Sonntag, 27. November 2022

Dschungelcamp reloaded: Survivaltraining in der Onkologenpraxis

Mein Gewicht heute früh: 86 Kilogramm exakt. Seit vier Tagen balanciere ich um die 86 herum, mal 100 Gramm mehr, mal 100 Gramm weniger, also nehme ich an, daß ich morgen wieder in diesem Bereich liegen werde, wenn ich - zwei Tage vor dem dritten Chemo-Zyklus - mein nächstes viertägiges Fastenintervall beginne, das also von Sonntag bis Mittwoch dauern wird. 

Sonntags zu fasten ist für mich ziemlich ungewohnt, und weil ich sowieso am liebsten an einem ganz normalen Arbeitstag faste, habe ich mich entschlossen, morgen eben zu arbeiten. Das erscheint auch deshalb vernünftig, weil mir mein Doc (keine Ahnung, ob das der alte oder der neue war) mir meinen Arbeitsplan für Montag über den Haufen geworfen hat, indem er mich ungefragt für die erste Ultraschall-Inspektion des Tumors nach zwei Chemo-Zyklen angemeldet und dort für den ziemlich frühen Montagvormittag einen Termin für mich vereinbart hat. Ohne jede Rücksprache mit mir. Offenbar rechnet niemand damit, daß ich vielleicht ja doch noch ein paar andere Dinge vorhaben könnte, als darauf zu warten, daß mein Arzt eine Beschäftigung für mich findet.

Keine Ahnung, ob das beim Onkologen vielleicht ja doch normal ist (ist ja mein erster Krebs), aber ich war schon einigermaßen befremdet, als ich bei der Blutabnahme gefragt wurde: "Sie haben am Montag einen Termin bei Dr. XY, das wissen Sie doch bestimmt schon?" Nee, wußte ich nicht. Hätte mich die Chemo-Schwester nicht gefragt, hätte ich den Termin verpaßt.

Noch mehr hat mich gewundert, daß ich nur für diese Untersuchung angemeldet worden war. Was ist nun eigentlich mit diesem blöden Titan-Clip, der im Fall einer Komplettremission die Stelle bezeichnen soll, wo sich der Tumor befand? Bislang habe ich ihn nicht bekommen. Und was ist mit dem Ultraschall der Leber? Das ist jetzt auch schon vier Wochen her, daß ich dieses CT Abdomen habe machen lassen, und weil das die Sache mit dem Geburtstag meiner Mutter so kompliziert gemacht hat, hätte ich das gerne verschoben, aber der Doc hatte es so eilig damit, daß er eine Verschiebung abgelehnt hat und ich vor dem CT in höchster Eile noch einen Auftrag fertigstellen und direkt nach dem CT auf der Stelle zum Zug hetzen mußte. 

Wieso also ist es jetzt auf einmal gar nicht mehr eilig, nun, da das CT dummerweise doch noch eine (nach Meinung des dortigen Arztes) höchstwahrscheinlich harmlose Sache ergeben hat, die aber trotzdem noch abgeklärt werden sollte? Wieso veranlaßt mein Onkologe nicht gleich alles, was im Moment noch zu tun aussteht, wenn er schon so selbstherrlich über meine Zeit verfügt? Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil alle drei Dingen in derselben Praxis bei Doktor XY gemacht werden müssen.

Aus schierer Prinzipenreiterei fange ich aber nicht an zu meutern, dafür ist meine Zeit viel zu knapp. Diesmal bin ich deshalb den Weg des geringeren Widerstands gegangen, will also heißen, ich gehe am Montagfrüh tatsächlich dorthin und erledige die Aufträge für den Montag eben schon am Sonntag. Auf Dienstag verschieben kann ich sie ja nicht, weil ich da den gesamten Vormittag für die Chemo brauche und am Nachmittag vorsichtig planen sollte, weil ich mich natürlich nicht zu fest darauf verlassen sollte, daß ich dann so fit sein werde wie bei den ersten beiden Zyklen. Auch wenn ich das natürlich hoffe!

Wie war das noch gleich mit dem Streß, den ich als Krebspatient unbedingt vermeiden solle?

Am Montag werde ich aber mal den Dr. XY darauf ansprechen. Ich weiß ja nicht, ob er die Sache mit dem Titanclip auch ungefragt machen kann, aber wenn ich Glück habe, fragt er zumindest gleich mal beim Onkologen nach und bei dieser Sache bewegt sich endlich mal was.

***

Wie es der Zufall wollte, ist in den letzten Tagen eine Stellungnahme zum "Fasten vor, während oder nach der Chemotherapie" publiziert worden, die sich an die behandelnden Ärzte von Chemotherapiepatienten richtet. Ich nahm das zum Anlaß, mich auch noch einmal mit den Studien zu beschäftigen, die Grundlage dieser Stellungnahme wie auch für mich die Grundlage meiner Entscheidung gewesen waren, chemobegleitend zu fasten. Die Stellungnahme empfahl aber auf derselben Grundlage genau das Gegenteil. Also schien es mir angebracht, mich noch einmal zu vergewissern, ob ich vielleicht doch etwas übersehen oder falsch interpretiert hatte.

Spoiler: Ich sah keinen Anlaß, meine Entscheidung zu korrigieren. Diese Überprüfung hat mir vielmehr bestätigt, daß ich auf Grundlage meiner persönlichen Abwägung sowie der gegebenen Fakten genau das Richtige mache.

Verantwortlich zeichneten für diese Empfehlung, Patienten vom Fasten abzuraten, neben der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin der Arbeitskreis Ernährung der Arbeitsgemeinschaft Prävention und Integrative Onkologie (PRIO) in der Deutschen Krebsgesellschaft und der Verband der Diätassistenten – Deutscher Bundesverband e. V. (VDD). Drei ernährungsorientierte Organisationen auf einem Haufen also, die vermutlich allesamt bezüglich des Kaloriendogmas das gleiche Brett vor dem Kopf haben, das in allen Bereichen fast zwangsläufig dazu führt, daß falsche Grundannahmen eine ganze Kaskade von falschen Schlußfolgerungen auslösen. Was hätte man da schon erwarten können? 

Als korrespondierende Autorin ist eine gewisse Prof. Dr. med. Jutta Hübner vom Uniklinikum Jena angegeben; man darf also getrost davon ausgehen, daß sie den Ton der Stellungnahme gesetzt hat. Die Frau Professorin mag Fasten vielleicht ja ganz generell nicht, ebenso wie mein gewesener Ernährungsmediziner-Onkologe. Das könnte etwas damit zu tun haben, daß sie sich in der Vergangenheit schon mehrfach kritisch mit alternativmedizinischen Konzepten auseinandergesetzt hat (etwa der Homöopathie) und Fasten vielleicht irrtümlich in dieselbe Schublade steckt. Zum Fasten gibt es aber sehr wohl aus Labor- und Tierversuchen wissenschaftlich belegt konkrete Hinweise darauf, daß es sich als supportive Maßnahme bei einer Chemotherapie unabhängig von einem etwaigen Placebo-Effekt möglicherweise positiv auswirken könnte. Daß auch manche alternativmedizinische Strömungen aufgrund ganz anderer Grundannahmen Fasten für wirksam halten, ändert daran nichts.

Schauen wir uns die Sache mit den Vorteilen und den Risiken aber mal genauer an.

    Keine Vorteile durch Fasten. Wirklich nicht?

    Zum derzeitigen Zeitpunkt, behauptetet die Stellungnahme, lägen keine wissenschaftlichen Untersuchungen vor, die belegen, dass das Fasten vor, während und/oder nach der Chemotherapie ...

    1. das Therapieansprechen der Chemotherapien erhöhen kann. 
    2. die Toxizität und damit die therapiebedingten Nebenwirkungen reduzieren kann.
    3. die Lebensqualität der PatientInnen im Vergleich zur leitliniengerechten Ernährung verbessert.

    Das bedarf zunächst vor allem einer noch grundsätzlicheren Vorbemerkung.

    Richtig ist es in der Tat, daß die bislang vorliegenden Studien zum Thema Fasten und Chemotherapie sehr wenige sowie klein und noch dazu sehr heterogen sind, also verschieden formulierte Fragestellungen an Patienten mit unterschiedlichen Arten von Krebserkrankungen in verschiedenen Stadien der Erkrankung untersuchen. Auch die Chemotherapien, die verabreicht wurden, unterscheiden sich bezüglich der Zahl der Zyklen und der verabreichten Mittel. Nicht zuletzt wurde außerdem auch "Fasten" unterschiedlich definiert und die Fastenintervalle fielen verschieden lang aus. Die vorliegenden Ergebnisse erinnern mich deshalb an eine Sammlung von Puzzleteilen, die man beim besten Willen nicht zu einem ganzen Bild zusammensetzen kann, weil sie zu unterschiedlichen Bildern gehören, sagen wir: zu Bildern auf denen dasselbe Motiv (zum Beispiel Schloß Neuschwanstein) aus verschiedenen Abständen, Perspektiven oder Außen- und Innenansichten wiedergegeben wird. 

    Eine berechtigte Frage ist also, ob diese Studien überhaupt als Faktenbasis für irgendeinen Beweis ausreichend sind. Ich selbst habe sie in früheren Blogbeiträgen noch nicht für ausreichend gehalten und kann es durchaus verstehen, daß das als Grundlage für eine ausdrückliche Anwendungsempfehlung an Onkologen noch ein bißchen zu wenig ist. Aber es ist trotzdem schon mehr als das, was die Autoren dieser Stellungnahme unterstellen. 

    Richtig ist nämlich ebenso, daß diese Studien sehr wohl wichtige Indizien jedenfalls bezüglich der Punkte 2 und 3, also der Toxizität und der Lebensqualität, liefern. Gerade weil die Studien so heterogen waren, ist das m. E. beachtenswert. Eine unvoreingenommene Auswertung hätte meiner Meinung nach mindestens zu einer Art vorsichtig optimistischer Neugier auf die Ergebnisse künftiger Studien führen sollen. Der eher säuerlich formulierten Stellungnahme ist so etwas nicht einmal ansatzweise zu entnehmen. 

    Ich als Patientin leiste mir den Luxus, vorsichtig optimistisch neugierig zu sein, und bin noch dazu eine routinierte Intervallfasterin und konnte mich deshalb schon davon überzeugen, daß die postulierten Risiken, die eine Menge Ernährungsfachleute dem Intervallfasten zur Gewichtsabnahme zuschreiben, Ammenmärchen sind. Die angeblichen Risiken des Fastens während einer Chemotherapie können mir deshalb auch nur ein gelangweiltes Achselzucken entlocken. Ich brauche nicht unbedingt einen Beweis  für die Wirksamkeit, um es einfach mal zu auszuprobieren, weil mir klar ist, daß ich damit ein Risiko nahe null eingehe. 

    Ich hätte übrigens mit meinem individuellen Fastenmodell in keine einzige dieser Studien hineingepaßt. 

    Die betreffenden Studien an dieser Stelle zum Nachlesen in der Reihenfolge, in der sie in der Stellungnahme in Kurzform besprochen wurden: 

    Die allererste (sehr kleine) Studie zum Fasten mit Fallstudien von nur zehn Patienten von 2009 ließ man in der Stellungnahme ganz unter den Tisch fallen. Der Vollständigkeit halber hier auch von ihr der Link: Safdie et al (2009) (Volltext).  

    Nun zu den abgestrittenen Vorteilen im Einzelnen:

    1. Therapieansprechen der Chemotherapien 

    Richtig ist in der Tat, daß in keiner der ausgewerteten Studien ein eindeutig positiver Einfluß des Fastens auf die Bekämpfung des Tumors selbst nachweisbar gewesen ist. Auch wenn dieser Punkt nur in einer der Studien (De Groot et al, 2020) überhaupt zur untersuchten Fragestellung gehört hat, wären besser schrumpfende Tumoren natürlich in jeder Studie prominent erwähnt worden, falls das eingetreten wäre. Daß es nicht erwähnt wird, belegt also hinreichend, daß es nicht geschehen ist. 

    Die Studie, in der gehofft worden war, auch diese Wirkung nachweisen zu können, fällt noch aus einem anderen Grund aus dem Rahmen. In ihr wurde das Fasten nämlich durch eine "Fasting Mimicking Diet" (FMD) ersetzt, eine kohlenhydrat- und proteinarme Diät, die dem Fasten vergleichbare Stoffwechselreaktionen hervorruft. Damit hoffte man, so steht das in der Studie, den Patienten das Fasten leichter zu machen. Gerade in dieser Studie brach dann allerdings der größte Teil der FMD-Gruppe (80 %) das Fasten noch vor Ende der in diesem Fall acht Chemotherapie-Zyklen ab. Die Hälfte der Abbrecher begründete das mit dem Geschmack der vorgegebenen Nahrung, weitere 15 Prozent mit Übelkeit, möglicherweise ja ebenfalls in Zusammenhang mit dieser Diät.

    Interessanterweise ist etwas ganz ähnliches noch in einer weiteren Studie passiert (Bauersfeld et al), deren Definition von Fasten ebenfalls geringe Kalorienmengen in Form von Säftchen und Süppchen enthielt. Die Abbruchquote war zwar geringer - möglicherweise, weil es in dieser Studie nur um sechs statt acht Zyklen ging -, aber etwa die Hälfte der Abbrechenden machte nach eigenen Angaben auch hier deshalb nicht weiter, weil es ihr von diesem Essen übel geworden sei. 

    So richtig überrascht bin ich darüber noch nicht einmal. Abgesehen davon, daß die Chemotherapie als solche, wie in der Studie vermutet, vielleicht das Geschmacksempfinden beeinträchtigt hat: Der Vorteil des Fastens in mehrtägigen Intervallen besteht ja darin, daß man ab Tag 2 jedes Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme verliert. Auch ich habe aber diesen Vorteil eingebüßt, als ich Anfang des Jahres einmal ein mehrtägiges Fastenintervall lang abends immer einen halben Liter Brühe zu mir nahm, weil ich damit den andernfalls unausweichlichen hohen Flüssigkeitsverlust verhindern wollte und irrtümlich annahm, darüber hinaus werde sich das Fasten auf diese Weise nicht von meinem gewohnten Vorgehen unterscheiden. Ein vergleichbar unangenehmes Fastenintervall habe ich allerdings weder vorher noch nachher jemals erlebt, und ich habe dieses Experiment deshalb auch nicht wiederholt.

    Das Konzept mit den Süppchen und Säftchen, um das Fasten den Patienten leichter zu machen, sollte man also in künftigen Studien besser noch einmal überdenken. Ich hielte es für zielführender, so etwas optional anzubieten, anstatt es verpflichtend zu machen. Das gilt auch deshalb, weil einige Patienten der Kontrollgruppe - fünf an der Zahl, das entsprach fast zehn Prozent - ebenfalls nicht "compliant" waren, und zwar, indem sie sich entschlossen, auf eigene Faust - und höchstwahrscheinlich nach einem selbstgewählten Modell anstelle des vorgegebenen - mindestens während eines Zyklus ebenfalls zu fasten, womit sie ebenso wie die FMD-Abbrecher nicht mehr in die Auswertung einbezogen werden konnten. Leider wurde in der Studie nicht darauf eingegangen, ob diesen fünf Patienten das Fasten leichter als den FMD-Patienten gefallen ist und wie lange sie das jeweils machten.

    Aber zurück zur Frage des Therapieansprechens, also der Entwicklung des Tumors bis zum Ende der Chemotherapie.

    Ein Vorteil in diesem Punkt für die FMD-Gruppe (bzw. jedenfalls des Teils, der alle acht Zyklen mit der Diät durchhielt) gegenüber der Kontrollgruppe ist zwar nicht belegbar, aber auch nicht völlig ausgeschlossen. Das liegt daran, daß aus unerfindlichen Gründen doppelt so viele Patientinnen mit triple-negativem Brustkrebs in die FMD-Gruppe gelangten wie in die Kontrollgruppe. Bekanntlich ist triple-negativer Brustkrebs besonders aggressiv und spricht gerade deshalb - auch ohne Fasten - viel stärker auf Chemotherapie an als langsamer wachsende Varianten. Das macht die Ergebnisse der beiden Gruppen schlecht vergleichbar. 

    Tatsache ist, daß in der FMD-Gruppe (bzw. des Teils von ihr, der acht Zyklen lang durchhielt) häufiger als in der Kontrollgruppe eine Verringerung der Tumorgröße um mindestens 90 Prozent erreicht wurde. Ebenso geschah es in der FMD-Gruppe seltener als in der Kontrollgruppe, daß der Tumor nach dem Ende der Chemotherapie sich überhaupt nicht verkleinert hatte oder sogar gewachsen war. Aber ob das "Fasten" (also die FMD-Ernährung) dafür (mit-)verantwortlich war, läßt sich beim besten Willen nicht sagen, auch deshalb, weil nur 13 von 64 in der FMD-Gruppe bis zum Schluß der Chemotherapie durchgehalten hatten, während dem mehr als die vierfache Zahl in der Kontrollgruppe gegenüberstand. 

    Es gibt aber ein Teilergebnis, das meiner Meinung nach eher dagegen spricht: Angesichts des hohen Anteils von triple-negativen Tumoren war eigentlich - auch unabhängig vom Fasten - ein höherer Anteil an Komplettremissionen, also das vollständige Verschwinden des Tumors, bei der FMD-Gruppe zu erwarten. Tatsächlich waren es aber in beiden Gruppen ungefähr gleich viele Komplettremissionen - auch die Autoren der Studie scheinen damit nicht gerechnet zu haben.

    Künftige Studien werden hoffentlich mehr Licht in das Dunkel um die Frage nach der Reaktion von Tumoren auf Fasten während der Chemotherapie bringen. Im Moment läßt sich diese Frage nicht beantworten.

    2. Toxizität und therapiebedingte Nebenwirkungen

    Daß das Fasten ausweislich der vorliegenden Studien "vor, während und/oder nach der Chemotherapie die Toxizität und damit die therapiebedingten Nebenwirkungen" nicht reduzieren könne, ist hingegen belegbar falsch. Denn in allen drei von mir im Volltext verfügbaren Studien, in denen auch die Toxizität untersucht wurde, ergaben sich klare Vorteile der Fastenden im Vergleich zu einer nicht fastenden Kontrollgruppe. Präziser gesagt: Es waren zwei Studien. In der dritten gab es nämlich keine Kontrollgruppe. Statt dessen wurden unterschiedlich lange Fastenintervalle untersucht, und dabei ergaben sich ebenso deutlich erkennbare Vorteile der längeren Fastenintervalle im Vergleich zu kürzeren Fastenintervallen bei Toxizität und Nebenwirkungen. Das paßt jedenfalls ausgezeichnet zu den Grundannahmen über die Zeitspanne, die benötigt wird, um die biochemischen Vorgänge auszulösen, die gesunde Zellen vor Schädigungen durch Chemotherapie schützen, und ist ein Indiz dafür, daß diese aus Labor- und Tierexperimenten aufgegriffenen Annahmen tatsächlich - ganz oder teilweise - auch auf Chemotherapiepatienten übertragbar sein könnten. Das hat diese dritte Studie trotz der fehlenden Nicht-Fastenden-Gruppe mit den beiden anderen gemeinsam. 

    Die Vorteile wurden in unterschiedlicher und nur zu kleineren Teilen sich überschneidender Weise belegt. Daran, daß sich in drei von fünf Studien nachweislich meßbare Vorteile für die Fastenden gegenüber den nicht Fastenden (bzw. die länger Fastenden im Vergleich zu den kürzer Fastenden) bezüglich der Toxizität ergaben, ändert diese Unterschiedlichkeit aber nichts. 

    1) De Groot et al (2020):  

    Drei Stunden nach der Chemotherapie wiesen die Patientinnen der Kontrollgruppe in einigen Bereichen erheblich höhere Zellschädigungen auf als die der Fastengruppe. Das ist umso bemerkenswerter, als bei der Fastengruppe während der Chemo-Infusion und offenbar auch danach auf die Gabe von Dexamethason verzichtet wurde, die ebenfalls dazu gedacht ist, Zellschäden zu minimieren. 

    Dexa bekomme ich während der Chemo als Infusion und nehme es danach fünf Tage lang in Tablettenform, erstens zur Verringerung der Zellschäden durch die Chemotherapie und zweitens, damit ich nicht tagelang kotzend über der Kloschüssel hänge, wie das ja früher bei Chemotherapien üblich war. Mir ist es bislang noch nie unterlaufen, daß ich diese Tablette zu nehmen vergessen habe, aber bei der letzten Blutabnahme habe ich mich, während ich wartete, mit einer Frau unterhalten, der das mal passiert ist. Ich war ziemlich beeindruckt von den Folgen, die sie geschildert hat. Das probiere ich am besten niemals selbst aus, dachte ich und denke es immer noch. Die Kombination von Dexa und Fasten - setzen wir mal voraus, daß Fasten tatsächlich eine Wirkung hat - sollte ja besser als eines von beidem alleine wirken, also würde ich sowohl nur mit Fasten als auch nur mit Dexa vermutlich stärkere Nebenwirkungen erleben, als ich sie tatsächlich erlebt habe. Ich kann nicht behaupten, daß ich darauf sonderlich scharf wäre. 

    Was die Autoren der Studie auf den Gedanken gebracht hat, Dexa und Fasten nicht als Kombination einzusetzen, kann ich mir nicht so recht erklären. An einer Stelle im Text bekam ich den Eindruck, ein Teilziel dieser Studie habe möglicherweise darin bestanden, herauszufinden, ob man sich Dexa ganz sparen können, indem man die Patienten fasten läßt. Das wäre eine Art Krankenkassenlogik. Aus Patientensicht ergibt das m. E. aber keinen Sinn. Wünschenswerter wäre es aus diesem Blickwinkel, die Nebenwirkungen so weit wie möglich zu reduzieren.

    Was mir indes noch viel mehr zu denken gab, ist, daß dieser - in der zu erwartenden Wirkung wirklich bedeutsame - Unterschied bei der Behandlung der beiden Gruppen von den Autoren der Stellungnahme, die doch gerade auf diese Studie ausführlicher eingegangen sind als auf die vier anderen, unterschlagen und durch die Behauptung ersetzt wurde, Fasten hätte "auch hier keinen Vorteil gegenüber einer Standardernährung" erbracht. Aus meiner Sicht wirft das ein paar kritische Fragen auf: Haben die Autoren der Stellungnahme, was ja im Grunde die einzige Erklärung für eine unbeabsichtigte Fehleinschätzung wäre, die Bedeutung dieses Behandlungsunterschieds wirklich nicht gekannt? In diesem Fall bin ich so frei, sie nicht für qualifiziert genug zu halten, um mir Empfehlungen bezüglich meiner Chemotherapie zu geben. Das, was ich über sie denken würde, falls sie es hingegen wissentlich unterschlagen haben sollten, darf sich jeder Leser - vor allem diejenigen, die mich schon länger kennen 😎 - selbst ausmalen.

    2) De Groot et al (2015): 

     

    Die Erythozyten und die Thrombozyten im Vergleich der Fasten- und der Kontrollgruppe an Tag Null, Tag 7, Tag 21 eines dreiwöchigen Zyklus. Der Rückgang bei beiden war in der Kontrollgruppe deutlich stärker. 

    Was bedeutet das konkret? 

    Einmal in der Woche muß ich mir Blut abnehmen lassen, und dann lasse ich mir immer die Laborergebnisse vom letzten Abzapftermin ausdrucken, um sie daheim in Ruhe mit den früheren Werten vergleichen zu können. Sie enthalten freilich eine Unmasse von Werten, deren Bedeutung ich zugegebenermaßen noch nicht bei jedem Einzelwert vollständig durchschaue. Aber drei von ihnen sind besonders wichtig: 

    • Leukozyten (weiße Blutkörperchen) --> je niedriger der Wert, desto höher das Infektionsrisiko. Normalbereich: 3,5-9,8
    • Erythrozyten (rote Blutkörperchen) --> zu niedriger Wert: Anämie. Normalbereich: 4,1-5,1
    • Thrombozyten (Blutplättchen) --> zu niedriger Wert: Gerinnungsstörungen des Blutes. Normalbereich: 140-440

    Da in der Studie die Ergebnisse bei den Leukos nicht wiedergegeben wurden, nehme ich an, bezüglich des Infektionsrisikos hatten die Fastenden wohl keinen Vorteil. Die abgebildeten Werte habe ich mit meinen eigenen Blutwerten verglichen, auch wenn bei mir natürlich die Tage nicht ganz übereinstimmen. Ich ergänze außerdem auch die Leukos - nur der Vollständigkeit halber.

    13.10.22: Zyklus 1, Tag 0 (Chemotherapie)

    18.10.22: Tag 5 Erste Blutabnahme. Erythozyten: 4,40; Thrombozyten: 164; Leukozyten: 6,23 (alle Werte innerhalb des Normalbereichs)

    25.10.22: Tag 12 Zweite Blutabnahme (in der Studie keine Werte für einen vergleichbaren Punkt im Zyklus). Erythozyten: 4,08; Thrombozyten: 121  Leukozyten: 1,09 (keiner der Werte innerhalb des Normalbereichs, aber die roten Blutkörperchen liegen nur sehr knapp darunter.)

    02.11.22: Tag 20 Dritte Blutabnahme.  Erythozyten: 4,27; Thrombozyten: 226; Leukozyten: 4,21 (alle Werte innerhalb des Normalbereichs)

    04.11.22 Zyklus 2, Tag 0 (Chemotherapie)

    08.11.22: Tag 4 Erste Blutabnahme.  Erythozyten: 4,36; Thrombozyten: 189; Leukozyten: 8,40 (alle Werte innerhalb des Normalbereichs)

    15.11.22: Tag 11 Zweite Blutabnahme (in der Studie keine Werte für einen vergleichbaren Punkt im Zyklus) .  Erythozyten: 4,08; Thrombozyten: 109; Leukozyten: 1,40 (keiner der Werte innerhalb des Normalbereichs).

    22.1.22 Tag 18 Dritte Blutabnahme. (Werte liegen mir noch nicht vor) 

    Das sieht tatsächlich alles sehr ähnlich aus wie bei der Fasten-Gruppe in der Studie (sie bekam Dexa übrigens an drei Tagen verabreicht, also sind unsere Werte im Groben vergleichbar), mit Ausnahme der Thrombozyten an Tag 21, die mir bei beiden Gruppen sehr hoch vorkommen: Wenn sie auch nicht den Rahmen des Normalbereich sprengen, sind sie doch ziemlich nahe dran. Keine Ahnung, warum das in der Studie so war, aber bei mir nicht so ist. 

    Wie auch immer, der Vorteil der Fasten-Gruppe bei der Toxizität ist auch für jeden Laien klar erkennbar.

    3) Dorff et al. (2016): 

    Hier gab es keine Kontrollgruppe, die nicht fastete, aber dafür kann man die Anzahl der beobachteten Nebenwirkungen sowie außerdem deren Intensität in unterschiedlich langen Fastenintervallen vergleichen, und interessanterweise nahmen sie bei längerer Fastendauer in den meisten Bereichen (subjektiv empfundende wie objektiv meßbare Nebenwirkungen) ab. 

    Es gab aber ein paar Ausnahmen. Für Durchfall etwa gilt das Gegenteil. Das ist auch kein Wunder, denn Durchfall scheint zu den typischen Reaktionen bei mehrtägigen Fastenintervallen (länger als zwei Tage) zu zählen, in den einschlägigen Communities werden oft Witze darüber gerissen. Lange Fastenintervalle führen bei mir auch ohne Chemotherapie dazu, daß - meistens aber erst an Tag 4 oder auch erst an Tag 5 nach der ersten Mahlzeit - meine Darmflora sich auf einmal sehr plötzlich von mir verabschiedet. Es ist ja auch sicherlich kein Zufall, daß beim üblicherweise siebentägigen Heilfasten am Beginn erst mal eine Darmreinigung steht; auf diese Weise erledigt man die "Drecksarbeit" bereits im Vorfeld. Das mit dem Durchfall passiert aber immer nur einmal, im höchsten Fall hat man zwei Sitzungen ziemlich kurz hintereinander auf dem stillen Örtchen, und danach funktioniert die Verdauung wieder völlig normal. Als Nebenwirkung ist es allenfalls ein bißchen lästig.

    "Alopecia" ist Haarausfall. Ein Jammer, daß Fasten auch in langen Intervallen einen davor offenbar nicht bewahren kann. So ein kleines bißchen hatte ich es trotz allem gehofft. Aber wie man sieht, die Patientinnen dieser Studie haben mit einer einzigen Ausnahme alle ebenfalls ihre Haare verloren, auch die mit den längsten Fastenintervallen, damit werde ich mich jetzt halt trösten müssen. 

    Die Werte zur Toxizität befinden sich in der Abbildung unter der Überschrift "Hematologic". Sie sprechen meiner Meinung nach für sich. 

    Das waren also die drei erwähnten Studien und die Frage, ob in ihnen tatsächlich nicht belegt werden könne, daß Fasten "die Toxizität und damit die therapiebedingten Nebenwirkungen
    reduzieren" könne. Bei Bauersfeld ging es nur um den Faktor Lebensqualität, die Toxizität war gar nicht Bestandteil der Studie. Was bei Riedinger im Volltext steht, weiß ich einstweilen noch nicht. Wenn ich aber nur diese drei Studien heranziehe, liegen immerhin meßbare Vorteile der Fastenden bezüglich der Toxizität von zusammengenommen mehr als 200 Chemo-Zyklen vor. Ich lasse mal dahingestellt, ob und inwiefern diese Studien als Beleg noch nicht ausreichend sind und was noch geschehen sollte, um die Wirkung des Fastens auf die Toxizität auf eine Weise zu belegen, daß sie über begründete Zweifel erhaben sein wird. Aber so, wie Prof. Hübner und ihre Mitautoren das in ihrer Stellungnahme formuliert haben, wird ein Eindruck erweckt, der an der tatsächlichen Faktenlage vorbeigeht. 

    Was mich daran besonders ärgert: Es ist damit zu rechnen, daß die einschlägigen Berufsgruppen, Onkologen und Ernährungsmediziner, sich auf diese Stellungnahme berufen und auf ihre Richtigkeit vertrauen werden. Ich hoffe inständig, mein neuer Onkologe hat sie noch nicht gelesen, andernfalls werden wir vermutlich auf der Stelle in Streit geraten.

    3. Lebensqualität im Vergleich zur leitliniengerechten Ernährung

    Die Lebensqualität während der Chemotherapie ist zwangsläufig immer im Vergleich zu der Lebensqualität vor der Behandlung beeinträchtigt. Aber gleichzeitig steht die Lebensqualität auch sowohl in einem direkten Zusammenhang mit der Toxizität aus Punkt 2 weiter oben wie auch mit den Punkten 2 und 3 bei den postulierten zusätzlichen Risiken durch das Fasten: Je höher die Toxizität, desto mehr Nebenwirkungen der Chemotherapie sind zu erwarten und desto stärker voraussichtlich die Beeinträchtigung der Lebensqualität.

    Auf die Frage der Toxizität bin ich bereits ausführlich eingegangen. Auf die subjektiv empfundenen und erlebten Nebenwirkungen komme ich im nächsten Teil zurück, wenn es um die Risiken geht.

    Zusätzliche Risiken durch Fasten. Wirklich?

    Ein typisches Merkmal von wissenschaftlichen Texten sind die Fußnoten, manchmal in so großer Zahl, daß man den Verdacht haben könnte, die Autoren glaubten, je mehr Fußnoten, desto wissenschaftlicher der Text. Ich bin trotzdem Fußnoten-Fan, spätestens, seit ich Terry Pratchett gelesen und seine Fußnoten lieben gelernt habe. Ich gehöre zu der Minderheit unter den Nichtwissenschaftlern, die solche Fußnoten bei Interesse an der zugehörigen Detailfrage tatsächlich anschauen und sich ggf. in der zitierten Quelle vergewissern, ob in ihr wirklich das steht, was behauptet wird. Manchmal kann man dabei nämlich auch Überraschungen erleben.

    Die Überraschung bei einer der Quellen, die in der Stellungnahme zitiert wurden, bestand darin, daß sie unvollständig zitiert und damit der Sinn der Gesamtaussage fast schon auf den Kopf gestellt wurde. Dieses Zitat hat mich außerdem davon überzeugt, daß in Wirklichkeit bei der Auswertung der Studien für diese Stellungnahme wahrscheinlich gar keine ergebnisoffene Analyse stattfand, sondern das negative Urteil von Frau Professorin Hübner und ihren Mitautoren zum Fasten als supportive Maßnahme bei einer Chemotherapie schon im Vorfeld der Auswertung feststand. 

    Leider konnte ich von dieser Quelle nur den Abstract lesen, weil der Volltext sich hinter einer Bezahlschranke befindet. Aber das macht nichts. Vielleicht haben auch die Autoren der Stellungnahme nicht mehr als das gelesen, denn das Zitat stammt aus dem Abstract. Vollständig lautet es: "Fasting of at least 24 h, appears to be safe and showed some beneficial effects on chemotherapy toxicity, that could be further investigated, however studies presented heterogeneous samples and protocols."  Das Interessante daran ist, daß nur der unterstrichene letzte Teil in der Stellungnahme aufgegriffen wurde - er bestätigt die Einschätzung der Autoren -, aber die nicht unterstrichenen ersten zwei Drittel nicht, die sowohl das Risiko als auch die Toxizität betreffend nicht so urteilten wie die Autoren der Stellungnahme, sondern vielmehr zum selben Urteil wie ich gekommen sind.

    Ganz langsam zum Mitmeißeln: So. Etwas. Passiert. Nicht. Aus. Versehen. 

    Als Nichtwissenschaftler weiß ich nicht, ob so etwas in einschlägigen Kreisen für akzeptabel gehalten wird oder vielleicht doch nicht, aber meiner unmaßgeblichen Meinung nach verfälscht es die zitierte Aussage. Daneben ist es schon mehr als eigenartig, daß der Eifer der Autoren, ihre Urteilsbildung zu begründen, ausgerechnet in dem Moment erlahmt zu sein scheint, in dem man eine so gute Gelegenheit gehabt hätte, einen Irrtum anderer richtigzustellen ... jedenfalls, sofern man wüßte, wie. Aus irgendwelchen Gründen waren die Autoren der Stellungnahme dem Augenschein nach aber nicht interessiert daran, ihre Gegenargumente gegen die Annahme der Autoren jener Quelle vorzubringen, die im Widerspruch zu ihrer eigenen Ansicht stand.

    Hier die Einschätzung in der Stellungnahme, welche zusätzlichen Risiken durch das Fasten während der Chemotherapie entstehen:
    • Gefahr einer Mangelernährung in Bezug auf Makro- und Mikronährstoffe
    • negative Auswirkungen auf die Lebensqualität und 
    • vermehrtes Auftreten von Nebenwirkungen, die potenziell die Behandlung der PatientInnen beeinträchtigen können.

    Glücklicherweise muß ich dazu nicht so ausführlich werden wie bei den angeblich ausgebliebenen Vorteilen des Fastens. Kürzestfassung: In den Studien spiegeln sich die hier aufgezählten Risken jedenfalls nicht wider. 

    Mangelernährung sowieso nicht. Die Auswahlkriterien für die Teilnahme an allen Studien schlossen Patienten mit einem hohen Risiko auf Mangelernährung, etwa Untergewicht, von vorherein aus und als Folge davon kamen Mangelerscheinungen, wie in den Studien auch jeweils erwähnt, ganz einfach nicht vor. Warum das nach Meinung der Autoren in der onkologischen Praxis nicht einfach ebenso gemacht werden können sollte und dann natürlich auch dasselbe Ergebnis zu erwarten wäre, dafür habe ich in der Stellungnahme vergeblich nach einer Erklärung gesucht. 

    Für das Risiko einer Mangelernährung durch Fasten gilt genau dasselbe wie für den Vorteil beim Therapieansprechen durch Fasten: Sie stützen sich auf theoretische Grundannahmen, die in der praktischen Anwendung allerdings nicht belegbar waren.

    Die Punkte 2 und 3 sind erneut als ein einziger Punkt zu verstehen, der lediglich aus zwei verschiedenen Blickrichtungen betrachtet wird: Je mehr Nebenwirkungen die Chemotherapie hat, desto schlechtere Lebensqualität ist zu erwarten - und umgekehrt. Aber konnten die Autoren tatsächlich belegen, daß in den Studien mehr Nebenwirkungen und eine schlechtere Lebensqualität entstanden?

    Kürzestfassung: Sie konnten es nicht. Aber das hat sie nicht daran gehindert, dies wenigstens zu suggerieren.

    Die Autoren arbeiten nämlich mit einer merkwürdigen Milchmädchenrechnung, die nirgends explizit so formuliert ist, aber unausgesprochen dennoch der Argumentation zugrundegelegt wurde: Es wird suggeriert, daß sich die Menge der Nebenwirkungen zwangsläufig erhöht, wenn zu den Nebenwirkungen der Chemotherapie auch noch die Nebenwirkungen des Fastens hinzukommen. Nachdem man ja schon "bewiesen" hatte, daß die Menge der Nebenwirkungen der Chemo durch das Fasten nicht verringert wird, hat man damit quasi automatisch auch bewiesen, daß das Fasten die Lebensqualität der Patienten zwangsläufig verschlechtern muß. 

    Nur ist der Beweis in Wirklichkeit gar keiner. Klammern wir dabei an dieser Stelle die Frage der Toxizität einmal aus und beschränken uns auf die "subjektiven" Erfahrungen der Nebenwirkungen während einer Chemotherapie.

    Es geht dabei ja nie alleine um die Zahl der abgefragten einzelnen Ereignisse, die zu manchen Studien ganz akribisch in der Stellungnahme aufgelistet werden, sondern auch um deren Intensität. Mit gutem Grund werden Nebenwirkungen in vier Grade unterteilt, Grad 1 die harmlosesten und Grad 4 sehr schwerwiegende. Nur kamen beim Fasten keine Nebenwirkungen vor, die Grad 1 übersteigen, und bei den Nebenwirkungen der Chemotherapie in den Studien ergab sich typischerweise für das Fasten eine Verbesserung im Vergleich etwa zu einer Kontrollgruppe bzw. bei längeren Fastenintervallen im Vergleich zu kürzeren Fastenintervallen.

    Hinzu kommt außerdem, daß - mit der Ausnahme der Nebenwirkung "Hunger" - so gut wie keine der angeblichen Nebenwirkungen des Fastens zweifelsfrei dem Fasten tatsächlich zuzuordnen ist. Denn Schwindel, Kopfschmerzen und Müdigkeit zählen ja auch zu den klassischen Chemo-Nebenwirkungen. Woher in drei Teufels Namen sollen denn ausgerechnet die befragten Patienten ihre Nebenwirkungen korrekt einem dieser beiden möglichen Auslöser zuordnen können?  

    Sofern in einer Studie also zwei Nebenwirkungslisten enthalten sind, eine für die Chemo und eine für das Fasten, ist es durchaus möglich, daß ein und dieselbe Nebenwirkung zweimal enthalten ist. Überprüfen konnte ich das allerdings nicht. Aber das macht nichts, denn letzten Endes hat es viel weniger Bedeutung als die Frage, an wievielen Tagen Nebenwirkungen welcher Intensität aufgetreten sind. Und auf diese Frage findet man sowieso keine Antwort. Meiner Meinung nach wurde das in allen Studien nicht befriedigend gelöst. Ist die Angabe "Kopfschmerzen" für einen Patienten nun so gemeint, daß er an einem Tag Kopfschmerzen hatte, haben sie mehrere Tage oder sogar während des gesamten Zyklus angehalten? Gerade die Dauer der Symptome wäre für einen Vergleich mit der Kontrollgruppe schon wichtig gewesen. Wenn beide Gruppen gleich häufig das Auftreten von Kopfschmerzen angegeben haben sollten, würde es ja trotzdem einen gewaltigen Unterschied machen, falls die Fastengruppe diese Kopfschmerzen überwiegend an einem oder zwei Tagen hatten und die Kontrollgruppe an vier oder fünf Tagen.

    Unangenehm fiel mir auch auf, daß in der Stellungnahme ausgerechnet zu einer Studie (Dorff et al.), in der es nicht einen einzigen Fall einer Nebenwirkung von Grad 3 oder schlimmer gegeben hatte, in geradezu anklagender Weise die von den Patienten aufgezählten vergleichsweise unbedeutenden Nebenwirkungen aufgelistet wurden, die von ihnen dem Fasten zugeschrieben wurden:

    Neben der eingeschränkten Aussagekraft ... berichteten die PatientInnen als Nebenwirkungen des Fastens von Fatigue (77 %), Kopfschmerzen (46 %), Benommenheit (46 %) und Hypoglykämien (23 %).

    Ich frage mich gerade ernsthaft, in welcher Form in dieser Stellungnahme wohl mein letzter Blogartikel verarbeitet worden wäre. Würde ich, wenn ich die Version der Frau Professorin und ihres Teams zu lesen bekäme, mir womöglich gleich einen Sarg bestellen wollen? Immerhin habe ich sage und schreibe sechs verschiedene von mir beobachtete Arten von Chemo-Nebenwirkungen aufgezählt. Daß sie allesamt als Nebenwirkung Grad 1 einzustufen waren, also nicht den geringsten gegensteuernden ärztlichen Eingriff benötigten, um von alleine wieder zu vergehen, hätte man bestimmt ebenso unter den Tisch fallen lassen wie die Tatsache, daß ich mich im Alltag dadurch nur an wenigen Tagen und dann auch nur geringfügig beeinträchtigt fühlte. 

    Nebenwirkungen des "Nichtfastens"

    Was in der Stellungnahme nirgends erwähnt wurde und auch in den Studien keine ausreichende Betonung gefunden hat: Es gibt auch Nebenwirkungen positiver Art, die in einigen der Studien explizit auf das Fasten zurückgeführt werden - also Wirkungen, die nicht aktiv angestrebt wurden, aber trotzdem sehr wohl als wünschenswert gelten müßten. In diesem Fall war die nicht fastende Kontrollgruppe gegenüber den Fastenden ebenso wie bei der Toxizität im Nachteil.

    Dazu zählt zum Beispiel das Körpergewicht. In zwei Studien wurde nämlich beschrieben, daß die Patientinnen der Fastengruppe ihr Vor-Chemo-Körpergewicht halten konnten bzw. es sechs Monate danach nach einer vorübergehenden und nur leichten Abnahme wieder erreicht hatten, während mindestens in einer Studie die Kontrollgruppe deutlich an Gewicht zulegte und dieses Zusatzgewicht auch sechs Monate später nicht wieder losgeworden war. 

    Die mittel- und langfristigen gesundheitlichen Zusatzrisiken, die einer Gewichtszunahme zugeschrieben werden, fanden die Autoren der Stellungnahme merkwürdigerweise ganz uninteressant, ebenso wie die Frage, ob und in welcher Weise eine Gewichtszunahme auch kurzfristig die Lebensqualität der Betroffenen zusätzlich zu allen weiteren Belastungen noch mehr beeinträchtigt. Das nimmt auch deshalb wunder, weil es für das Vorkommen und somit auch für die zugehörigen Risiken einer Gewichtszunahme für die nichtfastende Kontrollgruppe - im Gegensatz zum bloßen Popanz der Mangelernährung - in einer Studie handfeste Nachweise gab ... wozu außerdem angemerkt werden sollte, daß diese Nebenwirkung von Chemotherapien besonders bei Brustkrebserkrankungen in Fachkreisen allgemein bekannt ist und deshalb wenig Grund besteht, sie zu bezweifeln.

    Sollte das Desinteresse der Autoren der Stellungnahme an dieser "Nebenwirkung des Nichtfastens" womöglich nur daran liegen, daß diese höheren Risiken bezüglich ihrer Gesundheit wie auch ihrer Lebensqualität der "falschen" Gruppe zuzuordnen sind?

    Eine weitere positive Nebenwirkung des Fastens, wenn sie auch in den Studien keine Rolle spielt, sehe ich in all jenen Fällen, in denen - so wie bei mir - der Patient selbst die Initiative ergreift, weil er Grund zur Annahme zu haben glaubt, daß Fasten die Wirkung der Chemotherapie begünstigt und/oder deren kurz- bis langfristige Nebenwirkungen verringern kann. Selbstwirksamkeit - schon mal gehört, Frau Professorin? Sie gilt als ungefähr so gesundheitsfördernd, wie Übergewicht das Gegenteil zugeschrieben wird.

    Was ich aus meinen bisherigen Erfahrungen aus meiner Krebserkrankung aber gelernt habe: Die ganze onkologische Behandlung zielt im Gegenteil darauf ab, Patienten zu passiven Behandlungsobjekten zu machen, die sich so durch eine vorgegebene Maschinerie durchschleusen lassen, wie es den Behandlern am besten in den Kram paßt - siehe etwa auch den Ultraschall-Termin, der ohne Rücksprache mit mir vereinbart wurde, anscheinend in der Annahme, eine Terminabstimmung mit mir sei überflüssig, weil ich sowieso nichts anderes zu tun hätte, als auf ärztlichen Zuruf hin alles fallen zu lassen, was ich gerade in der Hand habe, und wie von ihm befohlen zu einem Behandlungstermin zu dackeln. Ich habe mich in meinem ganzen bisherigen Leben nur von einer einzigen anderen Art von Institution noch extremer wie eine Nummer als von der Krebsbehandlungs-Maschinerie behandelt gefühlt, und das waren meine Telefonanbieter. Merkwürdigerweise unterscheidet sich diese praktische Erfahrung sehr deutlich von dem, was in all diesen Broschüren so steht, die mir vor Beginn der Chemo ausgehändigt wurden. 

    Ein bißchen zwiegespalten bin ich bei Angeboten wie einer psychoonkologischen Betreuung, Reha-Maßnahmen und Selbsthilfegruppen oder organisierte Veranstaltungen, die sich an Betroffene richten, denn nur weil ich selbst überhaupt keine Lust habe, irgendeine von ihnen wahrzunehmen, falls es nicht aus irgendwelchen Gründen unbedingt erforderlich werden sollte, heißt das ja noch lange nicht, daß sie nicht anderen trotzdem hilfreich sind. Dennoch wird mit ihnen aber das Bedürfnis, selbst aktiv zu werden, um seine Krankheit besser bekämpfen und bewältigen zu können, erkennbar auf eine Weise kanalisiert, bei der eher die Eigeninitative des einzelnen nach den Bedürfnissen des Apparats eingedämmt wird, als die persönliche Erfahrung des Kranken bestmöglich zu dessen Vorteil zu nutzen. Für mich sind solche Angebote eher unattraktiv, weil sie nicht zu meiner Herangehensweise passen. Daß man mich mit dieser Herangehensweise ständig gegen die Wand laufen läßt, ändert daran nichts und ist außerdem ziemliches Pech für die Wand.

    Lese ich nun aber noch die abschließend empfohlene Behandlung für "renitente Trotzdem-Faster" durch ihre Onkologen, geht mir endgültig das Messer in der Tasche auf: 
    • Sollten sich die PatientInnen trotz entsprechender Aufklärung für ein Fasten während ihrer Chemotherapie entscheiden, sollten diese engmaschig von einem/r DiätassistentIn oder einem/r entsprechend qualifizierten ÖkotrophologIn/ErnährungswissenschaftlerIn betreut werden.
    • PatientInnen mit einer (drohenden) Mangelernährung sollten einer engmaschigen Ernährungstherapie nach einem standardisierten Ablauf zugeführt werden. Diese beinhaltet ein Ernährungsscreening und -assessment, eine Diagnose der Ernährungsprobleme, das Setzen von Ernährungszielen, eine Interventionsplanung und -durchführung sowie das Monitoring und
      die Evaluation. Die Ernährungstherapie sollte von qualifizierten
      Ernährungsfachkräften in einem multidisziplinären Team geführt werden.

    Noch habe ich meinen neuen Onkologen nicht kennengelernt, aber ich fürchte, unsere Arzt-Patienten-Beziehung wird ernsthaften Schaden nehmen, falls er Diätassistenten oder Ernährungswissenschaftler auch nur erwähnen sollte. Gerade im Zusammenhang mit meiner Krebserkrankung - so viel steht fest - werde ich Diätassistenten und Ernährungsmediziner nicht einmal im selben Raum dulden, in dem ich mich gerade aufhalte. Und dafür, daß ich mich - und womöglich gar "engmaschig" - von ihnen betreuen lasse, müßte man mich vorher schon erst mal totschlagen. 💀

    Eine der überraschendsten Einsichten, die ich aus den letzten zwei Monaten mitgenommen habe, ist, daß ich mir vorkomme, als wäre ich im Dschungel ausgesetzt worden, aus dem ich mich nun herauskämpfen muß. Irgendwo lauern vielleicht hungrige Raubtiere auf mich, und vor denen müßte ich mich wohl fürchten und sollte ich mich außerdem dringend in acht nehmen. Aber was mich in Wirklichkeit am meisten beschäftigt und mich außerdem daran hindert, so schnell, wie ich es gerne hätte, an einen sicheren Ort zu gelangen, sind die Schlingpflanzen, die Stechmücken und die Blutegel. Die Stellungnahme "Fasten während der Chemotherapie" zähle ich zu den Schlingpflanzen. Sie wird mich nicht daran hindern, weiter nach dem von mir für das sinnvollste gehaltenen Schema zu fasten, aber wenn ich Pech habe, macht sie meine Therapie beschwerlicher als nötig. 


    1 Kommentar:

    1. Perditax, ich danke dir! Du schreibst so herzerfrischend und sprichst mir in vielen Punkten aus der Seele. Ich bin ein ähnlicher Typ wie du und gehe auf dieselbe (?)/ziemlich gleiche (würde ich sagen) Art und Weise an Probleme und neue Themen ran wie du. Daher sind deine Gedanken hier wirklich GOLD für mich wert! Ich wünsche dir auf deinem Weg weiterhin alles erdenklich Gute ❤️

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