Dienstag, 7. März 2023

Toxische Wissenschaftskommunikation

Mein Gewicht heute nach dem ersten von drei nicht zusammenhängenden Fastentagen diese Woche, eine Woche nach der dritten Chemo-Sitzung: 82,1 Kilogramm. Mein viertniedrigstes Gewicht überhaupt, und das nach nur einem Fastentag. Aber dafür gibt es natürlich einen Grund, und der lautet: Irgendwie lief es mit meiner Verdauung diesmal ein wenig merkwürdig, und das führte dazu, daß ich seit Freitag mit einem höheren Gewicht als erwartet herumgelaufen bin. Das jetzige ist dafür niedriger als erwartet, aber das wird sich wohl bis zu Beginn des nächsten langen Fastenintervalls wieder relativiert haben. Spannend bleibt die Frage, bis wohin es sich relativieren wird. Kann das wirklich möglich werden, daß ich ein drittes Mal zwei Kilogramm unter dem Startgewicht drei Wochen davor liegen werde? Das wäre ein Gewicht von weniger als 85 Kilogramm, und es sieht plötzlich gar nicht mehr so unrealistisch damit aus.

Gestern nachmittag lag den ganzen Tag die Packung mit dem Abführmittel auf meinem Schreibtisch, und ich habe sie immer wieder zur Hand genommen, auch einmal die Packungsbeilage durchgelesen, mich aber am Ende nicht dazu entschließen können, es zu nehmen. Wie sich zeigte, war das die richtige Entscheidung, denn heute morgen löste sich die Verstopfung dann doch von alleine und sogar ohne nennenswerte Beschwerden schon vor dem ersten Schluck Kaffee. Alles, was ich brauchte, war ein bißchen Zeit. Danach spülte ich gefühlte zwei Kilo Darminhalt in die Kanalisation und stellte später fest, daß die Waage das losgewordene Zusatzgewicht offenbar ganz ähnlich eingeschätzt hatte, denn eigentlich hatte ich für heute morgen eher mit einem Gewicht von um die 83 Kilogramm gerechnet. 

Die Chemo-Wirkung:

Das Wochenende war diesmal näher am Erlebnis nach dem ersten TCHP-Zyklus als am zweiten, ich war zwei Tage lang deutlich beeinträchtigt, allerdings minus den Batteriesäure-Geschmack des Kaffees, was ja schon mal eine deutliche Verbesserung ist, und habe das Wochenende ohne allzuviel Widerstand überwiegend auf dem Sofa verbracht. Am Montag fühlte ich mich morgens noch ein bißchen wackelig auf den Beinen, aber durchaus arbeitsfähig und im Kopf klar - also alles im Rahmen dessen, was zu erwarten war, und daß es wieder so viel besser laufen würde als beim ersten Mal, konnte ich ja kaum verlangen, obwohl es mir natürlich lieber gewesen wäre. Im Laufe des Tages wurde es dann, wie bei den letzten Malen, auch immer besser, nur war ich immer noch gräßlich verstopft. Diesen Punkt kann ich jetzt also auch abhaken, also, alles wieder im grünen Bereich. Jetzt muß ich bloß noch die kleine Durchfallphase hinter mich bringen, aber die belastet mich ja nicht sonderlich. Heute hat sie mich allerdings um ein Haar daran gehindert, wie immer am Dienstag zur Blutabnahme zu fahren, denn ich mußte, als ich schon das halbe Treppenhaus runter war, notfallmäßig wieder nach oben, und danach dauerte es ganz schön, bis ich soweit war, einen zweiten Versuch zu unternehmen. Aber das war halt Pech beim Timing. 

Mal sehen, was die letzte Chemo mir am darauffolgenden Wochenende bringen wird. Was auch immer es sein mag, danach kommt ja immerhin auch keine weitere mehr, also soll es halt werden, wie es eben wird. Heute in 14 Tagen findet sie bereits statt, die letzte Chemo. Kurios, daß bei mir schon am Tag nach der letzten Chemo das Zählwerk ansprang und mir gleich morgens verkündete "Noch zwanzig Tage bis zur letzten Chemo", denn vorher hatte ich über solche Zählspielchen gar nicht nachgedacht, das wurde irgendwie von alleine in mir ausgelöst. 

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Die Expertenwelt nervt schon seit Tagen mit den üblichen sinnlosen "Wer ist schuld?"-Beiträgen zum "World Obesity Day", also Weltadipositastag, in denen natürlich wieder die komplette langweilige und falsche Sammlung vermeintlicher Erklärungen von "Energieüberschuß" über "Gene" bis hin zu "Es ist kompliziert" vertreten ist. Ich verlinke hier außerdem mal einen Bericht aus der "Zeit", der diese Thematik in einem Bericht über die zu erwartenden Krebsfälle mit einbaute und sie natürlich mit einem höheren Krebsrisiko in Verbindung brachte. Der Link diesmal aber nicht wegen der Experten, sondern weil ich es so bezeichnend fand, wie "Vox populi" im Kommentarbereich unter dem Artikel dann wiedergegeben hat, wie der typische Leser-Kommentator solche Dinge versteht. 

Exemplarisch ein Kommentar (als Antwort auf ein Zitat aus einem anderen Leserkommentar) über die Rolle von Adipositas bei der Krebsentstehung:

 "Deshalb sind Fat-Acceptance-Movements so toxisch"
Richtig. Allerdings sind die Protagonisten und Galionsfiguren (Beispiel R. Lang) oft jung und deshalb noch nicht betroffen von den Spätfolgen. Da wird sich später manch einer(r) sagen: "Ach hätte ich doch..."

Man weiß überhaupt nicht, wo anfangen, auf so vielen Ebenen sind solche Äußerungen falsch, diese besonders widerliche Mischung aus selbstgefälliger Grenzdebilität, dünkelhafter Selbstgerechtigkeit und Unwissenheit in der Sache. Menschen dieses Schlages tauchen erwartbar immer dann in Debatten auf, wenn es um sogenannte selbstverschuldete Krankheiten geht, denn sie sind überzeugt davon, daß sie hingegen alles richtig machen ... bis sie mit einer solchen Krankheit dann selbst erwischt hat und alles auf einmal doch nicht mehr wahr sein soll. Denn an ihrer Krankheit selbst schuld sind natürlich immer nur die anderen.

Die toxische Wirkung, um den Begriff aus dem Zitat mal aufzugreifen, geht in Wirklichkeit von Wissenschaftskommunikation auf real existierende Nachrichtenkonsumenten aus, wie sie in solchen Beiträgen sichtbar wird, und das beobachte ich schon seit mindestens zwei Jahrzehnten. Was die Leute von der Expertenfront überhaupt mit ihren Einlassungen bezwecken, deren Wirkung sie ja in solchen Kommentarbereichen problemlos beobachten können, bringt mich deshalb manchmal echt ins Grübeln. Denn falls ihnen das auch nicht gefallen sollte, wo bleibt dann eigentlich die Debatte darüber, wie man kommunizieren müßte, damit es bei uns "Normalos" auf andere Weise ankommt? Oder wollen die das vielleicht doch genau so haben? Macht man sich also als hoffnungsvoller Laie, der ein zu lösendes Problem hat, bloß Illusionen, wenn man bei Experten den Wunsch nach funktionierenden Lösungen voraussetzt? Indem man die Gesunden absichtlich oder fahrlässig dazu bringt, die Kranken dafür zu verachten, weil sie Sünder sein müssen, da sie sonst nicht krank geworden sein könnten, befördert man immerhin Krankheitsvorstellungen aus vorwissenschaftlichen Zeiten.

Zu Ricarda Lang, die in dem Zitat aus der Zeit erwähnt wurde, und was ich zu ihrem Fat-Acceptance-Bekenntnis meine, habe ich übrigens schon mal einen Blogartikel geschrieben. Dasselbe gilt für die betreffende Bewegung selbst in einem anderen Blogbeitrag.

Am Weltadipositastag stellte ich jedenfalls befriedigt fest, daß ich mich mit BMI 28,7 gerade wieder einmal, und noch dazu heute früh sogar recht weit, südlich des Adipositas-Äquators befinde und außerdem davon ausgehen kann, daß es nur noch eine Frage von Monaten ist, bis ich mich dauerhaft dort aufhalten werde. Also können mich in dieser Frage sowieso alle Experten einfach mal kreuzweise. Hätte ich mich an deren fromme Märchen gehalten, stünde ich immer noch bei BMI 50+.

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Die Gesundheitspolitik - sowie hinter ihnen ihr üblicher Kometenschweif an Leuten mit einer Meinung, teils mit, teils ohne Expertenstatus -  irritiert mich außerdem gerade mit einer Debatte über eine Regulierung der Werbung für sogenannte ungesunde Lebensmittel, die sich an Kinder richtet. So ein Fan von Werbung, der Werbebranche sowie der Strategen, die solche Produkte entwickeln und herstellen, bin ich zwar auch wieder nicht, daß die mir jetzt deswegen leid täten. Ich habe mit Minister Özdemirs Plänen bloß das Problem, daß ich sie für eine typische voraussichtlich wirkungslose "So tun, als ob"-Maßnahme halte.

Kinder essen nämlich definitiv keine ungesunden Produkte, weil sie zu viel Werbung dafür sehen. Falls sie für solche Produkte überhaupt keine Werbung zu sehen bekommen würden, dann würden sie trotzdem genau dieselbe Art von Produkten essen wollen, nur täte es dann wahrscheinlich auch die preisgünstige Hausmarke des jeweils nächstliegenden Discounters anstelle des für teuer Geld beworbenen Markenartikels. Was genau soll daran dann aber gesünder sein?

Aus der Gegenrichtung betrachtet: Kinder essen meines Erachtens ein Produkt nicht, obwohl sie tagtäglich mit Werbung dafür zugeschüttet werden, falls es ihnen nicht geschmeckt hat. Daß sie es nach dem ersten Mal möglicherweise noch ein paar Mal kaufen, kann passieren und das wäre dann ein tatsächlich meßbarer Effekt der Werbung, aber besonders weit reicht deren Macht in so einem Fall nicht. Kein Kind ist bescheuert genug, Dinge, die ihm gar nicht schmecken, trotzdem ständig essen zu wollen, auch dann nicht wenn sie ungesund sind und sie täglich zehn Werbespots darüber sehen. Wer etwas anderes behauptet, der dämonisiert die Wirkung von Werbung auf Kinder, anstatt nach Problemlösungen zu suchen.

Mir ist das als Kind selbst einmal passiert, und zwar mit dem "Yes-Torty". Und ja, ich habe es damals unter dem Eindruck der Werbung einige Zeit später tatsächlich noch ein zweites Mal probiert, weil es mir einfach nicht in den Schädel wollte, daß das, was ich da gegessen und überhaupt nicht gemocht hatte, wirklich dasselbe wie aus der Werbung gewesen sein sollte, das so lecker aussah, daß mir beim Werbespot trotzdem jedes Mal das Wasser im Mund zusammenlief. Ich kann also bestätigen, daß Werbung Kindern tatsächlich das Hirn verkleben kann ... aber ebenso, daß das eigene Geschmacksempfinden am Ende unweigerlich gewinnen wird, nicht etwa die fiese Werbemanipulation. Denn einen dritten Versuch habe ich dann nicht mehr gemacht. 

Das Kuriose dabei: Bei Erwachsenen zeigen Werbestrategien weitaus häufiger und für längere Zeit eine die Kaufentscheidungen beeinflussende Wirkung als bei Kindern. Erwachsene haben ja längst gelernt, daß es beim Essen gar nicht darum geht, daß es ihnen schmecken soll. Wer einmal verinnerlicht hat, daß er gefälligst gesunde Sachen essen soll und dies als richtig akzeptiert hat, für den ist ein besonders guter Geschmack sogar eher ein bißchen verdächtig. Klar werden auch solche Sachen gekauft, aber mit schlechtem Gewissen, das dann wieder Käufe auslösen kann, die eher als Bußübung dienen. 

Hier haben die Lebensmittelkonzerne ihre eigentliche Zielgruppe: Leute mit chronisch schlechtem Gewissen auf der Suche nach einem Kompromiß zwischen dem Geschmack, den sie eigentlich am liebsten hätten, und dem durch gewisse Abstriche daran erkauften guten Gewissen, weil sie ja etwas angeblich Gesundes gekauft haben, wie ihnen mit riesigen Werbebudgets ja via Werbung pausenlos eingehämmert wird. Solche Erwachsenen kaufen übrigens auch das Essen, das sie ihren Kindern täglich auf den Tisch stellen. Und bis ihre Kinder im Taschengeldalter angelangt sind, kaufen sie ihnen übrigens auch das Zeug, das die Kinder bislang in der Werbung zu sehen bekommen und nach Meinung des Herrn Ministers deshalb unbedingt haben wollen. Kann es dann sogar so sein, daß es ohnehin sinnlos ist, ausgerechnet bei den Kindern selbst anzusetzen?

Hier die Begründung aus Özdemirs Ministerium der Wichtigkeit und Richtigkeit der geplanten Maßnahme. Nichts von dem, was da steht, ist im eigentlichen Sinne falsch. Es ist nur nicht relevant. Das Tragische daran ist, daß niemand die Relevanz überhaupt in Frage zu stellen scheint und deshalb darüber nicht einmal eine Debatte stattfindet.

Die wichtigere Frage wäre meiner Meinung nach, was eigentlich die Ernährungspräferenzen von Kindern prägt, und da werden, vermute ich, mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Manches bestimmt genetisch gesteuert, denn für mich kann ich bestätigen, daß ich morgens noch nie Süßhunger hatte, und zwar obwohl meine Mutter mir jahrelang selbstverständlich zum Frühstück ein Marmeladenbrot geschmiert hat und ich es, da ich ja gar nichts anderes kannte, auch aufgegessen habe. Nur endete das exakt in dem Moment, in dem ich selbst auswählen konnte, was ich morgens tatsächlich essen wollte, denn ab da gab es für mich grundsätzlich nur noch Wurst- oder Käsebrot, weil mir das viel besser schmeckte. Mamas mit so viel Liebe gekochte Marmelade aus Erdbeeren oder Zwetschgen aus dem eigenen Garten - für die sonst die gesamte Familie schwärmt - habe ich nie wieder angerührt, wenn ich ein Brot bestreichen wollte. Und das, obwohl ich deswegen sogar ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich das Gefühl hatte, meiner Mutter damit irgendwie Unrecht zu tun.

Andere Ernährungsvorlieben und -abneigungen bemerkte ich erst, als ich aus meinem Elternhaus wegzog. Denn fast alles von diesem Zeug aus der Werbung, mit der ich als Kind ja genauso zugeschüttet worden bin wie andere Kinder auch, gab es bei mir im Elternhaus nie, weder Miracoli noch Erasco, Uncle Ben's Reis, Iglo Fischstäbchen oder Maggi-Ravioli, von Fertigpizza ganz zu schweigen. Bei uns wurde noch nach alter Mütter Sitte gekocht, sowohl von Mutter und Oma wie auch von Vater und Opa, der letztere kam aus dem serbisch-ungarischen Grenzgebiet und wie er würzte, hätte mindestens ein Verbot für den Konsum durch unter 18jährige verdient gehabt, wenn es nicht gleich waffenscheinpflichtig hätte sein müssen.

Salat, Gemüse, Kartoffeln, Obst - all das kam zu 90 Prozent aus dem eigenen Garten. Das Mehl wurde sackweise in der Mühle gekauft, die Milch holte ich noch bis zum Beginn der Grundschulzeit in der Milchkanne beim Bauern, Eier bekam man dort auch, mein Vater angelte und es gab bei uns deshalb auch häufig Fisch. Ansonsten kaufte man beim Bäcker, beim Metzger, auf dem Wochenmarkt ... nur ein kleiner Bruchteil von dem, was wir gegessen haben, stammte aus dem Großeinkauf im Supermarkt, den es alle zwei bis drei Wochen auch noch gab, also aus der Produktion von Lebensmittelkonzernen. Selbstverständlich habe ich aber all diese in den Werbespots immer so verlockend wirkenden zivilisatorischen Errungenschaften aus der Hochglanzwelt der Werbung dann sofort nach meinem Auszug der Reihe nach durchprobiert. Nur, fast nichts davon schmeckte mir. Es gab ein paar Ausnahmen, aber sehr wenige. Vor allem die Art, wie es gewürzt war, fand ich teils langweilig, teils geradezu widerlich. Also hörte ich auch damit auf, diese Dinge zu essen, Werbung hin oder her. In dieser Hinsicht habe ich einen Vorteil vor anderen Erwachsenen gehabt: Ich habe nie damit aufgehört, darauf zu bestehen, daß Essen mir vor allem schmecken soll. Das hat mich dem Zugriff verlogener Werbestrategien, die auf das Gesundheitsbewußtsein der Konsumenten abzielten, mein Leben lang entzogen.

Mich würde aber mal interessieren, ob mir dieser Fertigfraß vielleicht doch geschmeckt hätte, falls ich ihn daheim immer zu essen bekommen hätte - so, wie das heute in vielen Familien zu passieren scheint. Ich vermute nämlich stark, DAS ist das eigentliche Ernährungsproblem, das gerade auf die künftigen Kinder der jetzigen Kindergeneration zurollt: ein Aufwachsen in Familien, in denen das Kochen und Backen schon eine Generation davor immer seltener oder sogar ganz unüblich geworden ist. Wieviele Familien ernähren sich mittlerweile vorwiegend von Fertiggerichten, ihre Kinder kennen diesen Geschmack halt als "den Geschmack von Essen" und ekeln sich vielleicht sogar vor dem Geschmack selbstgekochten Essens, weil er eben anders ist, als sie es gewohnt sind?

Soviel steht fest: Werbeverbote werden dieses Problem keinesfalls lösen können. Was aber, wenn es sich als vielleicht nicht das einzige, aber eben im Vergleich zur Werbung weitaus schwerwiegendere herausstellt?

Ungeachtet dessen bin ich natürlich nicht der Meinung, daß Produktwerbung unter Denkmalschutz gestellt werden sollte, nur leuchtet mir dieses Bashing bestimmter, je nach jeweiligem Zeitgeist handverlesener "Sünderbranchen" nicht ein, die sich beim Werben natürlich nur genauso verhalten haben wie alle anderen Branchen auch. Werbung zielt grundsätzlich darauf ab, uns zu Kaufentscheidungen zu bringen, die wir andernfalls nicht getroffen hätten, und ob diese Kaufentscheidung für uns selbst gut oder schlecht ist, interessiert dabei niemanden. Selbstverständlich finden die Werber wie auch ihre Auftraggeber das dabei verdiente Geld auch dann super, wenn wir ohne die Werbung etwas viel Vernünftigeres mit diesem Geld angefangen hätten. Kinder sind außerdem die Zielgruppe für Werbespots für zahlreiche Produkte, die gar nichts mit Ernährung zu tun haben, auch für solche, bei denen sie ihre Eltern bei Kaufentscheidungen (etwa für eine bestimmte Automarke) mitbeeinflussen sollen, werden also in diesen Bereichen auf die vom BMEL beschriebene Weise weiter manipuliert, ohne daß irgendwer etwas dabei zu finden scheint. Bis eines Tages irgendein Schlaukopf in der Politik einmal auf die Idee kommt, daß dies dazu instrumentalisiert werden kann, eine Kampagne zu irgendeinem kleinteiligen Teilthema anzuzetteln, damit sich die Branche möglichst schlecht dagegen wehren kann. Auf Verlogenheit beim Einsatz von Werbestrategien hat die Werbebranche nämlich kein Monopol.

Werbung ist an und für sich mit mehr Problemen als Vorzügen behaftet, aber abgeschafft werden kann sie natürlich nicht, obwohl ich mir eine Welt ohne Werbeplakate, Radiowerbespots und Onlinewerbung himmlisch vorstellen würde. Denn in jedem Fall suchen sich die Hersteller, die etwas möglichst gewinnbringend verkaufen wollen, dann irgendwelche eben verdeckteren Mittel und Wege, um ihren Kram unter die Leute zu bringen. Es gibt ja keine gesetzliche Regulierung, die nicht per se in ihren Randbereichen eine Grauzone von irgendwie nicht mehr so ganz korrekten, aber auch noch nicht so richtig verbotenen Mitteln erzeugen würde - das liegt in der Natur der Sache. Andererseits halte ich es aber für genauso ausgeschlossen, daß wir Schaden durch Werbung besonders wirksam verringern können, wenn wir uns möglichst kleinteilig bestimmte Teilbranchen aussuchen und sie mit Fokus auf eine ganz bestimmte Teilursache und deren Wirkungen anders regulieren als den Rest: Je kleinteiliger die Regulierung, desto mehr Schlupflöcher entstehen in der erwähnten Grauzone. Ein "Plain Packaging" analog zu dem, was für Tabakwaren in Teilen der Welt bereits gilt, ist vom Herrn Minister ja zum Beispiel (noch) nicht geplant, wer soll also die Hersteller daran hindern, die "lustigen" und "kindgerechten" Verpackungen und andere Reize nicht einfach im Supermarktregal auf die Kinder einwirken zu lassen? 

Und, nein, das war gerade KEINE Empfehlung, Plain Packaging für sogenannte ungesunde Lebensmittel einzuführen. Werbung ist nämlich außerdem nur ein Folgeproblem: Bevor sie irgendwelche Wirkung oder Nichtwirkung hat, muß ja erst einmal die Entwicklung und Markteinführung eines "ungesunden Lebensmittels" erfolgt sein. Nicht, daß ich mir aber allzuviel davon verspräche, würde man nun an dieser Stelle mit der Regulierung ansetzen, denn in diesem Fall haben wir sofort ein neues, genauso schlimmes Problem: Die Kriterien zur Einstufung von Lebensmitteln als gesund oder ungesund taugen ja sowieso nicht dazu, jemanden gesünder zu machen. Das gilt meines Erachtens aktuell immer noch für alle Konzepte, die konventionellen wie die der Außenseiter. Das macht Bemühungen, aus der Industrienahrung die ungesunden Komponenten auf dem Weg der Regulierung auszutreiben (was ich sowieso schon für einen Widerspruch in sich halte), um  auf diese Weise mehr Gesundheit zu schaffen, dann vollends zu einer Art schlechtem Witz.  

Neulich hat bei Twitter ein Wissenschaftler darüber aufgeklärt, daß ein industrielles Vollkornbrot gesund und eine hausgemachte Sahnetorte ungesund sei, und das ist Teil dieses schlechten Witzes. Wenn man nämlich überhaupt ein Kriterium für zumindest mal besseres und schlechteres Essen finden will, dann landet man beim Industriefraß immer bei möglichst billigen, aber beim Selbstgemachten tendenziell bei höherwertigen Zutaten. Das mag noch kein Maßstab für gesund oder ungesund sein, aber für Genuß beim Essen allemal. Eine hausgemachte Torte enthält nur die Zutaten, die man wissentlich verwendet hat, und hält sich drei bis allerhöchstens vier Tage, das abgepackte Vollkornbrot bei Lidl kann man deshalb sehr viel länger aufbewahren, sofern man die Packung nicht öffnet, weil alles mögliche Zeug mitenthalten ist, von dem man als Käufer teils gar nicht erfahren muß, daß es drin ist. Ungesund muß nichts auf der geschriebenen und ungeschriebenen Zutatenliste zwangsläufig sein, aber jeder Bestandteil, der in einem vergleichbaren frisch zubereiteten Produkt, wie es seit Jahrhunderten gegessen wird, von vornherein nicht enthalten wäre, erhöht halt doch das Potential, daß man damit etwas zu sich nimmt, was einem nicht guttun wird.

Am vielversprechendsten finde ich immer noch die Möglichkeit, Industrienahrung, anstatt auf die Weisheit derjenigen zu vertrauen, die sie zu regulieren versuchen, einfach nicht zu verwenden. Faustregel: Kaufe nur Lebensmittel, die deine Großmutter auch schon als Lebensmittel erkannt hätte. Das kann jeder für sich selbst entscheiden, dafür braucht man keinen Minister, der einem das vorgibt. Über die unheilvolle Wirkung von Werbung braucht man sich dann auch keine Gedanken mehr zu machen und der Herr Minister Özdemir hätte viel Zeit gewonnen, um sich vielleicht ja auch mal ein paar Gedanken darüber zu machen, wie eigentlich so ein Lebensmittelkonzern, sagen wir: Nestle, an die Ausgangsprodukte für seine Industrienahrung kommt, nach welchen Kriterien sie eingekauft und woher sie bezogen werden, wie sich das Ergebnis von einem vergleichbaren hausgemachten Produkt unterscheidet und ob das möglicherweise nicht nur den einen oder anderen Gesundheitsaspekt haben könnte, sondern auch ein paar andere wenig erstrebenswerte Seiten, beginnend mit großflächiger Monokulturerzeugung samt allen damit verbundenen bedenklichen Aspekten und mit den übermäßig langen Transportwegen, vor allem, wenn man die für Grundstoffe und diverse Zwischenprodukte zusammenrechnet, noch längst nicht endend.

Apropos hausgemachte Torten: Das da war der fruchtige Käsekuchen, den ich selbst nicht fotografiert hatte, weil mein Mann unbedingt sein neues Smartphone ausprobieren wollte, und von dem er mir dann ewig die Fotos schuldig geblieben ist:



Er war weder von Dr. Oetker noch von Coppenrath & Wiese, sondern von mir, enthielt ungefähr eine Milliarde Kalorie und schmeckte zum Abheben gut. Wer bei so was nach "gesund" oder "ungesund"  fragt, der macht meiner Meinung nach sowieso etwas Grundsätzliches falsch.



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