Mittwoch, 2. September 2020

Emotionale Entrümpelungen

Mein Gewicht heute früh: 96,7 Kilogramm nach dem zweiten Fastentag der Woche, also bei Halbzeit meines viertägigen Fastenintervalls. Willkommen zurück, 50-Kilo-Abnahme-Marke! Bis ich das als Vorher-Wert verbuchen kann, wird es wohl noch ein bißchen dauern, aber bis auf weiteres gebe ich mich gerne damit zufrieden, die Hundert endlich nicht mehr sehen zu müssen.

Wie bislang bei fast jedem mehrtägigen Fastenintervall beeindruckt mich die Problemlosigkeit, mit der ich so etwas mache. Das hätte ich mir echt nicht träumen lassen, als ich anfing mit dem Intervallfasten. Inzwischen ist mir klar, daß bei mir auch ein bißchen Glück mit im Spiel ist, weil das offenbar nicht jedem so leicht fällt. Trotzdem lohnt es sich bestimmt bei jedem, der es noch nie probiert hat, weil er sich nicht vorstellen kann, es durchzuhalten, es einfach einmal auszuprobieren. Der eine oder andere erlebt dabei bestimmt eine ähnliche positive Überraschung wie ich. 

36-stündige Fastenintervalle sind aus meiner Sicht weniger einfach (schwierig im eigentlichen Sinne finde ich sie auch nicht), aber man kann Strategien entwickeln, um damit umzugehen. In meinem Fall besteht die Strategie darin, daß ich Phantasien über das Essen auf den nächsten Tag fokussiere. Alles, was ich jetzt gerne essen würde, kann ich ja morgen essen. Aber ab dem zweiten Tag ist das bei mir nicht mehr nötig (zum Glück, wenn noch zwei weitere Fastentage folgen werden), ich habe einfach null Bedürfnis nach Essen.

In den letzten Wochen hatte ich eine Menge Arbeit, aber vor ca. zwei Stunden ist es mir gelungen, eine ratzekahl leeren Schreibtisch zu produzieren. Die Herrlichkeit wird nicht allzu lange anhalten, aber im Moment genieße ich es so sehr, daß ich es einfach nicht schaffe, mich dazu zu motivieren, ein paar weniger dringliche Sachen zu erledigen, die sich in anderer Hinsicht aufgestaut haben. Ich sollte zum Beispiel meinen Mietern endlich die Nebenkosten abrechnen. Den vollen Schreibtisch davor fand ich aber auch nicht schlecht, immerhin sorgt er dafür, daß Geld reinkommt, und ich habe kein Problem damit, daß er sich voraussichtlich rasch wieder füllen wird, nur kann es dann natürlich sein, daß es wieder dermaßen viel wird, daß ich keine Zeit für die Nebenkostenabrechnung habe. Auch die Sommerklamotten sollte ich langsam mal sichten; speziell die Sachen für den Hochsommer brauche ich dieses Jahr wohl nicht mehr. Es sind diesmal wieder einige Teile dabei, die mir mittlerweile zu weit geworden sind und die ich nicht für nächstes Jahr aufheben muß.

Aber im Moment habe ich einfach keine Lust.

So ein bißchen was von einem Messie habe ich ja schon (wobei mein Mann aber noch viel schlimmer ist), so richtig ordentlich ist es bei mir nie. Das liegt vor allem daran, daß ich zu vieles anfange und dann nicht zu Ende bringe. Letzten Sommer zum Beispiel habe ich eine große Reproduktion des Ölgemäldes eines in die Lektüre eines Buches vertieften Mönchs gekauft und wollte mir dafür einen Rahmen basteln, ohne daß ich bislang dazu gekommen wäre. Also steht das eingepackte Gemälde im Format 70 x 55 im Weg herum und dazu auch noch die Rückwand und die Leisten, die ich vergolden und drumherumbasteln wollte, und natürlich auch die Sprühdose mit dem Goldlack.

Solche unvollendeten Projekte habe ich etliche, und diejenigen, die mir im Kopf herumspuken, ohne daß ich bislang damit angefangen hätte, sind damit noch gar nicht mit aufgezählt, weil sie nur in meinem Kopf, aber nicht in meiner Wohnung für Unordnung sorgen. Sauberkeit ist dagegen kein Problem, obwohl mir vor ca. anderthalb Jahren meine Putzfrau - deren Zuverlässigkeit zuvor aus gesundheitlichen Gründen immer mehr zu wünschen übrig ließ - abhanden gekommen ist, sogar eher im Gegenteil. Weil ich weiß, daß ich jetzt selbst für all diesen Kram zuständig bin, hat sich im Lauf der Zeit auch ein halbwegs vernünftiger Putzrhythmus eingependelt, der letzten Endes sogar eine überzeugendere Sauberkeit bewirkt als vorher. Nur das mit dem Fensterputzen krieg ich irgendwie noch nicht so richtig auf die Reihe. Aber das kommt schon auch noch.

Aber in einem anderen Bereich habe ich dafür gerade entrümpelt, nämlich auf einem meiner Twitter-Accounts, indem ich dort zwanzig themenbezogene Accounts entfolgt habe. Mit denen ging es mir nämlich wie den Wespen mit Honig, Sirup oder Zuckerwasser: Sie machten mich aggressiv. Und obwohl sie mich thematisch interessiert hatten: So dringend muß ich diese Dinge eigentlich doch nicht wissen, um mir dafür ständig unnötigerweise den Blutdruck nach oben treiben zu lassen. Mein Problem bestand darin, daß es gerade in diesem Themenbereich auf einmal von Corona-Verschwörungstheoretikern nur so wimmelt, mit denen kein vernünftiges Wort mehr gewechselt werden kann. 

Einen Begriff wie "Verschwörungstheoretiker" verwende ich nicht leichtfertig und sonst nur selten. Aber in diesem Fall kommt er mir angebracht vor, weil man mit Einwänden, die berechtigt sind und nachgewiesen werden können, auch nur gegen eine Wand läuft. Entweder man erkennt vollständig und bis auf den letzten Buchstaben an, daß wir uns auf dem direkten Weg in eine Bevormundungsdiktatur befinden, für die das "eigentlich harmlose" Corona nur ein Vorwand sei, oder man gilt als Knecht der Bevormunder. Besonders verboten ist es, ihre Quellen kritisch zu hinterfragen, insbesondere dann, wenn diese Quellen schon auf den ersten Blick zweifelhaft wirken.

Es ist wirklich ein Glück, daß ich mich in den Fragen, wegen derer ich sie bislang gelesen hatte, nie ausschließlich auf den Sachverstand dieser Leute verlassen habe, sondern alles, was sie behaupteten, selbst überprüft habe, denn an dem Verstand vieler von ihnen zweifle ich mittlerweile in ziemlich umfassendem Maße. In ihren Annahmen zu Corona stecken nämlich gleich mehrere grobe Denkfehler, und es hat sich als unmöglich erwiesen, auch nur in einem bestimmten Einzelpunkt ihre felsenfeste und unerschütterliche Überzeugung auch nur im Geringsten ins Wanken zu bringen. 

Das bedeutet dummerweise mehr als einen Irrtum nur in einer bestimmten Frage. Wer Zweifel in der einen Frage nicht zuläßt, dessen Urteil in anderen Fragen ist auf ähnliche Weise unerschütterlich, und damit ist seine Glaubwürdigkeit auch bei anderen Themen in meinen Augen erschüttert. So bin ich nicht, und so möchte ich auch um Gottes willen nicht sein. Ich will, um mit Hannah Arendt zu sprechen, verstehen. Ich will wissen, was wirklich ist. Mir ist keine Illusion so heilig, daß ich auf sie nicht verzichten würde, wenn es der Wahrheitsfindung in einer mir wichtigen Frage dient. Auch dann, wenn die Wahrheit mir nicht sonderlich gefallen sollte. 

Über Corona kann noch niemand, der ernst zu nehmen ist, eine vollumfassend abschließende Meinung erlangt haben, dazu ist noch viel zu vieles unklar. Und das wiederum bedeutet, daß jeder, der behauptet, dies zu können, unseriös ist - egal, welche Thesen er vertritt.

Ein paar Punkte sind mir dennoch bereits klar.

1) Corona ist nicht harmlos und nicht mit der Grippe vergleichbar. 

 Ich verzichte darauf, das zu begründen - das habe ich in früheren Blogbeiträgen ja bereits getan.

2) Es gibt keine Verschwörung mit dem Ziel einer Bevormundungsdiktatur.

Weil eine solche Verschwörung gar keinen Sinn ergibt. Sollten sich wirklich alle Regierungen der Welt, demokratische und autokratische, konservative und progressive, miteinander auf diese Verschwörung verständigt haben? Die Vorstellung ist lachhaft, es sei denn, man denkt sich nach dem Stil der berüchtigten "Jüdischen Weltverschwörung" irgendeine geheimnisvolle Macht im Hintergrund als Urheber, etwa Bill Gates oder die WHO, nach deren Pfeife die ganze Welt tanzt. Es sei daran erinnert, daß Corona jeden dieser Staaten gewaltige Geldsummen kostet und die Maßnahmen im Lauf der Zeit immer schwieriger durchzusetzen sind. Welches Interesse bestünde aus Perspektive einer Regierung, sei es nun die deutsche Bundesregierung oder die irgendeines anderen Lands, sich von irgendwelchen Verschwörern diese Bürde aufnötigen zu lassen?

3) Bei Kontroversen in einer bestimmten Sache haben fast immer beide Seiten Unrecht

Und zwar immer in ihren jeweiligen Extrempositionen. Bezogen auf Corona heißt das: 

Unrecht haben auf der einen Seite die "Hundertfünfzigprozentigen", die hysterische Anfälle bekommen, wenn sie eine einzige Übertretung der Coronaregeln wahrnehmen, wie geringfügig auch immer sie sein mag, dann Beweisfotos machen und solche Vorfälle zur Anzeige bringen. Auch dann, wenn das tatsächlich dem Buchstaben des Gesetzes Genüge tun mag, es ist Blockwartgehabe und Wichtigtuerei ohne Augenmaß und ohne ein Gefühl für Proportionen.

Unrecht haben aber auch diejenigen, die sich von jeder noch so geringfügigen Schutzmaßnahme in ihrer Freiheit bedroht fühlen und den Bevormundungsstaat heraufziehen sehen.

Unrecht haben aber auch - auf beiden Seiten - Experten, Politiker und Publizisten, die solches Verhalten fordern oder begünstigen oder Ängste gezielt anfachen. (Unter den Gesundheitspolitikern fiel mir dazu besonders unangenehm Karl Lauterbach auf, während Jens Spahn, von dem ich sonst nie viel gehalten hatte, erstaunlich differenzierte Äußerungen produziert - das hätte ich dem gar nicht zugetraut. Es lohnt sich übrigens, solche Dinge im Volltext zu verfolgen, anstatt den Zusammenfassungen in der Zeitung zu vertrauen.) Angst ist nämlich immer ein schlechter Ratgeber. Wer Menschen mehr als unvermeidlich ängstigt - egal ob mit Absicht oder aus Versehen -, macht die Welt fast immer nebenbei schlechter.

Recht haben können aber die Leute, die Bedenken gegen eine bestimmte Corona-Maßnahme mit bestimmten Argumenten vorbringen, und das Für und Wider kann dann diskutiert werden. Das ist notwendiger Bestandteil der öffentlichen Debatte und sogar sehr zu befürworten, denn wie sollte man es ohne Einwände bemerken, wenn man auf den Holzweg geraten ist? Recht haben natürlich auch diejenigen, die für sich selbst entschieden haben, welche Risiken sie persönlich nicht eingehen wollen, und dies so umsetzen, auch dann, wenn andere Leute diese Maßnahmen für übertrieben halten. Über solche Dinge kann und sollte diskutiert werden.

Und recht haben können sogar die Verschwörungstheoretiker im einen oder anderen Einzelpunkt. Denn Gelegenheit macht bekanntlich Diebe, und es ist ja nicht von der Hand zu weisen, daß Corona auch eine Gelegenheit bietet, für die Durchsetzung aller möglichen Maßnahmen, die vor Corona nicht durchsetzbar gewesen wären, aber nun vielleicht doch vorübergehend mehrheitsfähig geworden sind. 

Das Groteske daran ist, daß gerade die Verschwörungstheoretiker mit ihrer Alles-oder-nichts-Haltung Diskussionen in diesem Bereich wirksam sabotieren. 

Im Grunde sind es aber noch nicht einmal die Verschwörungstheoretiker, die mich wirklich sauer machen. Verschwörungstheorien sind ein mißglückter Versuch, die Welt zu verstehen, und Ausdruck von Ängsten, die etwas mit deren Unverständlichkeit zu tun haben. Was mich am meisten ankotzt, sind die "halbwegs Normalen" unter den Kritikern der Corona-Maßnahmen, die selbst durchaus differenzieren können, aber die solchen Leuten in ihrer Gefolgschaft nicht selbst widersprechen. Ich finde, die Durchgeknallten in den eigenen Reihen entweder unter Kontrolle zu halten oder auszuschließen, ist klare Aufgabe der nicht Durchgeknallten einer Gruppe. Andernfalls sind sie für ALLES mitverantwortlich, was die Durchgeknallten bei einer Gruppen-Aktion anstellen, etwa den Versuch, den Reichstag zu stürmen. Mir persönlich reicht es nicht, daß der Organisator der Demo sich davon distanziert hat. Es war SEINE Verantwortung, dafür zu sorgen, daß solche Dinge nicht geschehen. Wenn er seine Gefolgschaft nicht ausreichend im Griff zu haben glaubt, dann ist es ein Unding, so eine Demonstration überhaupt durchzuführen. Sollte dieser Ballweg mit seiner komischen Querdenker-Querfront die Verbreitung von Nazi- oder Reichsbürger-Gedankengut bei der nächsten Demo wieder nicht verhindern oder dies wenigstens ernsthaft versuchen, hat er meiner Meinung nach jede moralische Berechtigung verloren, mit seinen Anliegen angehört zu werden.

So, und jetzt isses passiert, ich muß zurück an die Arbeit, und zwar subito, ein Eilauftrag liegt vor. Meine Mieter müssen also mindestens bis zum Wochenende auf ihre Nebenkostenabrechnung warten. 

Aber vorab noch eine Kleinigkeit, die mir gerade eingefallen ist: Letzten Samstag bekam ich abends nach dem Abendessen (es gab panierte Zuchinischeiben mit Ciabatta und Gurken-Paprika-Salat) noch Lust auf ein Stückchen Schokolade, und da stellte sich wahrhaftig heraus, daß mein Mann kein Depot mit Süßigkeiten mehr hat, aus dem man sich bei solchen Gelüsten bedienen kann. Sonst hatte er immer mindestens zwei, drei Tafeln Schokolade in Reserve, aber seit er auch mit dem Fasten angefangen hat, verlangt es ihn nicht mehr so sehr nach Süßem. Doch, sagte er, schmecken würde es ihm schon noch, nur brauche er es nicht so dringend, um sich damit zu bevorraten.

Das ist schon interessant. Bei mir hat das Fasten gar nichts an meinen Eßgewohnheiten verändert, und bei ihm, der ja viel seltener fastet, hat es praktisch alles auf den Kopf gestellt. Denn ich kann mich nicht erinnern, daß es auch nur einen einzigen Tag gegeben hätte, an der er nicht eine angebrochene Tafel Schokolade oder etwas ähnliches auf seinem Schreibtisch liegen gehabt hätte. Da werde ich wohl ein eigenes Depot aufbauen müssen ... aber natürlich ein viel kleineres, denn so viel Süßkram wie mein Mann ihn bislang immer in sich reingestopft hat, esse ich von vornherein nicht. Das letzte Mal, daß ich von ihm ein Stückchen Schokolade wollte, ist auch schon mindestens zwei Monate her.

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