Mittwoch, 23. September 2020

Der Null-Fehler-Mensch und sein zwangsläufiges Scheitern

Mein Gewicht heute früh: 96,2 Kilogramm - das bei weitem niedrigste Gewicht, das ich je nach einem einzelnen Fastentag zu verzeichnen hatte. Sehr erfreulich. So darf es weitergehen. :-) 

Bekanntlich ist mein Verhältnis zu Politik, Medien und Gesellschaft ja ein ziemlich mürrisches, und das ist vielleicht manchmal für den Leser ermüdend, aber es macht mir auch selbst keinen sonderlichen Spaß. Ich wünschte aufrichtig, es wäre anders. Ich gebe mir aber immerhin größte Mühe, das, was aus meiner Sicht gesellschaftlich wirklich falsch läuft, nicht zu verwechseln mit dem, das mir einfach deshalb nicht gefällt, weil es ANDERS ist als vor zwanzig, dreißig Jahren, als ich noch jung und (halbwegs) hübsch war. Diese Dinge gibt es natürlich auch. Wahrscheinlich haben schon die Höhlenmenschen, die anfingen, Feuer zu verwenden, von ihren Eltern und deren Altersgenossen dafür wenig Dank, aber viel Gemotze über das neumodische Gelumpe bekommen, das zu ihrer Zeit niemand gebraucht hat.

Kürzlich habe ich Theodor Adornos "Minima moralia" gelesen und anschließend gleich noch die "Dialektik der Aufklärung" nachgeschoben, weil ich mir nicht sicher war, wie ich Adornos gleichfalls mürrische, wenn auch sorgfältig formulierte Fundamentalkritik der modernen Gesellschaften einordnen sollte. Der 1934 aus Nazideutschland ausgewandete Adorno (nach Nazi-Terminologie war er Halbjude) schrieb beide Bücher (das letztere zusammen mit seinem Freund Max Horkheimer) im New Yorker Exil in den vierziger Jahren, noch bevor Nazideutschland besiegt war, und man sollte eigentlich meinen, daß das eine düstere Grundstimmung mehr als ausreichend erklärt. Aber meinem Eindruck nach vermischt sich in beiden Büchern außerdem die kritische Reflexion der Abgründe in der (damaligen) Gegenwart sowie die Suche nach deren Wurzeln mit genau diesem Generationenproblem, für das er ganz unphilosophisch ebenfalls die Außenwelt verantwortlich macht, weil er gar nicht bemerkt, daß er da zwei verschiedene Dinge miteinander vermengt.

Beispiel Musik. Adorno war offenbar ein sehr musischer Mensch, der klassische Musik aufrichtig liebte, und der damals noch neue und aufregende und überaus populäre Jazz entsetzte ihn geradezu. Heutzutage ist Jazz in einer ganz ähnlichen Rolle wie damals schon die klassische Musik: Etwas für Kenner, nicht mehr die musikalische Sprache, die von jedem als selbstverständlicher Begleiter des Alltags wenigstens rudimentär beherrscht wird, sondern eine Welt, in die man sich erst einfinden muß. Jazzmusiker rümpfen heute wiederum die Nase über die aktuelle Popmusik, ohne dabei zwischen dem überwiegenden Ramsch Qualität auch nur zu erkennen - genau wie es Adorno damals mit dem Jazz gegangen ist. 

Angefangen habe ich mit dem Adorno, weil ich nach dem berühmten Zitat "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" suchte. Ich wollte wissen, in welchem Zusammenhang es ursprünglich geschrieben wurde, und war dann einigermaßen erstaunt, daß es der Schlußsatz eines Texts zum Thema Wohnen ist. Ich habe diesen Text dreimal gelesen, ohne aber dahinterzukommen, wie der Mensch nun eigentlich wohnen müsse, um nach Adornos Meinung eine Chance zu haben, ein richtiges Leben (nämlich "ein richtiges Leben im richtigen") führen zu können, und habe die Sache am Ende damit abgehakt, daß er es offenbar selbst nicht so genau wußte. Mitgenommen habe ich aus dem Text folglich nur, daß Adorno in seiner New Yorker Zeit wohl neben allem anderen auch unzufrieden mit seiner Wohnsituation gewesen ist und dies für philosophisch wichtig genug gehalten hat, um es in einem Buch zu veröffentlichen. Über so etwas kann ich nur tief seufzen, es kommt mir unnötig wichtigtuerisch vor. Da lobe ich mir Hannah Arendt, die zur selben Zeit auch in New York lebte, aber ihre persönlichen Alltagsprobleme nicht gar so wichtig genommen hat wie Adorno, sondern sich lieber mit Fragen von wirklicher Bedeutung befaßt hat.

Also, wie gesagt, ich versuche, diese beiden Bereiche ebenfalls voneinander zu unterscheiden: Das, was mich deshalb stört, weil ich eine alte Schachtel bin, die sich an eine selbstdefinierte "gute alte Zeit" erinnern kann, und das, was mich stört, weil ich es für eine gesellschaftlich Fehlentwicklung halte. Ich finde es nämlich immer ein bißchen peinlich, wenn meine Altersgenossen sich in die Siebziger oder Achtziger als eine Art Paradies zurückträumen, das in Wirklichkeit so nie existiert hat. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, daß wir in der damaligen Gegenwart keineswegs glücklich und zufrieden gewesen sind, sondern die Welt als sehr verbesserungsbedürftig empfunden haben. 

Daß die heutige Welt immer noch verbesserungsbedürftig ist, ist nicht das Problem. Auch nicht, daß manche erfüllten Träume von damals einen Rattenschwanz neuer, nicht vorhergesehener Folgeprobleme nach sich gezogen haben. Beides halte ich für normal. Bedenklicher finde ich eine Beobachtung, die ebenfalls mit erfüllten Hoffnungen von damals in Zusammenhang stehen. Wo sich nämlich tatsächlich einiges zum Positiven verändert hat, scheint niemand dadurch allzu viel glücklicher geworden zu sein, merkwürdigerweise sogar eher im Gegenteil. Mein Eindruck ist inzwischen, daß es sich längst nicht mehr lohnt, das aktuell in den Medien als das schlimmste präsentierte Problem innerhalb unserer Gesellschaft zu lösen, denn sobald es gelöst ist, wird ja doch nur das derzeit zweitschlimmste Problem zum nunmehr schlimmsten aufsteigen und so fort, aber das Getöse darum wird eher mehr als weniger. Je lauter das Getöse, desto unzufriedener werden die Unzufriedenen, das scheint eine Regel zu sein.

Bis dann doch mal ein wirkliches Problem auftritt und die Maßstäbe wieder etwas zurechtrückt. Corona stellt sich in dieser Hinsicht womöglich sogar noch als eine Art Glücksfall heraus.

Noch eine weitere Entwicklung scheint mir in eine sehr unglückliche Richtung gegangen zu sein, und das hat, glaube ich, schon in den Siebzigern eingesetzt. Für die Siebziger stehen in technischer Hinsicht die Atomkraftwerke. Das Problematische an den Atomkraftwerken, über das in einschlägigen Debatten vergleichsweise wenig gesprochen wird, ist aus meiner Sicht, daß ihr Betrieb nicht fehlertolerant ist. Jeder Fehler - von der Planung über den Bau bis zum Betrieb - kann unverhältnismäßige Folgen nach sich ziehen, und das wiederum ist für mich ein KO-Kriterium. Menschen machen nun einmal Fehler. Wenn man Technologien verwendet, für deren sicheren Betrieb eigentlich Übermenschen nötig wäre, dann sind sie überall dort fehl am Platz, wo es keine Übermenschen gibt. - Also überall auf der Welt.

Dieses Verschwinden der Fehlertoleranz durchzieht die Planung aber längst in allen möglichen Bereichen. In der Industrie sind Null-Fehler-Ziele allgemein gebräuchlicher Bestandteil fast jeder Konzern-Firmenpolitik. An sie zu glauben erfordert allerdings neben allgemeiner Weltfremdheit auch die Unkenntnis der jeweils speziellen tatsächlichen betrieblichen Abläufe. Ich kenne zwar nur wenige Betriebe aus eigener Anschauung, aber im Grunde höre ich von jedem, mit dem ich mich über das unterhalte, was in seinem eigenen Betrieb in dieser Hinsicht abläuft, dasselbe: Zwischen dem Mist, der im Geschäftsbericht steht, und dem, was im Betriebsalltag wirklich abläuft, klaffen tiefe Abgründe, auch wenn die Fehlerfrage betrifft. 

Für den Rest der Wirtschaft kann ich mich an meinen gesunden Menschenverstand halten, der mir sagt, daß Null-Fehler-Ziele von vornherein nicht eingehalten werden können. Nie und nirgends.

Auch die Politik verweigert uns als Bürgern zunehmend das menschliche Maß. Im Bereich Gesundheit, insbesondere der Prävention, finde ich das am unangenehmsten spürbar, und daß es Teilbereiche gibt, in denen die Präventionsmaßnahmen der Wahl einfach falsch sind, etwa sämtliche Empfehlungen zu Adipositas und damit assoziierte Erkrankungen wie Diabetes, macht die Sache noch unangenehmer. Ein anderer Bereich, in dem uns unsere wirklichen und vermeintlichen Unzulänglichkeiten mindestens genauso regelmäßig und mit demselben immer penetrant erhobenen moralischen Zeigefinger vorgeworfen werden, ist der Bereich Umwelt.

Twitter beglückt mich in den letzten Tagen mit einem ziemlichen Wust an Propaganda zur Aktionswoche "Deutschland rettet Lebensmittel". Ich klickte mich von dem verlinkten Tweet bis zu der Studie vor, auf die man sich berief. Mehr als die Hälfte aller Lebensmittelabfälle, las ich dort, sollen auf Kosten privater Haushalte gehen, während  Erzeugung, Verarbeitung, im Handel und in Gastronomie/Catering zusammengenommen für weniger als die Hälfte verantwortlich seien. Dieses Thema macht mich schon seit Jahren närrisch, weil eine Menge eigentlich gescheiter Leute mich immer wieder mit Versatzstücken aus der von Fehlern nur so wimmelnden Medienberichterstattung belästigen, ohne zu bemerken, daß es sich dabei um Quatsch handelt. Meine Schwester etwa bekam von mir neuliche eine barsche Antwort, als sie sagte: "Weißt du, du und ich, wir haben das ja noch daheim gelernt, aber ..."

Betrachtet man die Sache näher, ist an dem skandalösen Verhalten der privaten Verbraucher weit weniger dran, als immer getan wird. 

Obiger Studie zufolge soll jeder private Verbraucher um die 80 Kilogramm Lebensmittelabfälle pro Jahr verursachen. So ähnlich steht das auch in diversen Zeitungsberichten, die seit mehreren Jahren immer wieder aufpoppen; die Kilogramm-Menge variiert ein bißchen, je nachdem, welche Studie einem Zeitungsbericht zugrundeliegt. Was in der Regel gar keine oder nur ganz versteckt Erwähnung findet: Etwa 60 Prozent dieser Abfallmenge besteht aus nicht vermeidbaren Abfällen: Bananen-, Kartoffel-, Eierschalen, Knochen, Kerngehäuse und so weiter. 

Am Rande sei noch bemerkt, daß weder beim Handel noch bei den Erzeugern diese Art von Lebensmittelabfällen überhaupt anfällt, weshalb Vergleiche von deren Abfallmengen mit denen privater Verbraucher von vornherein falsch sind. 

Nun gut, aber dann bleibt dennoch ein Rest von - wieder laut Studie - zwischen 30 und 36 Kilogramm tatsächlich vermeidbarer Lebensmittelabfälle. Was ist denn damit?

Gegenfrage: Ist diese Menge denn wirklich viel? 

Die Studie wendet nämlich das an, was ich im Bereich "Lügen mit Fakten" gerne unter der Rubrik "Shock and Awe - der Trick mit der großen Zahl" verbuche: Immer, wenn zeitlich lange Zeiträume oder räumlich ganz Europa oder die ganze Welt herhalten müssen, gehe ich davon aus, daß die Forscher in Verlegenheit waren, wirklich eindrucksvolle Werte - also eine Zahl mit möglichst vielen Nullen - herzeigen zu müssen, denn wenn man nur den Maßstab entsprechend weit ausdehnt, bekommt man die praktisch immer. Weltweit betrachtet, werden beispielsweise jedes Jahr 24.000 Menschen vom Blitz erschlagen und noch einmal zehnmal so viele tragen Verletzungen durch Blitzschlag davon. Das ändert aber nichts daran, daß die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz erschlagen zu werden, sehr niedrig ist.

30 bis 36 Kilogramm vermeidbare Lebensmittelabfälle, das entspricht ca. 600 bis 700 Gramm pro Woche. Darin sind enthalten: 

  • alle nicht leergegessenen Teller, wenn die Reste mehr als nur Spuren ausmachen. (Es sei daran erinnert, daß der Gesundheitsminister jeden Übergewichtigen sogar davor warnen würde, den Teller leerzuessen, obwohl er schon satt ist.)
  • alle "Fehlkäufe" - das neue, lecker aussehende Produkt, das dann absolut widerlich schmeckte, daß niemand sich opfern und es dennoch essen wollte
  • der unterste Apfel/Orange/Pfirsich, der unbemerkt angefangen hatte, zu faulen
  • der Frischkäse, der schon beim Öffnen oder einen bis zwei Tage danach Schimmelflecken aufwies

Ich finde nicht, daß 600 Gramm pro Woche so wahnsinnig viel ist, denn ich kann mir vorstellen, daß das unter dem Strich sogar bei mir in etwa anfallen könnte. Und meine Schwester hat recht: Sie und ich, wir beide, haben das wirklich noch im Elternhaus vermittelt bekommen, daß man so etwas einfach NICHT TUT, Lebensmittel wegwerfen, und ich handle auch danach. Der Casus knacksus ist der Sommer. Im Sommer hat man es einfach nicht in der Hand. Und wenn man sich auf den Kopf stellt, irgendwas vergammelt einem immer.

Was einem außerdem möglichst gar nicht passieren darf, ist eine Lebensmittelmotteninvasion. Und glauben Sie bloß nicht, daß man die immer verhindern kann. Das funktioniert nur in der Theorie. In der Praxis ist man davon abhängig, daß vom Erzeuger bis zum Ladenregal nichts passiert ist. Sogar wenn man die nötige kriminelle Energie aufgebracht hat, alle seine Lebensmittel in gummiabgedichteten Dosen zu lagern, kann man dann locker ein bis zwei Kilo Mehl auf einmal losgeworden sein. Und in alle anderen Arten von Verpackungen, Gläsern oder Schüttdosen kommen die Motten mühelos rein, wenn sie erst mal da sind.

Jeden einzelnen Fall von verdorbenen Lebensmitteln kann man ansonsten theoretisch verhindern. Aber eben nicht in der Praxis. Warum? - Weil die Praxis des Alltags auch noch aus anderen Anforderungen als dem Kauf, der Lagerung und dem Verbrauch von Lebensmitteln besteht. Keine dieser Anforderungen hat aber ständig hundert Prozent der eigenen Aufmerksamkeit. Workarounds zur Vermeidung von verderbenden Lebensmitteln könnten einerseits so aussehen, daß man täglich und nur für den Bedarf dieses einen Tages einkauft. Das würde erstens unverhältnismäßig viel Zeit kosten, die an anderer Stelle fehlen und aus Zeitersparnisgründen an anderer Stelle umweltschädliches Verhalten erzwingen würde (etwa Kleidereinkauf beim Versandhändler), zweitens kleinere Verpackungen im Handel erzwingen, was ebenfalls umweltschädlich ist, und drittens Vorratshaltung unmöglich machen - und Corona zeigte: Vorratshaltung in einem vernünftigen Umfang ist sehr zu empfehlen. Die zweite denkbare Lösung bestünde darin, nur noch abgepackte Lebensmittel zu kaufen. Dann ist die Frau Ministerin Klöckner aber noch unzufriedener mit uns, weil man dann ja erst recht eine olle Umweltsau ist. 

Auch im Bereich der Abfallvermeidung bei Lebensmitteln werden wir den Null-Fehler-Menschen nie in der Realität erleben. Und deswegen stört es mich, wenn er plötzlich für uns alle der Maßstab sein soll. 

Daneben stört mich außerdem, daß die zugehörigen Propagandisten so deutlich demonstrieren, daß sie in Wirklichkeit vom Umgang mit Lebensmitteln in einem realen Haushalt überhaupt keine Ahnung haben. Meine 84jährige Mutter, ein Kriegskind, das den Hungerjahre-Modus bis heute nicht ganz abgeschüttelt hat und deren Vermeidung von Lebensmittelverschwendung fast schon pathologische Züge hat (nach meiner ersten Lebensmittelmotteninvasion als noch sehr junge Hausfrau - ich war in heilloser Panik - riet sie mir wahrhaftig, das Mehl durchzusieben und weiterzuverwenden), würde dieses Pfund vermeidbare Abfälle übrigens deutlich überschreiten. Wer Obst aus dem eigenen Garten hat, der kann diese vermeidbaren Abfälle nämlich gar nicht vermeiden, auch dann nicht, wenn er - wie meine Mutter - im Winter täglich die eingelagerten Äpfel sichtet und alle zum alsbaldigen Verzehr herausnimmt, an denen angefaulte Stellen erkennbar sind. So kann es einem also auch passieren, daß man einen gesamten Winter lang täglich Äpfel ißt, von denen kein einziger ohne Faulstellen gewesen ist, und sich dennoch als Verschwender beschimpfen lassen muß.



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