Samstag, 17. Dezember 2022

Immunsystem im Bud-Spencer-Modus

Mein Gewicht heute früh: 89,7 Kilogramm. 

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Und das ist noch gar nichts, denn übers letzte Wochenende hatte ich, beginnend mit Freitag, vorübergehend sogar mehr als 90 Kilogramm, und damit hätte ich nun wirklich nie im Leben gerechnet.  Das Gewichtsmaximum mit 90,6 Kilogramm war am Freitag und danach wurde es jeden Tag ein bißchen weniger, sank auf ein Minimum von 89,2 und pendelte sich dann bei um die 89,6 und 89,7 Kilogramm ein. 

Offenbar hatte da irgendein Sondereffekt zu Buche geschlagen, obwohl ich nicht so recht weiß, was das gewesen sein soll: Krank war ich nicht. Die Chemo und das Dexa können es am Tag 14 des Zyklus kaum noch sein. Vielleicht doch immer noch die Stoffwechselumstellung von Low Carb auf normal? Oder ist mir doch lediglich das passiert, was mir auch in den letzten Jahren im Winter jedes Mal passiert wäre, wenn ich nicht regelmäßig gefastet hätte? Immerhin handelt es sich ja um die Jahreszeit, in der ich bislang auch mit Fasten mehr als Gewichthalten nie zustandebekommen habe.

Wie auch immer, mein Gewicht liegt heute ungefähr zwei Kilo höher, als ich es post Low Carb eigentlich erwartet hatte, und das, nachdem Low Carb ohne Fasten (außer alle drei Wochen die vier Tage um die Chemo herum) sechs Wochen lang problemloses Gewichthalten auf dem Low-Carb-Level - das ein bis zwei kg niedriger liegt) ergeben hatte. Natürlich standen mir letztes Wochenende erst einmal die Haare zu Berge. Aber jetzt will ich es genauer wissen: Steigt mein Gewicht im Anschluß an das letzte viertägige Chemo-Fastenintervall - vom 20.12. bis zum 23.12. - bis zum Ende der ersten Januarwoche noch weiter an, oder kann ich nun damit rechnen, daß es in etwa gleich bleibt, bis ich ab der zweiten Januarwoche wieder mit Low Carb anfange?

Das interessiert mich jetzt auch deshalb, weil es für künftige Winter nützlich zu wissen sein wird, also nehme ich, falls es so kommen sollten, die weitere Gewichtszunahme eben in Kauf. 

Intervallfasten nach meinem sonst üblichen Muster kommt im Moment für mich noch nicht in Frage. So lange ich mir noch kein Urteil darüber bilden konnte, ob es für den Tumor gut oder schlecht ist, wenn ich auch meine "normalen" Fastenintervalle mache, lasse ich es lieber bleiben. Bislang hatte ich immer wichtigere Dinge zu recherchieren und habe deshalb diese spezielle Recherche vor mir hergeschoben, weil ich ja dachte, ab Januar mit den wöchentlichen Chemos würde ich so oder so wieder abnehmen. Das hat sich mit dem neuen Therapieschema aber erledigt, also sollte ich mich demnächst wirklich mal mit dieser Frage befassen. Einen Blogartikel zu meiner Entscheidung über die Frage, wann ich mit meinen "normalen" Fastenintervallen wieder anfange und warum ich mich so entschieden habe, gibt es dann natürlich auch.

Am letzten Wochenende habe ich mich aber erst einmal näher mit meinem neuen Therapieschema ab Januar beschäftigt, das mein neuer Arzt für besser wirksam hält: viermal im Drei-Wochen-Rhythmus Trastuzumab plus Pertuzumab plus Taxol plus Cisplatin. Das wird mich am Tag Null immer ungefähr fünf Stunden Chemo-Zeit kosten, aber da diese fünf Stunden nur jede dritte Woche anfallen, ist die Sache letztlich weniger zeitaufwendig als in der vorher geplanten Form. Im Vergleich zu dem, was zuvor geplant war, scheint es aber stärkere Nebenwirkungen zu haben. Da es noch dazu eine ziemlich teure Angelegenheit ist, wird es nur dann eingesetzt, wenn es im Vergleich zu anderen Varianten einen deutlicheren Vorteil bietet, und das ist bei mir offenbar unter anderem deshalb der Fall, weil bei mir auch die Lymphknoten befallen sind. Das ist der eine Fall, in dem der Vorteil speziell mit dieser Chemo besonders hoch ist. 

Umso spannender ist nun natürlich die Frage, ob ich auch in diesem Fall die Nebenwirkungen durch das Fasten positiv beeinflussen kann. Im Grunde leiste ich da Pionierarbeit, obwohl ich andererseits ja kaum die erste und einzige sein kann, die das Fasten in diesem speziellen Rahmen nutzt, auch wenn diese Kombination noch nicht so lange eingesetzt wird. Es ist so ein Jammer, daß niemand versucht, Erfahrungswerte, die rein aus Eigenmotivation der Patienten und in deren Eigenverantwortung entstehen, zu dokumentieren. Ob es nun Fasten ist oder Low Carb oder irgendwelche anderen Methoden mit dem Ziel, die Chemo in irgendeiner Form positiv zu beeinflussen, solche Dinge müßten mittlerweile ja nicht mehr zwangsläufig einfach ignoriert werden, nur weil sie nicht auf Empfehlung des Arztes gemacht werden, sondern unabhängig davon und unter Umständen sogar gegen seinen ausdrücklichen Rat. Aber was spräche eigentlich ausgerechnet dann dagegen, die Wirkung zu dokumentieren, anstatt - wie das bei Onkologen anscheinend ziemlich verbreitet ist - hysterische Anfälle zu bekommen und anschließend lieber so wenig wie möglich darüber wissen zu wollen?

***

So lange ist es noch gar nicht her, daß ich Dr. Jason Fungs Buch über Krebs gelesen und im Blog rezensiert habe - ein bißchen mehr als ein Jahr. Sicherlich ist es keine Überraschung, daß ich es inzwischen noch einmal gelesen habe - aber vielleicht ist es eine, daß ich das sogar zweimal getan habe. Zunächst griff ich spontan während der Wartezeit auf das Laborergebnis zu dem Buch. Letzte Woche begann es mir dann zu dämmern, daß ich etwas Wichtiges beide Male viel zu flüchtig überlesen hatte. Es wurde ganz am Ende nur kurz angetippt, und ich hatte es eigentlich mehr für einen Ausblick in die Zukunft gehalten, also für etwas, das für die Fragen, die aktuell für mich von Bedeutung sind, nicht weiter relevant ist. Denn maßgeblich ist ja im Moment erst einmal das, was die momentan üblichen Therapien mit sich bringen, und dabei hatte ich aus diesem Buch vor allem das mitnehmen wollen, was von Jason Fungs Thesen über die Wirkung des Ernährungsverhaltens in Bezug auf Krebs sinnvoll und praktisch anwendbar schien. Auf dieser Basis hatte ich dann weiterrecherchiert.

In Wirklichkeit hat diese vermeintliche Zukunft aber bereits begonnen, und ich bin mit meiner HER2-positiven Brustkrebs-Variante, wie es scheint, sogar schon live mit dabei. Nachdem dieser Groschen einmal gefallen war, schien es mir angebracht, mich noch ein weiteres Mal mit dem "Cancer Code" - so der Titel des englischen Originals - von Jason Fung zu befassen, diesmal mit Fokus auf all dieser Zukunftsmusik und etwaigen Möglichkeiten, darin praktisch anwendbare Nutzanwendungen zu finden.

Zunehmend setzt sich nämlich die Auffassung durch, daß Brustkrebs in vielen Fällen in keinem Stadium als eine rein lokale Erkrankung, sondern als eine systemische Erkrankung aufgefaßt werden sollte. Die Annahme, ein Tumor wachse erst lokal und beginne erst vergleichsweise spät, sich auszubreiten, also Metastasen zu bilden, läßt sich speziell für Brustkrebs nicht generell aufrechterhalten. Dazu ist zu gut belegt, daß die Metastasierung oft bereits einsetzt, noch bevor der Tumor bei der Mammographie überhaupt schon entdeckt werden kann.

Die statistische Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr des Krebses ist zwar in der Tat umso geringer, je früher er entdeckt und behandelt wird, aber ein Rückfall kommt erstens sehr wohl auch nach einem vermeintlich lokalen Stadium mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit, nämlich bei jeder vierten bis fünften Patientin, innerhalb der darauffolgenden zehn Jahre vor (siehe "C Disease-free Survival" in der Abbildung), und zweitens sind im Blut zirkulierende Krebszellen auch bei weiterhin gesunden ehemaligen Brustkrebspatientinnen offenbar ebenfalls ein relativ häufig vorkommender Fall. 

Warum solche Patientinnen weiter gesund bleiben bzw. wann und warum dies bei ihnen einen erneuten Krankheitsausbruch auslösen kann, ist einstweilen ebenso eine offene Frage wie die, ob sich die Metastasierung in einem sehr frühen Stadium vielleicht doch sicher auf bestimmte Brustkrebs-Varianten eingrenzen ließe. Viel schlauer, als mit einer Operation zu beginnen, kommt mir da eine Behandlung vor, mit der etwaige vorhandene Krebszellen gleich überall im ganzen Körper aufs Korn genommen werden. Das ist der Hintergedanke bei der sogenannten neoadjuvanten Chemotherapie, die noch vor einer Operation stattfindet - früher war das das Mittel der Wahl bei großen Tumoren, aber mittlerweile ist es vor allem bei schnell wachsenden Tumoren ebenfalls Standard.

Bei Dr. Fung stand, 90 Prozent der Krebstodesfälle seien nicht auf den Ursprungstumor, sondern auf Metastasen zurückzuführen. Das wollte ich genauer wissen, weil im Buch dazu eine vernünftige Quelle fehlte, und habe mal recherchiert. Dieser Wert, 90 Prozent, wird anscheinend in der Wissenschaft allgemein für korrekt gehalten und ungeprüft in einschlägigen Studien weiterkolportiert, wobei eine Auswertung norwegischer Todesfälle - durch Wissenschaftler, die es nach eigener Aussagen genauso wie ich einfach mal genauer wissen wollten - "nur" auf einen Wert von ungefähr zwei Dritteln kam - was allerdings auch an fehlender Exaktheit der Totenscheine liegen könnte. Also wird die Annahme, es seien mindestens zwei Drittel, wahrscheinlich aber eher "zwei Drittel plus x" der Wahrheit wohl am nächsten kommen - und damit zeigt sich, daß es auch dann, falls die 90 Prozent nicht erreicht werden sollten, für eine sehr deutliche Mehrheit der Krebstodesfälle gilt. 

Die Metastasierung zu verhindern, ist also entscheidend, um auch die Sterblichkeit zu reduzieren. Aber speziell bei Brustkrebs, bei dem durch das Screening große Anstrengungen unternommen wurden, Krebs in einem möglichst frühen Stadium zu finden, in der Annahme, dadurch ließen sich Metastasierung und Todesfälle verhindern, hat dies zwar zu einer dramatischen Zunahme an in frühen Stadien entdeckten Brustkrebsfällen, aber leider nicht dazu geführt, daß dadurch seitdem deutlich weniger Krebsfälle in einem späten Stadium entdeckt werden.

Hier auch noch eine entsprechende Grafik für Deutschland, der vertikale graue Strich im Jahr 2005 bezeichnet die Einführung des Mammographie-Screenings: 

Nach einem Zeitraum von zwölf Jahren seit Beginn des Screenings steht dem hohen Anstieg der gefundenen Fälle von Brustkrebs im Frühstadium kein auch nur annähernd vergleichbar hoher Rückgang der Fälle im Spätstadium gegenüber. 

Das gilt leider auch für die spezielle Altersgruppe, die Anspruch auf regelmäßiges Screening hat: 

Im Vergleich zum Basisjahr 1995 ist die Zahl der Fälle (je 100.000 Frauen) an Brustkrebs im späten Stadium 3 und 4 zwar um ca. ein Drittel von 60 auf knapp über 40 zurückgegangen. Aber gemessen an dem Anstieg der frühen Fälle (Stadium 0 und 1) um ca. 90 Fälle je 100.000 Frauen ist dieser Rückgang um 20 Fälle enttäuschend gering. Der  Grundgedanke beim Screening schien ja eigentlich logisch, aber offenbar stimmte mit den Grundannahmen irgendetwas Wichtiges nicht. Dieser Faktor könnte die erwähnte bereits in einem Frühstadium einsetzende Metastasierung sein. 

Krebszellen entwickeln daneben - ähnlich wie Bakterien auf Antibiotika - Resistenzen gegen die Gifte, mit denen man ihnen bei der Chemotherapie zu Leibe rückt. Jedes Mittel gegen Krebs verliert deshalb nach und nach an Wirkung, deshalb ist es längst üblich, mehrere unterschiedliche Mittel parallel und nacheinander einzusetzen. Gelingt es nämlich nicht, sämtliche vorhandenen Krebszellen zu eliminieren, bevor dieses Nachlassen einsetzt - und ob das gelungen ist, kann man sich ja nie völlig sicher sein -, bekommt man es im zweiten Level beim Rezidiv oder Metastasen mit Krebszellen zu tun, gegen die die alten Mittel viel schlechter oder gar nicht mehr wirken, weil sie Resistenzen entwickelt haben.

Resistenzen von Schädlingen in der Landwirtschaft gegen die eingesetzten Schädlingsbekämpfungsmittel, etwa Pestizide, bieten Einblicke in ein so ähnliches Problem, daß der Krebsforscher Robert Gatenby die zugehörigen Daten für seine eigenen Forschungen aufgriff. Dabei stellte er fest, daß jede mathematische Modellberechnung mit dem Ziel einer vollständigen Eliminierung der Schädlinge auf dem Papier unweigerlich immer zu einem Scheitern der Behandlung führt - wie das bei der Schädlingsbekämpfung in der Praxis in der Tat ebenfalls zu beobachten war und ist: Jedes zunächst erfolgreiche Mittel hat nach einiger Zeit seine Wirksamkeit verloren und mußte durch ein neu entwickeltes anderes ersetzt werden.

Die Lösung, die Gatenby für seinen eigenen Bereich daraus entwickelte und die sich dann nicht nur in der Modellberechnung, sondern auch in Laborversuchen als erfolgreich erwies, obwohl sie scheinbar im Widerspruch zu allen Erfahrungswerten mit überlebenden Krebszellen stand, war eine Strategie, deren Ziel nicht die Ausrottung, sondern lediglich eine Eindämmung der Krebszellen bei entsprechend niedrigerer Dosierung der Medikation war. Das Resultat in der Petrischale im Labor: Die überlebenden nicht resistenten "alten" Krebszellen setzten sich gegen die resistenten "neuen" Krebszellen durch. Es zeigte sich, daß die Resistenz, die die Krebszellen entwickelt hatten, kein Vorteil mehr waren, wenn die resistenten Zellen die für Wachstum nötigen Ressourcen nicht mehr alleine beanspruchen konnten, sondern in Konkurrenz mit den Veteranen der ersten Krebszellengeneration standen, die die Nahrung effizienter einsetzen konnten, weil sie nichts davon für die Resistenzmechanismen abzweigen mußten.  

Offenbar kann es also bei der Behandlung einer Krebserkrankung ein strategischer Fehler sein, so wenig überlebende Krebszellen wie möglich, optimalerweise null, zum Ziel zu setzen. Andererseits wirft diese Annahme weitere Fragen auf. Es ist beispielsweise aber die Frage, wie weit die "alten" Krebszellen dauerhaft eingedämmt werden müßten, um einen Krankheitsausbruch sicher zu verhindern. Welche Menge an überlebenden Krebszellen nötig sind, um eine feindliche Übernahme durch resistente Krebszellen zu verhindern, wäre eine weitere zu beantwortete Frage, und dann natürlich, ob es dabei überhaupt eine Schnittmenge gibt, bei der man als Patient weiter gesund bleibt - denn das ist natürlich das Ziel, das dabei erreicht werden müßte. 

Ich meine, ich hätte schon Studien gesehen, in denen die tatsächliche Wirkung reduzierter Chemotherapeutikamengen bei Krebspatienten untersucht wurde, ohne mir dieses Hintergrunds da aber bereits bewußt zu sein.

In diesem neuen Licht betrachtet, fallen mir auf einmal auch bemerkenswerte Parallelen zur Adipositas-Problematik und den Erkenntnissen auf, die ich aus meiner eigenen Abnahme-Historie gewonnen habe. Um abzunehmen, funktionieren nahezu alle Methoden, sofern sie halbwegs konsequent umgesetzt werden, eine begrenzte Zeit lang, aber ist dieser Zeitraum - typisch sind sechs bis maximal zwölf Monate - überschritten, will das Gewicht fast immer ums Verrecken nicht mehr weiter nach unten gehen. Die besser wirksamen Methoden erkennt man daran, daß das Gewicht in der Folgezeit einigermaßen stabil bleibt. Die schlechteren münden in den Jojo-Effekt. 

Je länger ich mich mit dieser Sache befasse, desto offensichtlicher kommt mir als Muster vor, daß es tatsächlich keine einzige Methode der gezielten Gewichtsreduktion gibt, die man dauerhaft unverändert erfolgreich anwenden kann. Meinen Erfahrungswerten nach gibt es aber trotzdem zwei Möglichkeiten, ein noch nicht erreichtes Zielgewicht auch nach Einsetzen dieser Plateauphase noch zu erreichen: Entweder man verändert etwas an der Herangehensweise (also ergänzt zum Beispiel eine Diät durch Sport oder eine Low-Carb-Ernährung durch Fastenintervalle ...) oder man erhöht die "Dosierung". Damit das letztere aber überhaupt umsetzbar ist, muß man aber mit einer relativ niedrigen Dosierung begonnen haben. Wer gleich alles maximal Mögliche tut, um nur möglichst schnell möglichst viel abzunehmen, der kämpft meistens vergeblich weiter, wenn sich das erwähnte Zeitfenster schließt. Wie und warum ich selbst darauf gestoßen bin und was ich mit "niedrig dosiertem Intervallfasten" für Erfahrungen gemacht habe, kann man in meinem Blog in zahlreichen Beiträgen nachlesen.

Beim Abnehmen ist das Prinzip "Viel hilft viel" meiner Meinung nach jedenfalls kein erfolgversprechender Weg. Daß sich für die Krebsbehandlung möglicherweise dasselbe herausstellen könnte, finde ich bemerkenswert. Wenn in zwei so unterschiedlichen biologischen Bereichen wie Gewichtskontrolle und Krebsbekämpfung gleichartige Methoden wirksam sein sollten, obwohl sich die dahinterstehende Logik in beiden Fällen auf den ersten Blick nicht erschließt, wäre das nämlich bestimmt kein Zufall. Wäre es also möglich, daß man, um biologische Vorgänge aktiv zu beeinflussen, das, was man dabei tut, in irgendeiner Form rhythmisieren muß? 

Das ist  ein Gedanke, der verblüffend viele Anknüpfungspunkte zu als unwissenschaftlich geltenden sogenannten alternativmedizinischen Herangehensweisen enthält, beispielsweise derjenigen der Anthroposophie (der ich selbst eigentlich auch eher reserviert gegenüberstehe). Aber so unwissenschaftlich käme speziell dieser Gedanke mir gar nicht vor. Leben spielt sich jedenfalls augenscheinlich im Rhythmus wiederkehrender Zyklen ab, und biologische Rhythmen sind im Prinzip ja auch wissenschaftlich anerkannt. Warum sollten sie dann nicht auch beim Krebs eine Rolle spielen können?

Kurios kommt es mir aber auch vor, daß ich ausgerechnet bei Dr. Fung diese mögliche Parallele zur Adipositas-Problematik entdeckt habe, aber er selbst sie bislang nicht bemerkt zu haben scheint. Dabei ist Intervallfasten ja sein eigentliches Spezialgebiet und er kann mit allem Recht der Welt stolz auf seine Erfolge in diesem Bereich sein. Aber obwohl ich sicher bin, daß Dr. Fungs Patienten meistens eine dauerhafte Besserung erleben, würde ich auch Haus und Hof darauf verwetten, daß seine Patienten - obwohl das von ihm nicht an die große Glocke gehängt wird - auch dasselbe Problem wie jeder konventionell Abnehmende haben: daß ihre Gewichtsabnahme häufig noch vor Erreichen des Zielgewichts ins Stocken kommt und die bislang erfolgreiche Herangehensweise nach einiger Zeit einfach nicht mehr zu wirken scheint. Darauf deuten jedenfalls seine Tipps im Umgang mit solchen Plateaus hin, die allerdings so enttäuschend konventionell sind, als kämen sie von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Meiner Vermutung nach erzielen sie nur in Ausnahmefällen die erhoffte Wirkung. 

Genau dies, daß ich offenbar in diesem Bereich etwas entdeckt zu haben scheine, das bislang noch niemandem aufgefallen ist, motiviert mich auch besonders dazu, im Anschluß an die Chemotherapie und die Operation möglichst bald das Intervallfasten wieder aufzunehmen, denn ich bin überzeugt davon, daß meine rhythmisierte Herangehensweise es möglich macht, sich ein Zielgewicht nach eigenem Belieben (innerhalb des Normalgewichtsbereichs, versteht sich) festzulegen und damit rechnen zu können, es tatsächlich zu erreichen und im Anschluß dauerhaft halten zu können. Da ich einmal diese These entwickelt habe, will ich natürlich auch beweisen können, daß sie sich - wenigstens in meinem eigenen Fall - als zutreffend erwiesen hat. Und davon lasse ich mich von so ein bißchen Krebs auch nicht abhalten.

Vorzugsweise möchte ich aber natürlich das Halten des Gewichts dann auch noch zwei bis drei Jahrzehnte lang zelebrieren. Dazu sollte ich meine Krebserkrankung entsprechend lang überleben, und somit liegt es nahe, mich auch mit der Frage zu befassen, was Krebs überhaupt ist, wie er tickt und wie man mit ihm sinnvollerweise umgeht. Die kühnste Vision, die ich Dr. Fungs Buch entnehmen konnte, besteht in der Frage, ob der Kampf gegen Krebs wirklich zwingend auch einen Sieg über ihn erfordert oder ob es auch möglich ist, eine Art friedliche Koexistenz zu erreichen, um Krebs, statt ihn mit Stumpf und Stiel ausrotten zu wollen, lediglich unterhalb der Krankheitsschwelle zu halten oder, wo das nicht möglich ist, ihn zumindest in eine nicht lebensbedrohliche chronische Krankheit zu verwandeln. 

Friedliche Koexistenz mit dem Krebs? Das klingt ungefähr so absurd wie "Friedliche Koexistenz mit Putin".  Aber andererseits, wenn mein Krebs wirklich dazu gebracht werden könnte, mich nicht mehr umbringen zu wollen, warum sollte ich ihm dann unbedingt etwas tun wollen? Aus reiner Prinzipienreiterei ganz bestimmt nicht. Ich bin noch nie ein Anhänger des optimierungswahnsinnigen Hundertfünfzigprozenttums gewesen, will heißen: Ich mache so viel, wie zum angestrebten Zweck erforderlich erscheint, aber nicht mehr als das. Es sei denn natürlich, es macht Spaß, mehr als das zu tun, da Spaß immer und eindeutig ein Vorteil ist. (Nur fürs Protokoll: Eine friedliche Koexistenz mit Putin halte ich unter vergleichbaren Voraussetzungen natürlich auch für möglich. Allerdings stelle ich mir das, ehrlich gesagt, um einiges schwieriger vor, als mit meinen Krebszellen eine zufriedenstellende Kompromißlösung zu finden.)

Bei Krebserkrankungen, die nicht kurativ - also mit dem Ziel einer Heilung - behandelt werden können, geht man ja längst nach diesem Prinzip vor: Wenn man keinen gangbaren Weg mehr zu einer Heilung erkennen kann, ändert man das Ziel der Therapie. Es besteht dann darin, möglichst lange und möglichst gut mit dem Krebs leben zu können. Der Unterschied in dem Gedankenspiel mit der friedlichen Koexistenz bestünde darin, daß es im letzteren Fall um Mittel gehen würde, mit Krebs zu leben, ohne durch ihn krank zu werden. Oder - denn wie definiert man schließlich "krank" in diesem Fall korrekterweise? - jedenfalls nicht gravierender dauerhaft behandlungsbedüftig, als man es beispielsweise durch Schwerhörigkeit oder eine Schilddrüsenüberfunktion auch wäre, also ohne deshalb von Schmerzen und Einschränkungen geprägtes Siechtum und einen frühen Tod befürchten zu müssen. Auch wenn die heutige Palliativtherapie mittlerweile nicht mehr mit einer relativ kurzen Begleitung eines Sterbeprozesses verwechselt werden sollte, ginge das ein gutes Stück über das hinaus, was sie heute bieten kann. 

Ob diese Vision wirklich erreicht werden kann? Keine Ahnung. Aber die Zielsetzung eines Null-Krebszellen-Menschen scheint jedenfalls nicht erreichbar zu sein, also spricht auch nichts dagegen, die Möglichkeiten auszuloten, die sich aus diesem neuen Ansatz ergeben könnten.

Dr. Fung jedenfalls hält die Immuntherapie für einen der zugehörigen Schlüssel und verweist dabei unter anderem darauf, daß in den zwar seltenen, aber im Lauf der Jahrhunderte doch immer wieder in Einzelfällen dokumentierten Fällen einer Heilung von Krebsleiden Infektionserkrankungen des Krebspatienten und deren Bekämpfung durch das Immunsystem häufig eine zentrale Rolle gespielt haben. In Zeiten vor Erfindung von Antibiotika endeten sowohl zufällig mit einer Krebserkrankung zusammentreffende Infektionen wie auch sporadisch versuchte experimentelle Krebstherapien, die auf bewußtem Infizieren von Krebskranken mit einer ansteckenden Krankheit beruhten, natürlich in den allermeisten Fällen noch viel schneller mit dem Tod, als ihn der Krebs aus eigener Kraft hätte herbeiführen können. Die damit verbundenen Spontanheilungen des Krebsleidens waren Seltenheiten. Wie auch immer, das Immunsystem mittels einer Infektion zu aktivieren, kann offenbar dazu führen, daß es sich so sehr in den Bud-Spencer-Modus hineinsteigert, daß es, wenn von den zunächst angegriffenen Bakterien keines mehr einen Mucks macht, als Nächstes anfängt, bislang unbeachtet vor sich hinwuchernde Krebszellen als weiteren Feind zu identifizieren und ebenfalls zu Kleinholz zu machen. 

Wie man dieses Verhalten beim Immunsystem aktiv und gezielt auslöst, ist eine wissenschaftliche Aufgabenstellung, die im Erfolgsfall ähnliche umwälzende Wirkung haben könnte wie die Entdeckung der Krankheitserreger auf die Sterblichkeit durch Infektionskrankheiten.

Die Vorteile von Immuntherapien gegenüber den anderen gebräuchlichen Behandlungsmethoden bei Krebserkrankungen beschreibt Jason Fung folgendermaßen: 

  • Das Immunsystem ist im Gegensatz zu einer dauerhaft festgelegten Medikation anpassungsfähig und entwickelt sich - ebenso wie die Krebszellen -  ständig an die Anforderungen von außen angepaßt weiter.  
  • Das Immunsystem hat ein Gedächtnis. Dies kann Rückfälle verhindern oder jedenfalls abmildern. Wer z. B. heute an Corona erkrankt, dessen Immunsystem kann Informationen aus früheren Infektionen bzw. den Impfungen abrufen und die Krankheit wirksamer bekämpfen. 
  • Immuntherapien sind für gesunde Zellen nicht toxisch, nur für die Art von Zellen, die als Eindringlinge identifiziert werden. Krebszellen sind zwar Meister der Tarnung, um nicht als solche erkannt zu werden, aber Medikamente wie z. B. Trastuzumab wirken unter anderem deshalb, weil sie die Tarnung aufheben und damit für das Immunsystem den Feind leichter identifizierbar machen.
  • Immuntherapien sind keine lokalen, sondern systemische Behandlungen, die Krebszellen auch dort zerstören, wo sie andernfalls unentdeckt und unangetastet geblieben wären. Sie können deshalb auch im Spätstadium einer Krebserkrankung wirkungsvoll sein. 
  • Eine Immuntherapie kann in Kombination mit einer Strahlenbehandlung teilweise sogar die Wirkung der Strahlenbehandlung, die andernfalls nur den bestrahlten Bereich betrifft, systemisch werden lassen (sogenannter "abskopaler Effekt").

Ich habe Hemmungen, vorschnell auf den zu erwartenden Sieg gegen den Krebs eine Flasche Schampus zu öffnen, denn erstens kann das noch ganz schön lange dauern, und zweitens hat sich bislang noch bei jedem Lösungsansatz herausgestellt, daß er bei einigen (wenigen) Arten von Krebs prima funktioniert, aber bei anderen viel schlechter oder gar nicht. Das kann sich natürlich auch hier wieder herausstellen. Wie auch immer, die wegen ihres Corona-Impfstoffs berühmt gewordene Firma Biontech scheint auch in diesem Bereich die Nase wieder ziemlich weit vorn zu haben, rechnet aber erst für das Jahr 2030 mit einer Zulassung der von ihr entwickelten mRNA-Krebstherapie.

Acht Jahre sind natürlich eine verdammt lange Zeit, falls man bereits Krebs hat. Glück im Unglück hatte ich wohl damit, daß ich ausgerechnet diesen HER2-positiven Brustkrebs zu einem Zeitpunkt bekommen habe, zu dem sich die Therapiemöglichkeiten in den letzten Jahren dramatisch verbessert haben. Die Wirkstoffkombination, die ich bekommen werde, ist weniger als zehn Jahre im Einsatz, aber immerhin schon lange genug, daß seit dem Sommer ein Zwischenergebnis nach 8,4 Jahren für die einschlägige Studie vorliegt.  "Das Prinzip der mRNA-Impfung bei Krebs ist, dass man dem Immunsystem die Erkennungsmerkmale des Tu­mors präsentiert – mit der Aufforderung, die Zellen, die dieses Merkmal aufweisen, zu attackieren", so beschrieb Biontech die Wirkweise ihrer Therapie, und ganz ähnlich scheint das auch hier zu funktionieren. Es bringt also das Immunsystem in den Bud-Spencer-Modus. 

Abschließend nun noch einmal wirkliche Zukunftsmusik: Was es wohl gesellschaftlich bedeuten würde, falls es eines Tages normal geworden sein sollte, Krebs mit relativ einfachen Mitteln unterhalb einer Krankheitsschwelle halten zu können? Als Vergleichsbeispiel fallen mir nämlich die zahlreichen und in Summe gesellschaftlich geradezu umwälzenden Veränderungen ein, die direkt oder indirekt mitausgelöst wurden, als Empfängnisverhütung sich im Alltag durchgesetzt hatte. Obwohl Verhütung, rein statistisch betrachtet, ungewollte Schwangerschaften viel schlechter verhindern kann, als es allgemein geglaubt wird (Pearl-Index 0,5 für einige Pillen-Sorten etwa bedeutet in 20 Jahren sexueller Aktivität ein Risiko von immerhin 10 % auf eine ungewollte Schwangerschaft, das heißt, jede zehnte Frau, die das betreffende Verhütungsmittel regelmäßig und korrekt anwendet, wird einmal in diesem Zeitraum ungewollt schwanger) hat alleine schon das Bewußtsein, daß jeder und jede selbst entscheiden könne, ob, wann und wieviele Kinder man bekomme, unsere Gesellschaft und vor allem die Rolle der Frau in ihr dramatisch verändert. 

Was passieren wird, wenn Krebs seinen Schrecken verliert, möchte ich selbst natürlich auch miterleben. Ich hoffe, wir sind da schon nahe genug dran, daß ich dafür nicht mehr als hundert Jahre alt werden muß. ;-)



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