Komisch, seither hatte ich überhaupt keine Zeit, und jetzt kann ich gleich einen neuen Blogartikel nachschieben, weil ich gerade genügend Luft dafür habe. Also habe ich ihn auch gleich geschrieben. Aber zuerst mal danke an Ulrike für den Spontankommentar als Reaktion auf meinen letzten Beitrag! Ich kann ja sehen, daß es auf mein Blog Zugriffe gibt, aber es ist doch immer schön, sich wirklich sicher sein zu können, daß man nicht in den leeren Raum hineinpostet. :-)
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Mein Gewicht heute früh: 83,3 Kilogramm, wie das an Tag 2 nach einem viertägigen Fastenintervall im Rahmen des zu Erwartenden gewesen ist.
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Neue Rubrik: Karzinom-Watching
Lymphknoten und Tumor fühlen sich unverändert an, aber das war nach der letzten Chemo ebenfalls mehrere Tage lang so. Es muß so um Tag fünf oder sechs herum gewesen sein, daß die geschwollenen Lymphknoten zwei Tage hintereinander spürbar kleiner geworden sind. Die Ausmaße jetzt bitte nicht zu sehr auf die Goldwaage legen: Erst von gefühlter Tennisballgröße auf einen Tischtennisball - also wirklich eine deutliche Schrumpfung -, dann von Tischtennisball auf eine größere Glasmurmel. Danach veränderte sich bis zum nächsten Zyklus nichts mehr, also warte ich jetzt geduldig auf den Tag fünf des aktuellen Zyklus und wünsche mir für diesmal erst Erbsengröße und am Tag danach, wenn ich einen leicht größenwahnsinnigen Wunsch äußern darf, das vollständige Verschwinden dieser Erbse in den Bereich der Nicht-mehr-Tastbarkeit.
Das würde, falls es so läuft wie beim nächsten Mal, wohl am Mittwoch und Donnerstag geschehen. Von mir aus darf es aber gerne auch schon morgen einsetzen.
Der Tumor hingegen schien mir nach der ersten Chemo, parallel zum Schrumpfen der Lymphknoten, eher größer als kleiner geworden zu sein, aber dafür viel weicher. Offenbar wurden seine Strukturen durch die Chemotherapie beschädigt, und er floß gewissermaßen ein bißchen auseinander. (Klingt das eklig? Nun, mir war die harte Kugel vorher unheimlicher, zumal ich in der Zeit zwischen der Biopsie - ab da konnte ich sie ertasten, weil sie natürlich anschwoll, nachdem man ein Stück aus ihr herausgestanzt hatte - merkte, daß sie auch nach 14 Tagen, als die Schwellung kaum noch an der Verletzung liegen konnte, immer noch nicht kleiner geworden war, sondern sich im Gegenteil sogar etwas größer anfühlte. Ich habe wirklich ein schnellwachsendes Miststück von einem Tumor erwischt.) In der letzten Woche vor der nächsten Chemo-Session konnte ich spüren, daß der zerlaufene Knoten allmählich wieder härter wurde, aber er kam mir am Morgen der zweiten Chemo immer noch ein Stück kleiner als vor Beginn der ersten Chemo vor. Für diesmal würde ich mich sehr freuen, wenn er sich nun so weit verkleinern würde, daß ich ihn nicht mehr richtig ertasten kann.
Erinnert sich hier noch jemand an die Puppentrick-Serie "Kleiner König Kalle Wirsch" von der Augsburger Puppenkiste? Als Kalle Wirsch am Ende seinen Feind und Gegenspieler Zoppo Trump durch die Verwünschung "Du sollst schrumpfen!" tatsächlich zum Schrumpfen bringt? Den Trick würde ich gerade unheimlich gerne auch lernen. ;-)
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Heute morgen war der Schornsteinfeger da, und bei dem muß man immer damit rechnen, daß er sehr früh kommen wird, also möglicherweise, wenn ich noch gar nicht "richtig" angezogen bin. Aktuell führt das zu dem zusätzlichen Problem, daß ich meine Perücke vielleicht noch nicht aufgehabt hätte. Aber ich hatte Glück, ich konnte mich in aller Ruhe zurechtmachen. Denn so weit ging die Wirkung des Fastens auf die Chemo-Nebenwirkungen halt doch nicht, daß mir der übliche Haarausfall erspart geblieben worden wäre, und weil das von vornherein bei meiner Medikation eher unwahrscheinlich war, habe ich mich mit dem Prinzip Hoffnung gar nicht lange aufgehalten und mir gleich eine Perücke bestellt.
Der Haarausfall setzte bei mir ab dem Abend des Tages 14 nach der Chemo ein, was im üblichen Rahmen liegt, aber eigentlich doch merkwürdig ist, da ich zu diesem Zeitpunkt längst keine Nebenwirkungen anderer Art mehr spürte. Die Zerstörung an den Haarwurzeln muß wohl schon einige Tage früher erfolgen, aber danach wohl erst mit zeitlicher Verzögerung bis an die Kopfhaut gelangen. Wie das genau abläuft, sollte ich mal recherchieren.
Danach dauerte es aber noch etliche Tage, bis es schließlich eindeutig war, daß mir nicht genügend Haupthaar übrigbleiben würde, um auf eine Perücke doch noch verzichten zu können, und so ließ ich mir den Kopf erst rasieren, als er schon anfing, einen leicht mottenzerfressenen Eindruck zu machen. Davor war es so, daß ich zunächst ab Tag 14 mehrere Tage lang ein unangenehmes Kribbeln an der Kopfhaut spürte. Am Morgen von Tag 15 behielt ich dann Haare in der Hand, wenn ich an einem Haarbüschel zog, sonst passierte aber noch nichts, auch nach dem Duschen fand ich keine Haare im Sieb, das ich vorsichtshalber im Ablauf angebracht hatte. Das änderte sich dann in den darauffolgenden Tagen schleichend. Tag 16 war der Tag, an dem meine Mutter Geburtstag hatte, und da sah ich eigentlich mit meinen eigenen Haaren noch ganz präsentabel aus, obwohl ich nun schon Haare verlor, wenn ich kräftig den Kopf schüttelte oder mit dem Kamm durchging. Tja, und dann folgte das Wochenende, der Montag, an dem der Friseur zu hatte, dann Allerheiligen, und so wurde es Mittwoch, bis ich, schon ziemlich aufgelöst und bei jeder kleinsten Bewegung Haare um mich verstreuend, endlich meinen geschorenen Kopf bekam, da mein Mann es nicht selbst machen wollte, warum auch immer, denn eigentlich rasiert er sich den eigenen Kopf ja auch.
Merkwürdigerweise fingen die Haare dann umgehend wieder an, stoppelig aus der Kopfhaut herauszuwachsen, allerdings nicht an allen Stellen gleich dicht. Mein Mann hat ebenfalls an mehreren Stellen sich lichtendes Haar, und wir witzelten viel über den Partnerlook, mit dem wir neuerdings herumlaufen. Wobei ich anmerkte, die Lücken an fast denselben Stellen im nachwachsenden Haar fände ich jetzt doch partnerlooktechnisch etwas übertrieben.
Ich nehme an, daß mir dasselbe in knapp zwei Wochen wieder passieren wird, nur eben nun mit den nachgewachsenen Stoppeln, was aber immerhin nicht mehr ganz so lästig sein wird. Allzu optimistisch bin ich nicht, daß ich vor Ablauf des Jahres wieder darüber nachdenken kann, auf eine Perücke zu verzichten. Wie es in den zwölf Wochen von Januar bis März mit der anderen Chemo-Zusammensetzung sein wird, die mir einmal pro Woche eingeflößt wird, weiß ich noch nicht und muß mich wohl überraschen lassen. Schlimmstenfalls werden meine Haare wirklich erst nach Ende der kompletten 24 Wochen Chemotherapie wieder richtig nachwachsen, also wohl ab April.
Die Perücke gefällt mir im Grunde wirklich gut und paßt so sehr zu meinem Typ, daß ich am Überlegen bin, ob ich diese Frisur nicht dauerhaft beibehalten soll, wenn meine Haare erst einmal wieder wachsen, aber ich sehe damit natürlich doch ein bißchen anders aus als mit meinem bisherigen natürlichen Haar. Das heißt, sie wird es kaum verhindern können, daß Leute, die mich regelmäßiger treffen, merken, daß ich anders aussehe, und ich muß damit rechnen, daß manche mir vielleicht Fragen stellen werden, die ich nicht jedem beantworten möchte. Beim Schornsteinfeger, der nur einmal im Jahr kommt, spielen meine Haare aber keine Rolle, also war es mir ganz recht, daß ich ihn nicht mit dem Käppi empfangen habe, das ich sonst daheim trage, weil es einfach so viel bequemer als die Perücke ist - ich sehe damit ziemlich verwegen aus, ein bißchen wie eine Cousine von Captain Jack Sparrow -, denn das fällt natürlich schon auf und führt unter Umständen ebenfalls zu Fragen, die ich nicht gestellt bekommen möchte.
Eines der unterschätzten Dinge, die einen nach einer Krebs-Diagnose so beschäftigen, ist nämlich die Frage: Wem muß ich davon erzählen? Wem will ich davon erzählen? Bei wem will ich es eigentlich nicht, werde aber kaum darum herumkommen? Und wer soll es auf gar keinen Fall erfahren und wie verhindere ich das eigentlich?
Diese Fragen lassen sich natürlich nicht von mir für andere Leute beantworten, nur für mich selbst. Aber ich nehme an, in der Phase, bevor die Diagnose bestätigt ist und man selbst noch zwischen Hoffen und Bangen schwankt, hat vermutlich kaum jemand allzu große Lust, mit einer solchen Nachricht - die sich vielleicht ja doch noch als falscher Alarm herausstellen könnte - allzu sehr hausieren zu gehen. Genau das bringt einen dann aber in Verlegenheit, wenn man mit anderen Leuten zu tun hat, die natürlich überhaupt keinen Grund haben, etwas anderes als die die üblichen normalen Gewohnheiten und normale Verfügbarkeit für Aufträge, für Treffen und Besuche oder auch für einen Gefallen unter Freunden vorauszusetzen - was man selbst aber in Wirklichkeit gerade in diesem blöden Zwischenstadium überhaupt nicht einschätzen kann, und so muß man dann bei solchen Fragen immer ziemlich herumeiern, wenn sie von jemandem kommen, den man - jedenfalls in diesem Stadium - nicht unbedingt einweihen will.
Ich hatte das Pech, daß zwischen der Mammographie mit dem unerwünschten Ergebnis sowie der durch einen glücklichen Zufall bereits am selben Tage ermöglichten Biopsie dennoch eine ziemlich lange Wartezeit von sieben mir sehr lang vorkommenden Tagen bis zur Besprechung der Laborergebnisse lag (ungünstig gelegener Biopsie-Termin mit nur zwei Folgetagen vor dem Wochenende, an das noch dazu ein Feiertag anschloß), also diese Phase relativ lang ausfiel. Gemäß Murphys Gesetz waren diese sieben Tage dann natürlich randvoll gepackt mit freundlichen Anfragen, die eigentlich in normalen Zeiten völlig normal gewesen wären, mich aber in dieser Situation, in der ich noch keinen Schimmer hatte, wie es weitergehen würde, in beträchtliche Verlegenheit brachten.
Also mußte ich mich in dieser Zeit immer irgendwie herausreden. Dabei hielt ich mich aber so eng wie möglich an die Tatsachen, ich sagte, wo es mir nötig schien, bei mir stünde eine Operation an, deren genauen Termin ich noch nicht kennen würde, deshalb könne ich noch nicht verbindlich zusagen, würde das aber in Bälde nachholen. Daß vorerst keine OP anstehen würde, konnte ich zu dieser Zeit ja noch nicht wissen.
Geringfügig anders lief das bei meiner Nachbarin, diejenige mit der Katze, die ich im Sommer so lange betreut hatte, als sie in einer stationären Therapie war. Ich übernahm das Katzensitting dann noch ein weiteres Mal, als sie sich ziemlich kurz danach unglücklicherweise eine heftige Lungenentzündung zuzog und zwei Wochen lang ins Krankenhaus mußte, und weil das wohl durch eine Grunderkrankung der Lunge mitausgelöst worden war, sollte sie irgendwann dann noch in eine Reha kommen, um mit dieser Krankheit möglichst gut umgehen zu lernen. Murphys Gesetz führte dazu, daß die Nachbarin ausgerechnet in diesem Stadium bei mir klingelte, um mir freudestrahlend zu verkünden, die Reha sei von ihrer Krankenkasse genehmigt und werde in einer Woche starten. Ob ich mich wieder um die Katze kümmern würde?
Als sie aus dem Krankenhaus gekommen war, hatte sie mir noch gesagt, zur Reha werde sie die Katze in eine Katzenpension geben, da sie Hemmungen hätte, mich so oft in Anspruch zu nehmen. Davon war auf einmal keine Rede mehr. Aber ich hatte damals natürlich auch abgewunken und ihr gesagt, sie könne gerne auch mich noch einmal ansprechen. Was sie nun auch getan hatte - nur war das jetzt natürlich ungünstig. Also sagte ich ihr, leider müsse sie sich doch jemand anders suchen, und begründete das mit dieser OP, deren genauen Termin ich erst noch erfahren, die aber mit zu hoher Wahrscheinlichkeit in den fraglichen Zeitraum fallen würde.
Damit hatte meine Nachbarin natürlich überhaupt nicht rechnen können, und ebenso lag ihre Frage nahe, worum es bei meiner OP den ginge. "Das weiß ich auch erst nach meinem nächsten Arzttermin ganz genau", sagte ich und fand selbst, daß ich sie damit eigentlich näher an die korrekte Antwort auf ihre Frage brachte, als mir das eigentlich lieb gewesen wäre. Aber so ist das eben, wenn man sich ohne lange Vorbereitung irgendwie herausreden muß. So richtig überzeugend fällt das dann manchmal nicht aus.
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Kurzer Einschub, weil von meinen Kunden in gerade dieser Phase mehrmals als Reaktion per E-Mail kam: Oje, doch hoffentlich nichts Schlimmes? Darauf habe ich nie direkt eine Antwort gegeben, denn beide Möglichkeiten: "Doch, ich habe vermutlich Krebs" und "Nee, keine Sorge, nichts Schlimmes" gefielen mir nicht. Was geht es meine Kunden an, daß ich Krebs habe, noch dazu, solange die Diagnose noch gar nicht bestätigt ist? Ich lege keinen Wert darauf, daß sie dann womöglich sofort nach einem Nachfolger für mich suchen, weil sie glauben, sich absichern zu müssen, wenn ich - so stellen sich das ja viele spontan vor - schon mit einem Fuß im Grab stehe? Ich habe jetzt nicht die Absicht, nach Ende der Therapie zwar genesen zu sein, aber keine Kunden mehr zu haben. Alternativ kann ich ihnen aber auf eine solche Frage bloß eine glatte Lüge auftischen, und so was mache ich aus Prinzip nicht gerne.
Ich muß gestehen, seit dieser kurzen Phase vor der Diagose ist die Floskel "Wie geht es dir/Ihnen?" ganz generell zu einem roten Tuch für mich geworden. Wieso sagen die Leute so was überhaupt, wenn sie damit sowieso kein ehrliches Interesse ausdrücken wollen? Das als Höflichkeitsfloskel zu bezeichnen, finde ich fast schon unverschämt, denn es ist, näher betrachtet, überhaupt nicht höflich. Es bedrängt im Gegenteil Menschen, die ernsthafte Sorgen haben, sich entweder Leuten anzuvertrauen, die sich für ihr Befinden in Wirklichkeit gar nicht interessieren, oder ihnen eine Lüge zu erzählen. Was genau sollte daran also höflich sein? Ich wünschte, diese Floskel würde genauso aussterben, wie Corona das lästige Händeschütteln und die noch lästigeren Umarmungen unter Leuten, die einem eigentlich gar nicht so wahnsinnig nahestehen, glücklicherweise zum Verschwinden gebracht hat.
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Zum Glück bin ich psychisch robust genug, um solche kleinen Ärgernisse wegzustecken, ich habe es lediglich als weitere lästige Merkwürdigkeit im Umgang mit anderen Menschen - unter vielen anderen - verbucht. Meine oben erwähnte Nachbarin läßt sich leichter als ich aus der Fassung bringen, obwohl sie andererseits dasselbe Problem hat wie ich: Wir haben beide nicht laut genug "Hier" geschrien, als das Taktgefühl verteilt wurde, und wir tappen öfter mal in Fettnäpfchen. Der Unterschied zwischen ihr und mir besteht darin, daß ich mir dessen bewußt bin und versuche, es mit Humor zu nehmen, während sie ein negatives Feedback anderer - auch solches, das sie sich nur einbildet - in endlose Grübeleien und zuweilen auch in einen langanhaltenden Groll auf den Feedbackgeber stürzt. Weil sie sich selbst aber niemals zu fragen scheint, was ihr Gegenüber erwartet, erhofft oder zu vermeiden versucht, kam es zwei Tage danach - immer noch in der Phase, als ich noch nicht sicher wußte, ob ich Krebs hatte oder nicht - zu einem Zusammentreffen, in dem sie es ausnahmsweise doch einmal geschafft hat, mein bis dahin trotz allem halbwegs intaktes seelisches Gleichgewicht stärker als erwartet zu erschüttern.
Das war am späten Samstagvormittag, genau zu der Zeit, in der ich nahezu immer in der Küche beschäftigt bin und es gar nicht leiden kann, durch ein Klingeln an der Wohnungstür unterbrochen zu werden, weil mir erstens kurz vor der Frühstückszeit jede Minute kostbar ist und ich zweitens wenig Lust habe, in meiner geblümten Kittelschürze an die Wohnungstür zu gehen, die ich mir beim Backen fast immer überziehe (weil ich mich, wenn ich das nicht tue, hinterher immer sofort umziehen müßte). Trotzdem klingelt sie, wenn sie samstags irgendwas von mir will, grundsätzlich immer um diese Zeit. Daß ich dann noch jedes Mal ziemlich abgehetzt und äußerst kurz angebunden bis an die Grenze zum Unhöflichen gewesen bin, scheint ihr nie zu denken gegeben haben, oder wenn, hindert es sie jedenfalls nicht daran, mich trotzdem immer dann zu stören, wenn ich eine Störung erkennbar gar nicht gebrauchen kann.
Diesmal wollte sie mir vor allem sagen, daß eine andere Nachbarin im Haus sich um ihre Katze kümmern würde. Aber außerdem drückte sie mir auch noch eine Topfpflanze in die Hand, ein weißes Alpenveilchen. "Wegen deiner Situation", sagte sie mit ihrem üblichen etwas naiven, aber sehr freundlichen Lächeln. Ich kann nur raten, was ich dazu für ein Gesicht gemacht habe, ich habe sie jedenfalls schnell abgewimmelt und bin wieder zurück in die Küche gehetzt, um das Frühstück fertigzumachen. Die Topfpflanze stellte ich, weil ich nicht wußte, was ich sonst damit tun sollte, auf den halbgedeckten Frühstückstisch.
Ein paar Minuten kam dann mein Mann zum Frühstücken und blickte fragend auf das Alpenveilchen.
"Na, siehst du doch", ätzte ich, während ich die letzten Sachen fürs Frühstück auf den Tisch stellte. "Die [Name einfügen] hat anscheinend Zwei und Zwei richtig zusammengezählt und verehrt mir nun unter diesem Eindruck ein schönes Grabgesteck." Denn genau daran erinnerte mich die Pflanze mit ihren weißen Blüten und ihren efeuartigen Blättern leider ganz gewaltig. (Ja, ich weiß, das Alpenveilchen ist in Wirklichkeit eine ganz normale Zimmerpflanze. Der optische Eindruck bei mir war trotzdem "Grabbepflanzung".)
Mein Mann machte ein betretenes Gesicht, und ich nahm die Pflanze und stellte sie nun möglichst weit weg, an eine Stelle im Raum, wo ich sie im Sitzen nicht mehr sehen konnte, weil ich merkte, daß ich sie einfach nicht sehen wollte. Nicht jetzt, und nicht in "meiner Situation", in der ich noch keinen Kompaß und keine Landkarte hatte, aber mich vielleicht mein Weg ja wirklich viel zeitiger, als ich mir das wünschte, ins Grab führen konnte. Später am Tag kam mein Sohn zu Besuch und auf meine Bitte hin hat das Alpenveilchen in seiner Wohnung eine neues Zuhause bekommen. Erst wollte er es nicht, aber er hat sich dann nicht ernsthaft dagegen gewehrt - offenbar hatte er gemerkt, daß mich diese ja eigentlich nett gemeinte Gabe stärker aus dem Gleichgewicht gebracht hatte als "meine Situation" als solche. Ich bin zwar nicht in Tränen ausgebrochen oder sonstwie theatralisch geworden, aber es war mir wohl trotzdem anzumerken, daß mich gerade diese eigentlich nett gemeinte Liebesgabe ernsthaft erschüttert hatte. Ich glaube, ich hätte die Topfflanze wohl trotz aller Skrupel, mit etwas Lebendigem so umzugehen, in den Müll geworfen, falls er sie nicht mitgenommen hätte.
Eigentlich ist das ja merkwürdig, daß so eine Kleinigkeit einen dermaßen umhauen kann, aber das hat wohl etwas mit dem Kontrollverlust zu tun, der sich aus allem Unerwarteten ergibt. Ich vertrage so etwas immer nur in begrenzter Dosierung, und diese spezielle Überraschung mit ihrem besonders unguten Assoziationspotential war dann wohl doch für dieses Mal eine zu viel für mich gewesen.
Keine Sorge, ich bin darüber hinweg. Ich habe das nur deshalb so ausführlich beschrieben, weil es einen dieser neuralgischen Punkte beschreibt, der so viele Leute in Verlegenheit bringt, wenn sie davon hören, irgendwer, den sie kennen, sei an Krebs erkrankt. Denn die wenigsten wissen, wie sie mit so etwas umgehen sollen. Krebs berührt bei jedem natürlich Urängste, man stellt sich vor, dieser anderen Person ist genau das passiert, was man sich für sich selbst als den schlimmstmöglichen Alptraum vorstellt. Natürlich weiß man dann erst mal nicht, wie man ihr gegenübertreten soll, weil ja alles und dessen Gegenteil falsch sein könnte. Niemand möchte ja jemanden, der schwer krank ist, aus Versehen kränken. Auch im Fall meiner Nachbarin habe ich keinen Grund, ihr irgendwelche bösen Absichten zu unterstellen, die Sache war einfach ein versehentlicher Griff ins Klo, und ich weiß ja nicht einmal, was genau sie sich unter "meiner Situation" überhaupt zu diesem Zeitpunkt vorgestellt hat.
Also, mir ist das jedenfalls immer so gegangen, daß ich unsicher wurde, wenn mir zugetragen wurde, jemand habe Krebs oder hätte ihn gehabt. Ich war mir nie sicher, woran ich erkenne, ob es dem Betreffenden recht wäre oder er sich sogar darüber freuen würde, wenn ich ihn darauf anspreche, oder ob ich es vorsichtshalber von vornherein immer bleiben lassen sollte. Es ist echt interessant, die Situationen, die ich vorher erlebt habe, nun aus der Gegenperspektive noch einmal neu zu beurteilen. Aus aktueller Sicht würde ich jetzt niemanden mehr darauf ansprechen, der mir nicht aus eigenem Antrieb von seiner Krankheit erzählt, auch wenn ich davon weiß.
Meine zwei wichtigsten Erkenntnisse:
Erstens: Bitte niemals drängeln, wenn jemand nicht mit der Sprache herauswill, obwohl man merkt, daß was nicht stimmt oder vielleicht auch von Dritten schon gehört hat, was mit ihm los ist. Klar macht das unsicher, aber das muß man halt aushalten. Das gebietet der Respekt vor dem Willen der Person, die gerade das viel schwerwiegendere Problem hat als man selbst. Wenn sie es einem anvertrauen will, dann wird sie es entweder von alleine tun oder es deutlich genug signalisieren, daß sie eigentlich doch gerne gefragt werden möchte, obwohl sie das Thema nicht selbst ansprechen will.
Zweitens: Bitte über anvertraute schwere Erkrankungen nichts einfach an andere Leute weitererzählen, sofern einem das nicht ausdrücklich so aufgetragen wurde. Das erspart beiden Seiten, sich überhaupt mit dem ersten Problem befassen zu müssen.
Ich hätte beispielsweise gut und gerne darauf verzichten können, am Geburtstag meiner Mutter der versammelten Verwandtschaft zu erzählen, daß ich Krebs habe, aber meine Mutter hatte es vorher schon einer ihrer Schwestern weitererzählt, die es dann der zweiten Schwester sagte. So blieb mir kaum etwas anderes übrig, als mein (noch nichtsahnender) Patenonkel mir die nun keineswegs mehr unverfängliche Frage stellte "Wie geht es dir?" und ich von zwei anderen Anwesenden wußte, daß sie von meiner Erkrankung schon wußten. Also atmete ich tief durch, sagte "Den Umständen entsprechend gut" und erzählte dann, was die Umstände waren, ließ die zu erwartende Betroffenheitslyrik über mich ergehen, gab kurz Auskunft über alles, was die Gäste wissen wollten, und war dann erleichtert, als das Thema nach einer Viertelstunde so weit überstanden war, daß wieder die üblichen Geburtstagsgespräche unter vier überlebenden Geschwistern, alle hoch in den Achtzigern bzw. in den frühen Neunzigern, entstanden und es doch ein normaler Mama-Geburtstag wurde.
Meiner Mutter von meiner Erkrankung zu erzählen, fand ich übrigens schwieriger als alles andere. Das hat mit meinem Vater zu tun, der vor über 30 Jahren an Leberkrebs erkrankte und die Diagnose nur um wenige Monate überlebte (was auch von vornherein zu befürchten gewesen war). In dieser Zeit, so hatte ich den Eindruck, mußte er mit seinen Ängsten und der Auseinandersetzung mit seinem nahenden Tod komplett alleine fertigwerden, weil meine Mutter vollständig durchdrehte, wenn er auch nur andeutete, er werde bald sterben.
"Ich habe Angst davor zu sterben", sagte mein Vater einmal wenige Wochen vor seinem Tod am Küchentisch ganz unvermittelt mit gepreßter Stimme, als ich gerade auch da war. Meine Mutter rannte sofort heftig aufschluchzend aus dem Raum, und er verstummte wieder und starrte wie vorher auf den Tisch. Ich hätte ihm so gerne etwas gesagt oder etwas getan, das ihm helfen würde, aber ich war damals ja erst 23 und wußte nicht, was oder wie, meine ältere Schwester saß neben mir, sagte auch nichts darauf und hatte ja augenscheinlich auch keine Ahnung, was sie nun tun sollte. Ich schäme mich immer noch ein bißchen dafür, daß mir so gar nichts einfiel, bis meine Mutter mit mühsam beherrschter Miene wieder in den Raum trat und der richtige Moment für das richtige Wort damit endgültig verstrichen war, weil nun natürlich gemäß einer unausgesprochenen zwingenden Forderung nichts mehr gesagt werden durfte, was ihre Fassade erneut zum Zusammenbruch bringen würde.
Wie kann man einen Menschen, noch dazu den eigenen Ehemann und den Vater, in so einer Lage nur so mit seinen absolut nachvollziehbaren Ängsten so alleine lassen? Wir haben ihm damit viel Schlimmeres aufgebürdet, als nötig gewesen wäre, zu all dem hinzu, was sowieso nicht zu verhindern war. Wir haben damals alle versagt, und das habe ich mir - aber ehrlich gesagt auch meiner Mutter - bis heute nicht ganz verziehen.
Seit damals hatte ich mir jedenfalls vorgenommen, es keinesfalls für mich selbst so bereitwillig wie mein Vater zu akzeptieren, die Gefühle anderer über meine eigenen zu stellen, wenn es nicht bei ihnen, sondern bei mir um Leben oder Tod ginge. Aber im Moment bin ich ja trotz Krebs nicht in akut lebensbedrohlicher Lage. Mir tut auch nichts weh, und ich bin nicht einmal in meiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Trotzdem war für mich das einzige, was ich richtig schwierig fand, meiner Mutter zu sagen, daß ich Krebs habe, weil ich mich so vor ihrer Reaktion gefürchtet habe.
Deshalb habe ich bei ihr in diesem ersten Gespräch auch die positiven Seiten an meiner Diagnose überbetont und die weniger guten kurzerhand unter den Tisch fallen lassen. Inzwischen haben wir uns ja alle an mein "neues Normal" gewöhnt, aber es fiel mir auf, daß ich, egal wie flapsig, meiner Mutter gegenüber keinesfalls erwähnen sollte, daß ich womöglich auch an meiner Krankheit sterben könnte, denn dann flippt sie geradezu aus. Ihr ist der Gedanke daran offenbar völlig unerträglich. - Zum Glück ist es sowieso eher unwahrscheinlich, daß ich vor ihr sterben werde, ansonsten würde ich ihr das wohl verklickern wollen, egal wie ungern sie es hört. Ich hätte, finde ich, ein Recht, darüber zu sprechen, was ich über meinen möglicherweise nicht mehr fernen Tod sagen will, und wenn ich darüber nicht ausflippe, kann ich doch auch verlangen, daß andere es nicht tun. Aber so, wie die Sache im Moment ist, können wir halbwegs in Anstand über meine Krankheit sprechen, ohne daß der böse Sensenmann dabei mit ins Spiel kommt, und so will ich diese Art von Auseinandersetzung auch nicht mit der Brechstange herbeiführen.
Zum Glück gehen alle, mit denen ich sonst zu tun habe, mittlerweile wieder - im Rahmen ihrer Art, normal zu sein - ganz normal mit mir um. Die aus der Reha zurückgekehrte Nachbarin (die mit dem Alpenveilchen), deren Schwester vor zwei Jahren Brustkrebs hatte, häkelt mir gerade eifrig ein Nachtmützchen aus Babygarn, stört mich in den unmöglichsten Momenten mit Anproben, und hat mir einige sehr praktische, ebenfalls selbstgehäkelte Wollmützen geschenkt, die sie einst ihrer Schwester gegeben hatte, damit sie sich nicht bei jedem kleinen Einkaufsgang mit der Perücke ausstatten muß. Seit sie krebsfrei ist, hat sie aber alles aus ihrer Wohnung verbannt, was sie an ihre Erkrankung erinnert, und so nahm meine Nachbarin die Mützen wieder an sich. Ich trage ihr auch nichts nach wegen des verunglückten Geschenks (so was kann halt passieren), und habe ihr noch nicht einmal davon erzählt, wie sehr mich das kurz aus der Bahn geworfen hat.
Mein Mieter aus dem Erdgeschoß, den ich notgedrungen einweihen mußte, weil ich just am Nachmittag des Tages, als mir frühmorgens in der Klinik ambulant der Port gelegt worden war, in einer Hausverwaltungssache zu ihm mußte, worauf er natürlich wissen wollte, was es mit dem großen Pflaster auf meinem linken Handrücken auf sich habe, war neulich bei mir, vergewisserte sich erst mal vorsichtig, ob ich gleich tot umfallen oder in Tränen ausbrechen oder sonst irgendetwas Gruseliges anstellen würde, entspannte sich, als das nicht geschah, und war von da an wieder wie sonst. Mein Bruder und meine Schwester haben nach dem ersten Schock auch zu einer normalen Umgangsweise zurückgefunden, und mein lieber Sohn, der nun einmal in solchen Sachen ganz die Mama ist, reagierte sowieso am gechilltesten überhaupt. Wir haben sogar völlig unbefangen über den etwaigen Erbfall zu seinen Gunsten gesprochen und über die praktischen Erfordernisse, die damit einhergehen würden.
Mit meinem Mann diskutiere ich längst eifrig, wie sonst über andere Themen, die mich beschäftigen, interessante Detailbeobachtungen der Chemo-Nebenwirkungen, der Entwicklung des Tumors und der Lymphknoten sowie allgemeinere Überlegungen über den Krebs an und für sich, und ansonsten machen wir das, was wir immer machen - am Samstag, am Tag nach der letzten Chemo, hatten wir beispielsweise einen sehr vergnügten letzten Flohmarktbesuch im Jahr ... nächstes Jahr im Mai dann hoffentlich wieder in alter Frische und mit vielleicht ja bereits ausreichend nachgewachsenen Haaren, um sogar beim nächsten Flohmarkt schon wieder auf die Perücke verzichten zu können.
Hi Perditax, natürlich lese auch ich immer wieder in deinem Blog! :) Apropos Haare, die nach der Chemo nachwachsen: die können unter Umständen erstmal komplett anders aussehen, als vorher. Oft etwas lockig...
AntwortenLöschenIch wünsche dir alles Gute und drück die Daumen! LG matz
Wie schön, von dir zu lesen, Matz! Alles Gute auch dir. Ich habe mich schon öfter gefragt, wie es dir wohl gehen mag. Das mit den Locken habe ich auch schon gehört. - Aber erst mal kämpfe ich mit aus der Kopfhaut sprießenden kratzigen Borsten, die mir das Käppitragen gerade etwas unangenehm machen. Also versuche ich mich in der hohen Kunst des Turbanbindens. Eine echte Herausforderung für einen Grobmotoriker wie mich. ;-)
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