Montag, 7. September 2020

Hämmer, Nägel, Bücherkisten und Kleiderständer

Mein Gewicht heute früh nach einem Wochenende mit opulentem Essen und zu Beginn des heutigen Fastentags: 99,5 Kilogramm. So hatte ich mir den Vorher-Wert auch in etwa gewünscht, und ein bißchen habe ich tatsächlich aufgeatmet, als meine Waage ihn angezeigt hat. Das ständige Zurückbouncen auf Werte über 100 hatte langsam angefangen, mich paranoid werden zu lassen. Dabei merke ich doch immer wieder, wie sehr ich mich körperlich verändere. Heute vormittag war ich zum Beispiel für eine kurze Erledigung außer Haus. Ich habe nach längerer Zeit mal wieder meine rote Kunstlederjacke angezogen, weil es jetzt morgens doch ein bißchen frischer geworden ist, und festgestellt, daß sie über den Sommer angefangen hat, mir etwas zu weit zu werden. Noch kann ich sie tragen, aber nächstes Frühjahr sollte ich wohl nicht mehr mit ihr rechnen.

Aber das macht nichts; neues Gewicht, neue Kleider. Irgendwann diese Woche werde ich mir mal meine Sommerklamotten vornehmen und aussortieren, was ich schon diesen Sommer etwas zu groß fand - bei der Kunstlederjacke und manchen anderen Sachen warte ich aber noch bis zum Frühjahr. Gestern hatte ich aber zum Beispiel kurz ein T-Shirt an, dessen Größe ich nicht feststellen konnte, aber es war jedenfalls viel zu groß. Als ich dann auch noch ein kleines Loch bemerkte, flog es in den Müll.

Da werde ich einiges nicht fürs nächste Jahr aufzuheben brauchen. Ich hoffe aber sehr, daß wir nächstes Jahr wieder als Hausgemeinschaft am Flohmarkt teilnehmen können, und eigentlich fände ich es nett, einen Kleiderständer mit aufzubauen. Das hatte ich jahrelang nicht mehr, weil es sich nie gelohnt hat. Ich kaufe normalerweise vergleichsweise wenig Kleidung und die, die ich habe, trage ich bekanntlich so lange, bis sie nicht mehr weiterverkaufstauglich und außerdem längst aus der Mode ist. Aber in den letzten zwei Jahren sind meine Kleidergrößen so oft nach unten gegangen, daß unter den aussortierten Sachen doch die meisten noch in gutem Zustand und aktuell genug für einen Verkauf sind. Bei eBay ist das Verkaufen zwar einfacher, aber es fehlt der Spaßfaktor eines Flohmarkts. Noch dazu, wenn ich so einen schönen Blickfang haben sollte wie diese rote Kunstlederjacke. ;-)

Der flohmarktlose Corona-Sommer dieses Jahr hatte unter anderem zur Folge, daß die Zahl der Kisten vor anderer Leute Häuser mit der Aufschrift "Zu verschenken" drastisch zugenommen hat. Ich mag diese relativ neue Sitte, die in den letzten vier, fünf Jahren um sich gegriffen hat, obwohl es auch kleinkarierte Seelen gibt, die sich von dem "unordentlichen" Anblick belästigt fühlen und darüber meckern. Trotz meiner Flohmarktambitionen stelle ich auch selbst nach dem Ausmisten solche Kisten vors Haus - voller Dinge, bei denen ich mir nicht vorstellen kann, daß ich sie an einem Flohmarktstand verkaufen werde, die aber dennoch gebrauchsfähig sind -, weil ich so einen Aber davor habe, Dinge wegzuwerfen, die vielleicht jemand anders noch gebrauchen kann, der sich darüber freut, sie kostenlos am Wegesrand aufsammeln zu können. Es hat außerdem etwas Subversives in unserer Gesellschaft, in der alles darauf zugeschnitten ist, daß irgendjemand Geld daran verdient. 

Es gibt zwar einige Möglichkeiten, Dinge übers Internet zu verschenken, aber mit denen habe ich keine sonderlich guten Erfahrungen gemacht. Es ist schon etwas Wahres an der Beobachtung, daß Dinge, die nichts kosten, behandelt werden, als wären sie nichts wert, und das überträgt sich auch auf die Leute, die diese Dinge zu verschenken versuchen, die werden dann ebenso behandelt. Das muß ich mir nicht geben. Aber das ist ja noch lange kein Grund, gebrauchsfähige Dinge in den Müll zu werfen, wenn ich sie selbst nicht mehr gebrauchen kann. Ich muß halt regelmäßig alle ein, zwei Tage nachschauen und den Müll, den irgendwelche Idioten in meine Verschenkkiste geworfen haben, entsorgen. Und was nicht spätestens nach einer Woche mitgenommen wurde, das landet am Ende dann halt doch im Müll.

Genaugenommen bilde ich mir sogar ein, daß niemand anders als meine Wenigkeit es war, die mit diesen Verschenkkisten angefangen hat. Daß ich meine erste aussortierte Kiste Bücher vors Haus gestellt habe, muß deutlich mehr als zehn Jahre her sein, und damals machte so etwas noch kein Mensch. Ich fing damit an, weil ich der Menge an Büchern in meinem Haushalt nicht mehr Herr wurde und einen Teil aussortierte, es aber für Barbarei hielt, Bücher in die Altpapiertonne zu werfen. So kam ich auf die Idee, sie vors Haus zu stellen, und tatsächlich waren sie nach zwei Tagen alle weg.

Ich habe auch keine Hemmungen, mich aus solchen Kisten vor anderen Häusern zu bedienen, wenn ich darin etwas sehe, das ich selbst noch gebrauchen kann. Besonders häufig enthalten diese Kisten auch bei anderen Leuten Bücher, und aus solchen Kisten nehme ich auch eine Art von Büchern mit, für die ich nie im Leben Geld ausgeben würde, nämlich Ratgeber zum Abnehmen. Früher, als ich noch Rat benötigt hätte, hätte ich so etwas nicht gelesen, weil ich nicht daran geglaubt hätte, daß irgendetwas in solchen Büchern mir hilft. Nun, da ich keinen Rat mehr benötige, interessiert mich, was mir alles auf diese Weise entgangen ist, das bei anderen Übergewichtigen gewissermaßen zum abnehmtechnischen Kulturgut gehört. Irgendwann finde ich auf diese Weise hoffentlich auch noch ein Buch über die berüchtigte Kohlsuppendiät und kann mich schlau machen, was für eine Theorie dahinter steckte.

Drei dieser Art von Büchern liegen in meinem Regal der ungelesenen Bücher (zusammen mit aktuell exakt 28 Büchern zu anderen Themen). Genauer gesagt, jetzt sind es nur noch zwei. Eines dieser Bücher habe ich nämlich gerade kurz überflogen, und es ist mir immerhin eine Rezension wert, die ich bezeichnen könnte: "Wie das mit dem Abnehmen bei den meisten Leuten NICHT funktioniert, Teil 147" (oder so ähnlich).

Die Rede ist dabei von Paul McKennas "Ich mach dich schlank!". McKenna ist Hyponotherapeut (nach Angaben des Verlag sogar einer der "weltweit führenden"), und das merkt man dem Aufbau seines Buches auch an mit den ständigen Wiederholungen der Grundaussagen. Die total unmotiviert an den verrücktesten Stellen dazwischengeschalteten "Testimonials" von angeblich erfolgreichen Kunden lassen mich hingegen an Werbeunterbrechungen von privaten Fernsehsendern denken. Das erste Buch von Jason Fung enthielt dergleichen allerdings auch, das war einer der Gründe, warum ich zunächst an dessen Seriosität zweifelte. Als Sahnehäubchen enthält das Buch auch noch eine CD, die anzuhören ich mir allerdings geschenkt habe, erstens, weil ich von vornherein weiß, daß ich auf Suggestionen ziemlich schlecht anspreche, und zweitens, weil es mir sowieso nichts helfen würde, wäre es anders, weil das Konzept sich nämlich als der erwartete Müll herausgestellt hat.

Die Kernthese von Paul McKenna lautet, daß Übergewicht sich durch Verhaltenssteuerung vermeiden bzw. wieder beseitigen läßt. Zentral dabei ist es, nur zu essen, wenn man Hunger hat, bestimmte Techniken anzuwenden, die dabei das Essen verlangsamen, und "emotionales Essen" zu vermeiden. Kalorien gezählt werden bei ihm nicht, Bewegung wird zwar als sinnvoll bezeichnet, aber ohne irgendwelche Sportprogramme zu empfehlen, es gibt auch keine Verbote bestimmter Lebensmittel. Er verbietet sogar geradezu, sich regelmäßig auf die Waage zu stellen. Daß man erfolgreich ist - und er behauptet, man werde unweigerlich Erfolg haben -, muß man mit subjektiven Mitteln feststellen.

Ein richtig beobachteter Faktor, den McKenna in seinem Buch aufgreift, daß Leute, die eine längere Diätkarriere hinter sich haben, praktisch pausenlos nur noch an Essen denken, was natürlich alle ihre Bemühungen um Gewichtsabnahme dramatisch erschwert. Ich könnte mir vorstellen, daß solche Leser von seinem Buch tatsächlich profitieren können, sofern die Hypnose-CD dies bei ihnen abstellen kann.

Das Problem ist hier wie bei allen Diätprogrammen: Das funktioniert, wo es funktioniert, bei den allermeisten nur vorübergehend. McKenna, das merkt man seinem ziemlich anspruchslosen Büchlein an, hat sich nicht tiefgreifender mit Ernährungswissenschaft befaßt und mit dem Thema des Buchs keine persönliche Erfahrung, nur diejenige, die er behauptet, durch seine Patienten erworben zu haben. Er scheint an etwas wie die "Weisheit des Körpers" oder irgendeinen vergleichbaren Schwurbel zu glauben. Übergewicht ist für ihn ausschließlich ein Kopfproblem. Auch die Tatsache, daß manche Leute intuitiv essen und dabei schlank bleiben, erklärt er sich im Rahmen dieses Denksystems: Wer schlank bleibt, der hat dieses Kopfproblem eben nicht.

Daß intuitiv essen und dabei nur an Essen zu denken, wenn man hungrig ist und sich nicht durch Wiegen verrückt zu machen, für sich alleine genommen aber nicht die Lösung der Probleme sein kann, dafür bin ich ja das beste Beispiel. Süßhunger, wie ihn mein Mann bis vor kurzem hatte, der leicht zwanghafte Züge hat, hatte ich nie. Ich war und bin der Meinung, daß ich mich eigentlich schon immer ziemlich normal ernährt habe. Fett geworden bin ich aber trotzdem. Ich bin zwar überzeugt davon, daß ich auf diese Weise wahrscheinlich langsamer zugenommen habe als wenn ich mich in eine dieser langwierigen Diätkarrieren gestürzt hätte, deren Folgen McKenna zu behandeln versucht, aber zugenommen habe ich eben doch, langsam, aber unaufhaltsam. 

Woran es bei McKennas Methode vor allem klemmt, ist eine falsche Prämisse. Denn das Kopfproblem kam ja bei denen, die es haben - und natürlich haben es viele - nicht aus dem Nichts, sondern von der Tatsache, daß sie Übergewicht entwickelt hatten, das sie dann nicht wieder loswerden konnten, jedenfalls nicht dauerhaft. Das aber ist kein Kopfproblem, sondern ein körperliches. Lösungen für körperliche Probleme verspricht der Autor von vornherein nicht, offenbar, weil er sie für gar nicht existent hält.

Aber McKennas Spezialität sind nun einmal Kopfprobleme bzw. das, was er selbst dafür hält - oder zu halten behauptet, denn vielleicht geht es ihm ja auch nur darum, den Markt mit den Themen zu bedienen, für die sich sichere Abnehmer finden, uns durch diese leicht verdientes Geld zu verdienen. Andere Bücher aus seiner Fabrikation heißen etwa "Ich mach dich glücklich", "Ich mach dich selbstbewußt" oder "Ich mach dich reich".

Wie heißt es so schön: "Wenn du einen Hammer hast, sieht jedes Problem wie ein Nagel aus." 

Nur, der Stoffwechsel funktioniert nach biologischen Gesetzen, die sich nicht ändern, wenn man auf der Psyche herumhämmert. Obwohl es sicherlich manchen Leuten helfen kann, wenn mithilfe dieser Hyponse zwanghafte Verhaltensweisen rund um die Frage des Essens beseitigt werden können. Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil diese zwanghaften Verhaltensweisen natürlich problemverschärfend wirken, und insofern bekommt McKenna von mir immerhin noch einen kleinen Bonus dafür, daß er dieses Teilproblem vielleicht bei manchen Leuten doch lösen kann. Daß er irgendjemanden länger als für ein Dreivierteljahr schlank gemacht hat, wage ich allerdings sehr zu bezweifeln. 

Zum Thema Reichtum sah ich heute einen Tweet von Nassim Nicholas Taleb, der meiner Meinung nach ein tauglicherer Ratschlag ist als alles, was McKenna einem in seinem Buch "Ich mach dich reich!" anhypnotisieren könnte:

Ich habe das wie eine Strichliste abgehakt und festgestellt, daß mir wahrhaftig nur ein einziger Punkt fehlt, um echten Wohlstand nach dieser Definition erlangt zu haben, und das ist die Befähigung für ein Nickerchen. Aus irgendeinem Grund ist mir die Fähigkeit, das sprichwörtliche Viertelstündchen zu schlafen und dann erfrischt wieder aufzustehen, vor ein paar Jahren verlorengegangen. Früher konnte ich das tatsächlich, bis ich einmal diese Mandelentzündung hatte, die mich mehrere Tage meines Lebens im Halbschlaf verbringen ließ. Aus unerfindlichen Gründen wache ich seitdem, wenn ich einen Mittagsschlaf halte, nicht mehr zum richtigen Zeitpunkt auf, sondern schlafe gleich ein bis zwei Stunden, und danach fühle ich mich fast immer wie gerädert. Also lasse ich das lieber gleich und bekämpfe mittägliche Schlafgelüste nur mit Kaffee. 

Dafür ist mein Nachtschlaf aber um so besser.

McKenna hat mit Nadja Hermann, zu deren Thesen seine Methode in krassem Gegensatz steht, das eine gemeinsam, daß er begeisterte und geradezu fanatisch klingende Anhänger hat. Die CD, die dem Buch beilag, habe ich mir zwar nicht angehört, aber es hat den Anschein, als hätte sie auf manche Leute tatsächlich eine gewisse hypnotische Wirkung. "Es funktioniert!", schrieb eine Amazon-Rezensentin ganz begeistert. "Schon nach dem ersten Anhören war der Süßhunger weg." Daß sie das geschrieben hat, ist allerdings schon vier Jahre her. Ich habe mal nachgesehen, was sie sonst so bei Amazon rezensiert hat und stellte fest, daß sie im Mai 2020 ein Fitnessgerät rezensiert hat, das gibt schon zu Spekulationen Anlaß, ob der Süßhunger vielleicht dauerhaft verschwunden ist, das aber doch nichts daran geändert hat, daß sie mit ihrem Gewicht weiterkämpfen muß.

Wenn ich Talebs Liste um einen zusätzlichen Punkt ergänzen sollte, würde ich wählen "Kein permanenter Kampfmodus". In manchen Situationen kommt man nicht umhin, zu kämpfen, aber wenn ich meine Gewichtsabnahme als Kampf empfinden würde, hätte ich ein Ziel definiert, das mir spätestens nach einem Jahr die Chance gegeben hätte, nicht mehr weiterkämpfen zu müssen. 


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