallen wird, sogar zusätzliche Ausgaben im Heimatland tätigen, durch die hoffentlich auch die ausbleibenden Urlauber aus dem Ausland zum Teil ersetzt werden. Je nach Branche, in der man tätig ist, wird es wohl schon noch längere Zeit finanziell spürbar sein. Was das betrifft, können wir uns glücklich schätzen: Bei meinem Mann wurde zwar zunächst Kurzarbeit angemeldet, aber dann nicht in Anspruch genommen, und mittlerweile ist die Auftragslage so gut geworden, daß sogar darüber nachgedacht wird, den Betriebsurlaub im Sommer zu streichen. Und bei mir ist auch nur eine kleine Delle bei den Aufträgen zu verzeichnen gewesen, mittlerweile läuft alles fast wieder wie normal.

So ähnlich wie bei uns sollte es auch in anderen EU-Ländern laufen; je nachdem, wie gut die Epidemie in den Griff bekommen wurde, in Tschechien einen Tick besser, in Italien eher schlechter, aber katastrophal werden die Auswirkungen in Europa wohl nirgends. Das unguteste Bauchgefühl habe ich für die USA, deren sozialpolitische Schwachstellen die Corona-Epidemie gnadenlos aufgedeckt hat und die noch dazu gerade so schlecht regiert werden, daß die Sache schlimmer als nötig wurde.

Das ist ganz interessant, denn wie die USA haben wir in Deutschland ja auch eine föderale Struktur, aber während sich das für die Amerikaner als problematisch erweist, habe ich bei uns eher das Gefühl, es ist eine Stärke. Künftig liegt die Verantwortung dafür, daß die Epidemie nicht aus dem Ruder läuft, ja bei den Ländern, aber mit vom Bund vorgegebenen Richtwerten: Wenn in einem Landkreis innerhalb von 7 Tagen mehr als 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner erfolgen, müssen sie gegensteuern, notfalls mit lokalen oder regionalen Shutdowns. (Falls sich diese Infektionen auf einen einzelnen Ausbruchsherd - etwa ein Pflegeheim - zurückführen lassen und die Sache keine weiteren Kreise gezogen hat, die eine Zurückverfolgung problematisch machen, darf aber auch, so hörte ich das gestern in der Pressekonferenz, davon abgesehen werden.) Das klingt für mich sehr vernünftig: Wenn einzelne Bundesländer zu "forsch" mit den Lockerungen waren, merken sie das als Erste und sind dann in der Pflicht, wieder gegenzusteuern. Gleichzeitig können sie das aber auf die Regionen beschränken, in denen die Probleme aufgetreten sind.

Mein genereller Optimismus, was die wirtschaftliche Frage betrifft, macht mich nicht blind dafür, daß manche Betriebe aufgrund ihres spezifischen Geschäftsmodells, wackeliger Finanzierung oder schieren Pechs und außerdem auch bestimmte Branchen als Ganzes wirklich die A****karte gezogen haben: Konzerte, Feste, aber auch Kongresse und Messen, Großveranstaltungen werden bis auf weiteres nicht stattfinden können, Flugreisen werden wohl noch lange sehr viel weniger unternommen werden, und wann man wieder eine Kneipe oder ein Fitnessstudio besuchen kann, steht momentan auch noch in den Sternen. Ich hatte ja kurioserweise meinen EMS-Vertrag zu Jahresbeginn gekündigt, und es hat nicht viel gefehlt, und ich hätte meine letzten Termine noch vor Corona hinter mich gebracht. Ich habe die zwei letzten Termine meines auslaufenden Vertrags noch bezahlt und mit dem Studio vereinbart, daß wir sie nachholen, sobald es wieder geht, wann auch immer das sein mag. Im Moment bin ich sogar am Überlegen, ob ich nicht als Geste der Solidarität wenigstens bis zum Jahresende - ohne einen Dauervertrag, sondern allenfalls mit einem automatisch auslaufenden Halbjahresmodell - weitertrainieren sollte. Immerhin bin ich dort acht Jahre lang gut betreut worden.

Und natürlich trifft es auch manche Einzelpersonen härter als andere, nicht nur die Inhaber und Angestellten solcher besonders hart getroffener Betriebe. Mir ist klar, was für ein Riesenglück ich habe, weil sich bei mir so wenig im Alltag verändert hat und ich nur über Klopapier, Mehl und Hefe zu schimpfen hatte, und auch das nur zeitweilig. Dabei denke ich nicht nur an die Partner und/oder Kinder von suchtkranken oder aggressiven Menschen oder an vereinsamte Pflegeheim-Bewohner, sondern auch an Eltern, die mit ihren Kindern quasi in der Wohnung eingesperrt sind und unter diesen Bedingungen im Homeoffice arbeiten und Homeschooling betreiben sollen. Aber auch beim Abnehmen kann der Shutdown einem die Pläne durchkreuzen, und auch in diesem Bereich habe ich unter dem Strich noch großes Glück gehabt, denn die kleine Zunahme zu Ostern war jetzt kein Drama für mich, obwohl ich sie nicht vorhergesehen hatte. Wer abnehmen will und dabei ein Fitnessstudio fest eingeplant hatte, traut sich möglicherweise mittlerweile gar nicht mehr auf die Waage, und auch wer vor Corona noch nicht ans Abnehmen dachte, stellt nach sieben Wochen "Quasi-Ausgangssperre" möglicherweise fest, daß er seine Hosen nicht mehr zukriegt. Aber auch wer wie ich fastet und damit vor Corona kein sonderliches Problem hatte, ist womöglich mit einer veränderten Alltagsroutine schlechter klargekommen als sonst.

In Summe werden die unzähligen kleinen, mittleren und großen Schäden, die dadurch entstanden sind, schon etwas ausmachen. Im Prinzip leuchtet es mir deshalb ein, wenn immer wieder die Frage aufpoppt, ob nicht vielleicht mit der Bekämpfung von Corona in anderen Bereichen mehr Schaden angerichtet wird, als durch Vermeidung von Krankheitsfällen vermieden wird. Diese Frage ist nicht nur berechtigt, ich habe sie in früheren Debatten sogar viel zu wenig vernommen, etwa als wegen des statistisch belegbaren Todes von weniger als einer einzelnen Person pro Jahr innerhalb der letzten 18 Jahre die Masernimpfung verpflichtend wurde oder in der Stickoxiddebatte eine fragwürdige Zahl von angeblich diesem Luftschadstoff zuzurechnender Todesfälle dazu genutzt wurde, um Stimmung für Fahrverbote zu machen. Die Heuchelei dabei habe ich in früheren Beiträgen schon angesprochen und gehe zu Ende des Beitrags noch einmal darauf ein.

Das Problem im vorliegenden Fall ist aber ein anderes: Solche kritischen Fragen laufen meistens auf die Milchmädchenrechnung hinaus, die bisher gezählten Todesfälle einer eventuell möglichen Zahl von Todesfällen gegenüberzustellen, die als Kollateralschaden der Corona-Bekämpfung entstehen, und das ist auf mehreren Ebenen falsch.

Falsch ist es zum einen deshalb, weil es weder auf der einen noch auf der anderen Seite nur um Todesfälle geht. Laut Robert Koch-Institut wurden 17 % aller Infizierten stationär behandelt, hatten also so schwerwiegende Krankheitssymptome, daß eine Selbstbehandlung zu Hause zu riskant schien. Das waren somit fast 30.000 Krankenhausbehandlungen. Mehr als ein Drittel der stationär Behandelten, nach aktuellem Stand über 12.000, mußten in die Intensivstation, und fast 3000, also jeder vierte Intensivpatient und jeder zehnte Krankenhauspatient mit Corona, ist dort verstorben. (Man beachte: Im Umkehrschluß bedeutet das, daß deutlich mehr als die Hälfte der aktuell knapp über 7200 Corona-Toten NICHT in einem Krankenhaus gestorben ist.)

Aber die bisher gezählten schwerwiegenden Krankheits- und Todesfälle - auch wenn jeder einzelne Corona-Tod eine persönliche Tragödie für den Verstorbenen, seine Freunde und Angehörigen war - sind ja genau wegen der als überdimensioniert kritisierten Maßnahmen so wenige geblieben. Ich bin zwar überzeugt davon, daß wir rückblickend erkennen werden, daß manche der Maßnahmen nur wenig Einfluß auf die Infektionsverbreitung hatten, aber welche das sein werden, kristallisiert sich erst jetzt langsam heraus.

Für jede nach heutigem Kenntnisstand wirksame Maßnahme, die nach Meinung der Kritiker hätte unterbleiben sollen, müßten sie deshalb auch eine entsprechend höhere Zahl Verstorbener UND schwerwiegend Erkrankter einschätzen, und das tun sie nicht, das zweite fällt sogar ganz regelmäßig unter den Tisch. Das mag nicht in allen Fällen bewußte Desinformation sein, denn wie schwierig es ist, von der Betrachtung statistischer Daten in die Realität und wieder zurück zu switchen, fiel mir erst heute morgen bei der Pressekonferenz des RKI wieder einmal auf, als eine Journalistin wahrhaftig behauptete, die Zahl der Infektionen in Deutschland steige gerade wieder an. Jeder, der Augen im Kopf hat, kann aber bei den Infektionszahlen eine deutliche Kurve im Wochenverlauf erkennen, die als Ursache hat, daß am Wochenende nicht von überall Zahlen gemeldet werden. Der höchste Wert innerhalb einer Woche wird meistens am Mittwoch vorgelegt, der niedrigste am Montag. Das ist in den meisten Ländern so ähnlich, deshalb ist es hochgradig irritierend, daß sogar die FAZ in ihrem Newsblog regelmäßig von irgendwelchen Ländern Anstiege meldet, die in Wirklichkeit gar keine sind.

Was ebenfalls von Kritikern gerne unterschlagen wird, sind die Kollateralschäden eines durch unterlassene Maßnahmen aus dem Ruder laufenden Infektionsgeschehens. Krebs-, Herz- und Schlaganfallpatienten, die momentan wegen Corona zögern, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen und vielleicht dadurch Schaden erleiden, würden sich ja nicht anders verhalten, wenn mehr Corona-Infektionen für akzeptabel gehalten und die Maßnahmen entsprechend gelockert würden. In Wirklichkeit würde dann genau dasselbe passieren, nur wäre die Behandlung derer, die wegen anderer Leiden als Corona doch ins Krankenhaus kommen, schlechter, als sie im Moment ist. Der Schaden würde sich also in diesem Bereich eindeutig vergrößern.

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, ein großer Polemiker vor dem Herrn, blickte bei der Schadenskalkulaton noch weiter über den nationalen Tellerrand, denn er meinte sinngemäß, man könne Vorerkrankte, deren weitere Lebenserwartung vielleicht nur noch ein halbes Jahr sei, eigentlich auch über die Klinge springen lassen, um "die Wirtschaft" nicht den Bach runtergehen zu lassen, wodurch dann in Entwicklungsländern Kinder sterben könnten. Da auf einen groben Klotz auch ein grober Keil gehört, bezeichne ich das jetzt mal nicht weniger polemisch als einen Vorschlag für "Euthanasie durch Unterlassen".

Palmer tut damit nicht nur "der Wirtschaft" zu viel der Ehre an, er unterliegt dabei auch neben dem oben beschriebenen noch einer ganzen Reihe weiterer Irrtümer: 
  • Erstens ist es nur ein Teil der Wirtschaft, auf deren Schicksal wir auf nationaler Ebene überhaupt so viel Einfluß haben. Shutdowns gibt es ja überall auf der Welt, in etlichen Nachbarländern sogar schärfer als bei uns, und die Folgen für die "Großen" in der Wirtschaft, ob nun bei uns oder in anderen Ländern, hängen nicht davon ab, ob speziell in Deutschland die Autohäuser eine Woche früher oder später öffnen. Damit hängt auch das Schicksal der Kinder in Entwicklungsländern davon nicht ab.
  • Zweitens bin ich der Meinung, unter den "Kleinen" in der Wirtschaft, vom Friseur über den Einzelhandel bis zur Gastronomie, müßte ein zuvor gesundes Unternehmen, das Zugriff auf die Soforthilfe und die weiteren Unterstützungen bekommen hat und das für seine Mitarbeiter Kurzarbeit in Anspruch nehmen konnte, zwei Monate Shutdown überstehen können. Analog zu Boris Palmers Aufrechnung von Menschenleben könnte man auch in den Raum stellen, daß die Unternehmen, die als Folge des Shutdowns ganz zumachen müssen, ebenfalls schon "Vorerkrankungen" gehabt haben müssen und mit jeder anderen unerwartet auftauchenden Schwierigkeit auch nicht mehr fertiggeworden wären. (Es mag nicht für jeden Einzelfall zutreffen, im Großen und Ganzen sollte das aber richtig sein.) Man darf getrost davon ausgehen, daß jedes dieser Unternehmen, dessen Angebot auf grundsätzlich ausreichende Nachfrage trifft, durch eine Neugründung ersetzt wird, die diesen Bedarf befriedigt. So tragisch es für die Inhaber der pleitegegangenen Unternehmen sein mag, "die Wirtschaft" trägt durch ihre Tragödie keinen Schaden davon und sie selbst haben in der Regel irgendwelche Optionen, um weiterzuleben, während ein toter Coronapatient weiterhin tot bleiben würde.
  • Drittens wird man an der wirtschaftlichen Entwicklung in denjenigen Ländern, die zu lange gezögert haben, bis sie auf Corona reagierten (Italien, Spanien, UK ...), ablesen können, daß die wirtschaftlichen Folgen - auf nationaler Ebene betrachtet - um einiges übler ausfallen werden als bei uns. Unser Shutdown war ja noch vergleichsweise moderat. Ein spannender Fall ist Schweden, das noch lockerer war und wo ja noch längst nicht sicher ist, ob die dortige Handhabung in den nächsten Monaten dazu führen wird, daß die dortigen Unternehmen in einem halben Jahr neidisch auf andere Länder schauen werden, die zu Beginn schärfere Maßnahmen beschlossen hatten, anschließend aber auch wieder stärker hochfahren konnten.  
  • Viertens sind auch bei einem durchschnittlichen Alter von mehr als achtzig Jahren bei den Corona-Toten ca. ein Drittel unter 70 (während andererseits auch schon über Hundertjährige eine Infektion ausgeheilt haben). Soll man dieses Drittel "junger" Corona-Opfer - und wir reden hier immerhin von ca. 2000 Menschen - großzügig mit hoppsgehen lassen, während man andererseits im Falle der Masern weniger als einen einzigen Todesfall pro Jahr schon zu viel findet? 
  • Damit zusammen hängt fünftens, daß der Grund oder die Gründe warum so eine Infektion manchmal so schwer verläuft, obwohl sie bei den meisten relativ harmlos ist, nicht einfach ignoriert werden kann, nur weil Menschen über 80 den größten Teil der Todesfälle stellen. Offensichtlich handelt es sich um etwas, das umso häufiger vorkommt, je älter man ist. Was es ist, muß dringend herausgefunden werden, um die Risikogruppen besser eingrenzen zu können, zu denen natürlich auch Jüngere gehören, nur ist im Moment noch nicht so richtig klar, welche. (Alle durch die Fach- und Publikumsmedien geisternden Risikofaktoren richten sich im Moment noch nach statistischen Faktoren, ohne aber den dabei eintretenden biologischen Wirkmechanismus zu durchschauen.)
  • Und zu guter Letzt und sechstens würde Boris Palmers gedanklicher Ansatz nur dann einen Sinn ergeben, wenn damit die Forderung verknüpft wäre, eine Intensivbehandlung nur noch einer "Positivauswahl" an Erkrankten, also Menschen mit einer Prognose von mehr als einem halben Jahr weitere Lebenserwartung, zukommen zu lassen. Wenn die Rettung von Menschenleben nicht gewollt ist, denen damit nur noch ein halbes Jahr weitere Lebenszeit verschafft würde, dann muß man schon auch sagen, was das konkret bedeutet.
Palmers Partei, die Grünen, hyperventilierte nach seiner Äußerung natürlich im Kollektiv, aber mir scheint, aus den falschen Gründen und schon auch mit einer Prise Heuchelei. Sie reagierte genauso reflexartig wie im Falle der Masern und der Stickoxide: Menschenleben müssen aus Prinzip immer erhalten werden, egal für wie lange oder kurz.

Das Problem dabei ist, den Tod als solchen als unweigerliches Ende des Lebens können die Grünen nicht per Parteitagsbeschluß abschaffen. Das Quentchen unangenehme Wahrheit in Palmers häßlichem und falschem Satz besteht darin, daß, je länger man einen Kranken, den man nicht mehr gesund machen kann, am Leben erhält, desto mehr Folgekrankheiten kommen hinzu und machen ihm das Leben immer stärker zur Qual, so daß der Tod irgendwann doch als eine Erlösung kommt. Blinder Aktionismus, um in so einem Fall doch noch den einen oder anderen Lebenstag herauszuschinden, ist in Wirklichkeit gar nicht im Interesse des Patienten, sondern dient nur der psychischen Erleichterung der Angehörigen eines medizinischen Apparats, der strukturell darauf geeicht ist, jeden Toten als um jeden Preis zu vermeidendes Versagen zu betrachten. Nur, damit versagt er natürlich über kurz oder lang bei jedem einzelnen Menschen, denn auch bei maximaler Anstrengung der Medizin stirbt unweigerlich jeder irgendwann.

Wolfgang Schäubles Äußerung, die oft mit der von Palmer in einem Atemzug zitiert wird, enthielt im Gegensatz zu letzterem aber weder die obigen falschen Prämissen noch einen falschen Ton:

Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.

Es ist die Würde derjenigen, denen die Medizin noch ca. ein halbes Jahr Lebenserwartung zuspricht, die Palmer angegriffen hat, denn welchen Wert für einen Betroffenen die begrenzte Zeitspanne Leben hat, mit der er noch rechnen kann, kann nur er selbst beurteilen. Die Würde des Menschen verbietet es gleichzeitig auch, daß der Staat anfängt, zu kalkulieren, auf welche Menschenleben er eigentlich auch verzichten könnte. Auch aus diesem Grund ist es so dramatisch, wenn eine Situation entsteht, in der so viele Menschen gleichzeitig schwerkrank werden, daß nicht mehr alle angemessen behandelt werden können. Die Last, zu entscheiden, wer in so einem Fall behandelt wird und wer nicht, kann ein Boris Palmer dann denen nicht abnehmen, die in der Realität mit dieser Situation konfrontiert sind, nämlich den Behandlern im Krankenhaus. Es dient dem Schutz auch ihrer Würde, so gut wie möglich zu vermeiden, daß sie in diese Situation kommen.