Mein Gewicht heute früh: 80,7 Kilogramm - etwa ein Kilo weniger als erwartet, aber das liegt daran, daß mich am Wochenende zusätzlich zum Nebenwirkungs-Peak dummerweise noch ein stinknormaler grippaler Infekt flachgelegt hat - die ganze verdammte Chemo lang bin ich so etwas entgangen, aber zum Schluß sollte es wohl doch noch sein. Meinen Mann erwischte es ebenfalls, wir haben den Sonntag einträchtig nebeneinander und die meiste Zeit schlafend im Bett verbracht. Glücklicherweise hatte sich mein Mann außerdem letzte Woche entschieden, den Superstreik-Montag frei zu nehmen, so konnte er sich einen weiteren Tag lang berappeln und war am Montag gegen Abend bereits wieder ganz munter, während ich den ganzen Montag lang halbherzig und mit mäßigem Erfolg versuchte, einen normalen Arbeitstag zu imitieren. Glücklicherweise war relativ wenig los, so daß ich den Arbeitsanfall trotzdem bewältigen konnte. Der Arztbesuch am Dienstag war dann, obwohl es da schon wieder besser geworden war, eine gewisse logistische Herausforderung, aber heute sieht die Welt trotz trübem Wetter bereits wesentlich angenehmer aus.
Weil ich am Sonntag praktisch gar nichts und am Montag sehr wenig gegessen hatte, habe ich den für Dienstag eigentlich geplanten Fastentag vorsichtshalber ausfallen lassen. Nächste Woche will ich ja Montag bis Donnerstag wieder ein langes Fastenintervall einlegen, und ich glaube nicht, daß das eine gute Idee wäre, nachdem ich eine Woche lang so wenig Nährstoffe zu mir genommen habe. Am Montag hatte ich mit 80,3 Kilogramm sogar ein unerwartetes neues Gewichtstief, und das, obwohl ich da noch in der Verstopfungsphase war und mich fühlte, als wäre mein Gedärm mit Beton ausgegossen. (Am Dienstagnachmittag nahm ich dann schließlich doch zum ersten Mal dieses Abführmittel. Es wirkte zu meiner Zufriedenheit und erfreulich schnell.)
Mein OP-Termin steht nun auch fest, es wird der Freitag in der Woche nach Ostern. Diesen Termin wollte ich insgeheim auch, aber worauf ich nicht gefaßt war, ist, daß die Woche nach Ostern nun von Dienstag an mit vorausgehenden Terminen zugepflastert wurde. Ich werde wohl doch die ganze Woche freinehmen müssen. Aber egal, je schneller ich die OP hinter mir habe, desto schneller gelange ich wieder in Richtung einer Art von Normalität, und dort will ich ja bis spätestens zum Juni endlich wieder hin.
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Ja, ich sollte mich von Professor Martin Smollich wirklich fernhalten, immerhin repräsentiert er als Ernährungsmediziner ein persönliches Feindbild von mir. Aber Twitter spült ihn mittlerweile wieder häufiger - ohne ersichtlichen Grund - in meine Timeline. Und weil sein Thema Low Carb war, interessierte mich die Studie, auf die er hinwies, dann halt doch. In ihr wurde nämlich gewarnt, daß diese Ernährungsform das Risiko von Herzerkrankungen erhöht, und das wollte ich dann doch genauer wissen.
Abgesehen davon, daß ich nichts Genaueres herausfand, weil ich gar keine Studie finden konnte. Sie scheint einstweilen noch nicht publiziert zu sein. Die Autoren berichteten lediglich bei einem Kongreß darüber und dazu gab es erstens einen Abstract und zweitens Berichte in einschlägigen englisch- und deutschsprachigen (semi-)wissenschaftlichen Portalen.
So was ist mir schon mehr als einmal aufgefallen, daß über Studien berichtet wird, die dann noch gar nicht publiziert waren - und sogar manchmal, noch irritierender, überhaupt nie publiziert wurden, wie ich feststellen mußte, als die eine oder andere davon mich so sehr interessiert hätte, daß sie mir zwei bis drei Jahre später noch einmal ins Gedächtnis kamen und ich die anfangs nicht auffindbaren Details wissen wollte. Ich erinnere mich an mindestens zwei, bei denen ich dauerhaft auf diese Details verzichten mußte, obwohl die ursprünglichen Berichte über ihren angeblichen Inhalt nach wie vor online zu finden waren. Das heißt: Es sind sogar drei, wenn ich die nach bald einem Jahr immer noch fehlenden Fünf-Jahres-Ergebnisse von Virta mit dazurechne, deren dauerhaftes Ausbleiben mir allmählich auch immer wahrscheinlicher vorkommt, was ich ganz besonders bedauere, weil dies ein schlechtes Licht auf ein Unternehmen wirft, dem ich eigentlich viel lieber auch weiterhin gewogen bleiben würde.
Das weiter oben verlinkte deutschsprachige Kardiologie-Portal berichtete über die aktuelle Low-Carb-Präsentation (bezeichnen wir sie also bis auf weiteres erst mal als das, was gerade wirklich vorliegt) recht ausführlich. 305 Teilnehmer, die sich Low Carb/High Fat ernähren (Definition: ˂ 100 g Kohlenhydrate pro Tag oder ein Kohlenhydrat-Anteil von ˂ 25% plus ein Fettanteil von > 45%) wurden dabei verglichen mit 1.220 Teilnehmern, die sich konventionell ernährten. Alle Teilnehmer wurden einer Datenbasis von ca. 64.000 Personen entnommen, die sich bereit erklärt hatten, sich zu ihrer Ernährung befragen zu lassen.
Herausgekommen sein soll bei einer immerhin elfjährigen Beobachtung dieser beiden Gruppen folgendes:
Die Low-Carb-Gruppe wies, wenig überraschend, denn das ist längst bekannt, im Schnitt höhere Cholesterinspiegel auf. Ebenso gab es in ihr doppelt so viele Fälle schwerer Hypercholesterinämie, was aber auch keine gar zu sensationelle Neuigkeit mehr ist, denn darüber, daß es solche Fälle gibt, was das bedeutet und wie man damit umgehen sollte, wurde in den letzten Jahren in der Low-Carb-Community unter dem Schlagwort "LDL hyper responders" schon lebhaft diskutiert. Neu herausgefunden worden sein soll in dieser Studie aber außerdem, daß bei den Low-Carb-Teilnehmern im Beobachtungszeitraum mehr als doppelt so häufig eine "atherosklerotische Komplikation" vorgekommen sei, nämlich fast bei einem Zehntel.
Das klingt natürlich erst mal furchterregend, aber was damit genau gemeint sein soll, bleibt einstweilen das Geheimnis der Eingeweihten. Ich habe vergeblich nach einer Definition von "atherosklerotische Komplikation" gesucht. Handelt es sich dabei nun um Auffälligkeiten, die zu Folgeerkrankungen führen können, oder bereits oder um echte Folgeerkrankungen von Atherosklerose, mit Symptomen und gesundheitlichen Folgen? Falls es doch möglich gewesen wäre, dies herauszufinden, ich bin jedenfalls daran gescheitert.
Was man ebenfalls erwähnen könnte: Ein knappes Zehntel von 305 Personen ergibt gerade mal 30 Fälle. Falls es nach den elf Jahren tatsächlich immer noch 305 Low-Carb-Teilnehmer gewesen sein sollten, was ich natürlich ebenfalls im Moment nicht weiß, aber für eher unwahrscheinlich halte, da es um die Dauerhaftigkeit von Low-Carb-Ernährung nur wenig besser bestellt ist als um die von veganer Ernährung.
Wenn ich annehme, daß - wie die Umfrage (Link folgt weiter unten) suggeriert - etwa zwei Drittel der Low-Carbler nach zwei Jahren bereits wieder abgesprungen sind und gegen jede Wahrscheinlichkeit annehmen, daß dieses letzte Drittel nun aber wirklich die ganzen elf Jahre dabeigeblieben ist, dann reden wir nur noch von ungefähr hundert Personen und nicht einmal mehr von einer kleinen zweistelligen, sondern nur noch von einer einstelligen Zahl an Fällen von "atherosklerotischen Komplikationen".
Aber, wie gesagt, über all diese Details kann man bislang sowieso nur herumspekulieren. Einstweilen sollen wir uns offenbar also erst mal nur fürchten, aber das, was für uns wichtig zu wissen wäre, doch noch nicht so genau wissen.
Was ist sonst zu dieser "Studie nur für Eingeweihte" bekannt? Alter und Geschlecht der Teilnehmer wurden adjustiert, anscheinend auch Übergewicht noch Vorerkrankungen wie Diabetes, da beides bei den Low-Carb-Teilnehmern häufiger vorgekommen sei. Das klingt erst mal solide und professionell, aber gerade das lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen Faktor, der der Beschreibung nach völlig ignoriert wurde.
Wir haben es nämlich mit einem Vergleich einer handverlesenen Gruppe - den Low-Carblern - zu tun, die mit ihrer Ernährungsform aber ganz überwiegend keine Lifestyle-Entscheidung getroffen hatte, wie uns das zwischen den Zeilen offenbar weisgemacht werden soll, sondern damit allen Erfahrungswerten nach, was Leute dazu motiviert, ihre Ernährung in Low Carb zu ändern, ein gesundheitliches Problem zu behandeln versuchte. Typischerweise dürften das Übergewicht/Adipositas und Diabetes gewesen sein, wie diese Quelle hier nahelegt:
Von 1580 Befragten (die mehrere Antwortoptionen angeben konnten), gaben 75 Prozent als einen der Gründe Gewichtsreduktion an. Wie viele Diabetespatienten ohne Übergewichtsbekämpfungsabsichten noch ergänzt werden müssen, kann man nur raten. Ich setze hiermit einen Zehner auf einen Wert von um die 90 Prozent.
Wir reden dabei außerdem vermutlich meistens von hohem Übergewicht. Low Carb ist - trotz aller Vorläufer von Atkins aufwärts - immer noch vergleichsweise neu und zudem auch relativ selten im Vergleich zu den üblichen "Weniger essen, mehr bewegen"-Ansätzen aller Art, die bei geringfügigeren Gewichtsproblemen üblich sind. Es ist eine immer noch ein wenig exotische Variante, auf die einen vor allem ein Scheitern anderer Methoden bringt. Daß unter 64.000 Teilnehmern, die bereit waren, sich zu ihrer Ernährung befragen zu lassen, nur 305 die Low-Carb-Kriterien gemäß der Studie trafen, illustriert das ja ausgezeichnet. Hätte man unter den 64.000 Befragten unter denjenigen auswählen können, die in den letzten fünf Jahren irgendeine andere Reduktionsdiät gemacht haben, wäre deren Zahl mit Sicherheit fünfstellig ausgefallen.
Eine Gruppe, die sich selbst für behandlungsbedürftig hält (und es zum großen Teil dann vermutlich tatsächlich auch ist) und aus diesem Grund, also als therapeutische Maßnahme, ihre Ernährungsweise verändert, kann man aber nicht einfach mit einem Bevölkerungsdurchschnitt vergleichen, von dem trotz der mutmaßlichen Häufigkeit von kalorienbasierten Reduktionsdiäten dennoch ein bedeutender Teil sich nur deshalb so ernährt, wie er es eben tut, weil er es halt schon immer so gegessen hat. Es handelt sich bei der Low-Carb-Gruppe ja um eine Gruppe mit einem von vornherein durch die Gruppe selbst subjektiv, aber auch nach objektiven Maßstäben höher einzuschätzenden Gesundheitsrisiko. Falls man zufälligerweise wirklich ein aussagekräftiges Ergebnis zu möglichen Gesundheitsrisiken durch Low Carb erzielen möchte, wäre der Vergleich deshalb zu denjenigen ziehen, die mit anderen Mitteln gegen ihr Übergewicht und ihren Diabetes vorgehen. Es hätten meines Erachtens deshalb mindestens drei Gruppen gebildet werden müssen - Bevölkerungsdurchschnitt, Low Carb und andere Gewichtsreduktions- bzw. Diabetesbehandlungsmethoden (bzw. zusätzlich oder alternativ: Personen mit denselben Gesundheitsproblemen, die unbehandelt geblieben sind) -, um herauszufinden, ob die Anwender von Low Carb damit im Vergleich einer tatsächlich vergleichbaren Gruppe mit ähnlichen Gesundheits-Vorbelastungen wirklich höhere Gesundheitsrisiken eingehen.
Das gilt alleine schon deshalb, weil das Adjustieren nach BMI einen wichtigen gesundheitlichen Faktor gar nicht ausdrücken kann und deshalb ein bedeutendes Gesundheitsrisiko ignoriert: Welche Gewichtsschwankungen gab es über welche Zeiträume eigentlich vor und nach Low-Carb-Beginn? Der Jojo-Effekt ist ja, um es ausnahmsweise mal wie ein Wissenschaftler auszudrücken, mit Gewichtsreduktionsversuchen "assoziiert", nicht etwa mit einer Ernährungsweise, bei der eine Gewichtsreduktion nicht das Ziel ist, und es wäre mir völlig neu, daß die Wissenschaft ihn neuerdings doch auf einmal für gesundheitsfördernd halten würde.
Da es eine Reihe anderer gesundheitlicher Probleme gibt, die dazu führen können, daß jemand seine Hoffnungen auf eine Ernährungsumstellung und dabei Low Carb setzt - von PCOS über Depressionen bis Krebs -, finde ich es außerdem verfälschend, auch solche Patienten in so eine Studie mit aufzunehmen. Sie auszuklammern fiel offenbar vor allem deshalb unter den Tisch, weil die Autoren glauben - oder jedenfalls so tun, als würden sie es glauben -, daß es sich bei Low Carb um eine bloße Ernährungsmode handle, nicht etwa um einen Faktor, der auf zuvor bestehende gesundheitliche Probleme oder Risiken hinweist.
Einen weiteren Kritikpunkt unter Vorbehalt, weil ich nicht sicher sagen kann, ob wenigstens die anfängliche Überprüfung der Ernährungsweise regelmäßig bis zum Ablauf der beobachteten elf Jahre wiederholt wurde oder mein Verdacht, dies sei nicht geschehen, sich durch die Studie selbst bestätigen würde. Denn es spricht ja, siehe weiter oben, wirklich nicht sonderlich viel für die Annahme, daß die Low-Carb-Gemeinde volle elf Jahre lang vollzählig bei ihrer Ernährung geblieben sei. Wie hoch der Anteil derjenigen mit den "atherosklerotischen Komplikationen" sein mag, bei denen dies in Wirklichkeit erst nach dem Wiederaufgeben einer Low-Carb-Ernährungsweise, unter Umständen als Folge einer erheblichen Wiederzunahme als Folge, geschehen sein könnte, kann also auch noch niemand sagen.
Was bislang über diese Studie bekannt ist, beantwortet also keine einzige der wirklich relevanten Fragen, aber ich nehme an, dieses Bild würde sich bei Kenntnis der Details kaum verändern.
Fragt sich, wozu solche Studien dann aber gut sein sollen und mit welchem Ziel sie als Grundlage für solche bierernsten Warnungen der verbrieften und gestempelten "Experten" herhalten müssen. Daß Low Carb nicht für jeden das empfehlenswerteste Mittel zur Gewichtsreduktion oder Erhalt der Gesundheit ist, ziehe ich eigentlich ja gar nicht in Zweifel, aber ebensowenig kann ja auch ein Zweifel daran bestehen, daß Low Carb bei einer deutlichen Mehrheit der Anwender bestimmte Gesundheitsrisiken erheblich besser als fast alle anderen Methoden verringert. Siehe vor allem die Ergebnisse von Virta. Bei aller Kritik, die ich an ihnen schon vorgebracht habe: Die Patienten, die fünf Jahre lang dabeigeblieben sind, könne sich im Vergleich zu anderen Diabetespatienten immer noch zu ihrer Entscheidung beglückwünschen, denn es geht ihnen gesundheitlich im Durchschnitt erheblich besser als konventionell behandelten Diabetikern. Sollte das nicht der Faktor sein, auf den es ankommt?
Genau das stört mich an dieser Studie und ihren Verbreitern, daß sie ein Beispiel für wissenschaftliche Arbeit als reines "So tun, als ob" handelt, der es auf solche Kleinigkeiten wie das Leben, die Gesundheit und das Wohlergehen der Teilnehmer insgeheim überhaupt nicht ankommt.
Nach dieser Philippika traue ich mich das kaum noch auszusprechen: Ich habe mich gestern selbst einverstanden erklärt, an einer Studie teilzunehmen, nämlich der AXSANA-Studie. Das erscheint mir ein Gebot der Fairneß. Die Behandlung, von der ich profitiere, basiert ja auf der Teilnahme anderer Patientinnen an früheren Studien, also möchte ich auch etwas an künftige Patientinnen weitergeben, auf daß es ihnen ebenfalls nützen möge. Jetzt hoffe ich halt, daß Brustkrebs ein weiterhin ausreichend im Fluß neuer Erkenntnisse befindliches Thema ist, daß einstweilen noch niemand auf den Gedanken kommt, es für sinnlose "So tun, als ob"-Vorgehensweisen zu mißbrauchen. ;-)
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In einer weiteren Studie, auf deren Volltext ich keinen Zugriff habe, wurde ermittelt, daß weltweit betrachtet mehr als ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen ein gestörtes Eßverhalten aufweist. Ich bin mir unschlüssig, ob das eine alarmistische Übertreibung ist oder vielleicht sogar im Gegenteil noch untertrieben - denn es handelt sich um eine Auswertung von insgesamt 32 Studien, aus denen aber diejenigen ausgeklammert wurden, in denen Kinder und Jugendliche mit physischen und psychischen Störungen untersucht worden waren.
Psychische Störungen sind aber immer auch stärker "eßstörungsverdächtig" bzw. Eßstörungen führen im Lauf der Zeit häufig genug zu weitergehenden psychischen Störungen. Dann gibt es ja außerdem noch den potentiellen Auslöser Antidepressiva für den Teufelskreis Gewichtszunahme - Gewichtsreduktion - gestörtes Eßverhalten. "Weltweit" glaube ich aber bezogen auf die Ergebnisse in jedem Fall nicht. Dieses Phänomen halte ich weiterhin für eines, das sich vor allem auf Industriegesellschaften bezieht, und bis zum Beweis des Gegenteils nehme ich außerdem an, daß Studien aus den USA, der Gesellschaft mit dem gestörtesten Eßverhalten überhaupt, überrepräsentiert sein werden. Für diese kranke Gesellschaft scheint mir ein Fünftel Eßstörungen unter denen, die ansonsten nach US-Maßstäben noch als psychisch gesund durchgehen können, schon ein vorstellbarer Wert zu sein.
Mein spezieller Freund, das BZfE, hat freundlicherweise näher erklärt, wie das Ergebnis ermittelt wurde: Genutzt wurde der "sogenannte SCOFF-Fragebogen, mit dem sich psychogene Essstörungen im Kinder- und Jugendalter frühzeitig erkennen lassen. Er besteht aus fünf Fragen, die auf typische Symptome eines gestörten Essverhaltens abzielen – etwa „Findest du dich zu dick, während andere dich zu dünn finden?“ und „Übergibst du dich, wenn du dich unangenehm voll fühlst?“.
Was sagt es über unsere Gesellschaften eigentlich aus, wenn mehr als ein Fünftel der nicht als psychisch krank diagnostizierten Sechs- (!) bis 18jährigen auf Fragen dieser Art Antworten gibt, die auf gestörtes Eßverhalten hinweisen? Und was habe ich davon zu halten, wenn das BZfE in seinem Bericht den Eindruck erweckt, hier gehe es nicht um ein strukturelles gesellschaftliches, sondern um Lebensphasenprobleme Heranwachsender? Das hat schon zu meiner Zeit nicht gestimmt, als der Diätwahn im Alter von ca. 13 Jahren - und fast ausschließlich bei Mädchen - einsetzte. Das kam klar von außen, durch diese poppig-bunten AOK-Kalorientabellen, durch die alljährlich neu bejubelte Brigitte-Diät, durch die Macht der omnipräsenten Abbildungen von überschlanken Models (oh ja, das ist kein neues Phänomen, das waren ja die Zeiten des Minirocks und von Twiggy). Diät zu halten gehörte zum guten Ton, auch in meiner Schulklasse.
Eine spätere Entwicklung ist es aber, daß sich das Alter, in dem das einsetzt, immer weiter nach unten verschoben hat. Und nein, daran sind nicht die bösen sozialen Medien schuld, jedenfalls nicht alleine. Das habe ich nämlich schon Anfang der neunziger Jahre kommen sehen, und dafür mache ich den Lehrplan der Grundschulen mitverantwortlich.
Ich war ja als Elternteil eigentlich für Lehrer immer ziemlich pflegeleicht. Aber als mein Sohn in Klasse 2 - als das mit der Ernährungserziehung gerade losgegangen war - einmal von der Schule heimkam und mir sagte: "Ich habe gerade noch Normalgewicht" (und das klang wie "Ich habe gerade noch eine vier minus bekommen"), habe ich mir einen Termin bei der Klassenlehrerin besorgt, um sie zu fragen, ob es ihrer Meinung nach wirklich nottäte, schon bei Kindern dieses Alters ein gestörtes Körperbild zu erzeugen. Was die Lehrerin dachte, als ich die Frage stellte, weiß ich nicht. Sie macht ein angemessen betroffenes Gesicht, aber das hatte erkennbar gar nichts mit dem Inhalt meiner Frage zu tun, sondern sollte wohl so was ähnliches wie empathisches Einfühlungsvermögen (oder wie auch immer man das damals in den Lehramtstudiengängen bezeichnet haben mag) zum Ausdruck bringen. Ich wäre auch nicht sonderlich überrascht, falls sie außerdem gedacht haben sollte: "Na, dieses Nilpferd hat's gerade nötig mit ihren mindestens 90 Kilo". Wie auch immer, meine Botschaft konnte ich anbringen, aber sie lief wirkungslos an ihr herunter, und klar, daß das passieren würde, hatte ich ja vorher schon gewußt, ich wollte es bloß nicht ohne jede Gegenrede hinnehmen, daß die das Ego meines unschuldigen Kindes auf diese Weise anrempeln.
Mir war und ist außerdem klar, daß die Lehrerin sowieso nichts dagegen hätte tun können: Das Körpergewicht und die Gesundheit, das war ja Bestandteil des Lehrplans.
Der Fehler, der mit zu immer früheren Anzeichen gestörten Eßverhaltens bei Kindern beigetragen hat, steckt also schon mindestens seit den frühen Neunzigern direkt im Lehrplan, der ja eigentlich dazu gedacht ist, in Kindern Gesundheitsbewußtsein und Freude an gesunder Ernährung zu wecken, ein Ziel, gegen das ich um Gottes willen auch nie etwas einzuwenden hatte. Meine Kritik hatte schon damals vor allem damit zu tun, daß ich von vornherein nicht daran glaubte, daß die Mittel die richtigen seien, um dieses Ziel zu erreichen. Mittlerweile wird die Ernährung ja außerdem noch mit allen möglichen weiteren moralisch begründeten Forderungen überfrachtet, von der angeblichen Lebensmittelverschwendung über das Tierwohl bis zum Klimawandel. Und Kinder sind nun einmal moralisch immer viel rigoroser als Erwachsene - Greta Thunberg kann es bezeugen. Mit seinem Eßverhalten soll man andauernd die Welt retten, und umgekehrt weckt jede Krankheit den Verdacht, sich "ungesund" ernährt und sie dadurch selbst verschuldet zu haben. Kinder müssen die Welt aber nicht retten, und sie sollten außerdem ihr Essen genießen dürfen.
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Apropos Weltrettung: Erinnert sich noch irgendwer an meine Prophezeiungen zu der Wirkung und den Nebenwirkungen von Putins abgedehtem Gashahn? Nun: Sie scheinen einzutreffen:
Die Energiewende und die digitale Kommunikation waren im vergangenen Jahr die größten Innovationstreiber. Das spiegelt sich in der Patentstatistik wider, wie das Europäische Patentamt (EPA) mitteilte. Insgesamt stieg die Zahl der Patentanmeldungen bei der Behörde mit Sitz in München im vergangenen Jahr um 2,5 Prozent auf einen Rekordwert von 193.460.Vor allem für saubere Energietechnik und andere Verfahren zur Erzeugung, Verteilung und Speicherung von Strom würden mehr Anträge auf Patentschutz eingereicht, sagte EPA-Präsident Antonio Campinos. "Der anhaltende Aufschwung auf diesem Gebiet trägt dazu bei, die Energiewende voranzubringen." Den größten Zuwachs in diesem Bereich gab es bei der Batterietechnik, die mit einem Plus von 48 Prozent einen regelrechten Boom erlebte, berichtete das EPA.
Wir sind es so gewöhnt, alles in moralischen Kategorien zu denken, daß wir immer glauben, man müsse sich selbst mit dem Hammer auf die Hand hauen, damit eine Weltenrettungsmaßnahme auch sicher wirkt. Und wenn das dann nicht auch ordentlich wehtut, dann gilt es sowieso nicht. Aber (Selbst-)Bestrafungsphantasien à la Klaus Müller wirken tatsächlich viel schlechter als schierer unternehmerischer Eigennutz, wie etwa himmelhoch kletternde Energiekosten, die man eigentlich lieber nicht bezahlen müssen möchte. Welchen besseren Anreiz für ein Unternehmen könnte es geben, als wenn die Entwicklung solcher Technologien sich aufgrund geänderter äußerer Umstände auf einmal als die kostengünstigste der zur Verfügung stehenden Optionen erweist und plötzlich die Entwickler diesen Bereich viel spannender finden, als jede Klimadebatte ihn zuvor jemals erscheinen lassen hat?
Ich würde ja lachen, falls sich eines Tages in der Rückschau herausstellen sollte, daß ausgerechnet der olle Putin versehentlich die Welt und das Klima gerettet hat - was er ganz bestimmt so nie beabsichtigt hatte, weshalb ihm das ganz recht geschehen würde.
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