Montag, 31. Januar 2022

Die Elefantin im Raum. Oder: Diskriminieren für Fortgeschrittene

Mein Gewicht heute früh zu Beginn des nächsten viertägigen Fastenintervalls: 92,8 Kilogramm. 300 Gramm mehr als vor zwei Wochen, aber das liegt im normalen Schwankungsbereich, innerhalb dessen sich mein Gewicht seit Jahresbeginn bewegt hat. Wichtig war mir für heute eigentlich nur, daß ich das Maximum von Anfang Dezember nach Ende der Low-Carb-Phase (93,1 Kilogramm) weiterhin unterbiete, also bezogen darauf keine Zunahme verzeichne, denn daß ich aktuell leider mit keiner weiteren Abnahme rechnen kann, hat sich ja schon letzte Woche herauskristallisiert. (Ich gehe auch davon aus, daß ich am Freitag kein neues Tiefstgewicht haben werde, sondern so um die 87 Kilogramm herum aufschlage.) Es sei denn natürlich, die Fleischbrühe-Aktion beim letzten langen Fastenintervall (die ich diesmal nicht mehr machen werde) war doch irgendwie gewichtsrelevant. Das kann ich mir zwar eigentlich nicht vorstellen, aber sollte ich nach dem Ende dieses langen Fastenintervalls auf einmal doch einen Trend nach unten bemerken, denke ich noch einmal darüber nach. Einstweilen bin ich darauf eingestellt, daß ich die nächsten vier Wochen lang ungefähr auf demselben Gewichtslevel bleiben werde. Danach ist es erstens März, ein Monat, in dem ich immer abnehme, und zweitens beginnt damit meine zweite Low-Carb-Phase, die darauf eine verstärkende Wirkung haben sollte. Es bleibt also spannend.

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Auf ein anderes spannendes Thema bin ich am Wochenende gestoßen:

Vor einiger Zeit nämlich betitelte ich einen Blogartikel mit "Der Elefant im Raum". Er hatte zum Inhalt, daß merkwürdigerweise Politiker und medizinische Experten mit auffälligem Übergewicht - etwa Angela Merkel, Peter Altmaier, Helge Braun oder Thomas Mertens - niemals darauf angesprochen werden und ebensowenig selbst dann darauf zu sprechen kommen, wenn es im jeweiligen Kontext naheliegend wäre. Seit Beginn der Coronapandemie kam es schon öfter zu in meinen Augen skurrilen Gesprächssituationen, in denen etwa in epischer Breite über Adipositas und ein damit verbundenes höheres Coronarisiko theoretisiert, aber dabei angestrengt übersehen wurde, daß man in Gestalt der interviewten Person das praktische Beispiel dieses Risikofaktors ja direkt vor der Nase hatte. Ich war sicherlich nicht der einzige Zuschauer, der sich bei solchen Gelegenheiten gefragt hat, wie es dem dazu Interviewten mit dieser höheren Gefährdung persönlich geht, und darüber gerne etwas aus seinem eigenen Mund erfahren hätte. 

Vielleicht haben die Interviewer solche Fragen ja deshalb lieber ganz umschifft, weil sich dazu dann die eine oder andere Folgefrage ebenfalls aufgedrängt hätte, die ihnen zu intim gewesen wäre. Etwa, warum die Betreffenden übergewichtig seien und ob sie nicht etwas dagegen tun wollten.

Sei es aber wie es sei: Übergewicht bei Politikern oder sonstigen Personen des öffentlichen Lebens wird, falls es nicht im Gegenteil zum Markenzeichen gemacht wird - oder auch im Falle einer hohen Gewichtsabnahme, etwa bei Siegmar Gabriel nach seiner Magenverkleinerung -, so hartnäckig beschwiegen, daß ich dabei an die Redensart vom "Elefanten im Raum" denken muß, also ein Tabu. Eine Sache, die nicht angesprochen wird, obwohl sie sich eigentlich aufdrängt. Mit dem Elefanten im Raum ist also in diesem Zusammenhang nicht die Körperform gemeint. Das sollte ich erwähnen, um die Shitstorm-Schwelle ein bißchen höher zu setzen, da ich mich mal wieder in vermintes Gelände begeben will und nun im Grunde nur darauf hoffen kann, daß mein bescheidenes Blog immer noch tief genug unter der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle liegt, um den überall lauernden einschlägigen Berufsempörten zu entgehen.

Ricarda Lang, die zusammen mit Omid Nouripur am Samstag Bundesvorsitzende der Grünen geworden ist, passiert nämlich merkwürdigerweise das Gegenteil, und das beschäftigt mich. Ich vermute, daß auch das Übergewicht der zuvor genannten Personen in den sozialen Medien zuweilen ähnlich gehässige Kommentare ausgelöst hat, wie ich sie auch über Frau Lang bei Twitter nachlesen konnte. Neu bei Ricarda Lang ist, daß es in ihrem Fall schon seit längerem immer wieder bis in die Mainstream-Medien überschwappt, indem über solche Reaktionen berichtet wird, selbstredend, ohne sie auch gutzuheißen. Dennoch bedeutet es, auch den nicht social-media-affinen Teil der Bevölkerung darüber zu informieren, daß Lang wegen ihres unübersehbar höheren Körperumfangs angefeindet wird. So manchen Durchschnitts-Zeitungsleser wird so etwas natürlich erst auf den Gedanken bringen, unfreundliche Dinge, die er sich über Frau Lang im Stillen gedacht hat, nun auch mal laut auszusprechen, wenn das so viele andere Leute ebenfalls tun. 

Solche Berichte haben meines Erachtens eine eher verstärkende Wirkung auf aggressive Anfeindungen. Ich finde aber nicht nur eine solche Berichterstattung problematisch, ich sehe die Sache als solche viel ambivalenter, als das wahrscheinlich spontan anderen Leuten einleuchten würde. Und das will ich hier mal auseinanderdröseln.

Eines vorab, ich halte es für einen beschissenen Stil, einen Politiker, mit dessen Sachmeinungen man nicht einverstanden ist, für sein Äußeres oder sonst im persönlichen Bereich zu kritisieren - und daß so etwas für gewöhnlich männlichen Politikern seltener als weiblichen passiert, ist mir natürlich auch schon aufgefallen. So etwas sind billige Ablenkungsmanöver, mit denen die Debatte von den Inhalten, über die man ja auch kontrovers diskutieren könnte, weggeführt wird, und genau dies ist wohl auch das Ziel dabei.

Verzwickter wird die Sache aber dann, wenn das Äußere auf eine Haltung schließen läßt oder sogar ausdrücklich mit Argumenten gerechtfertigt wird, die im Widerspruch zu den von einem eingenommenen Amt vertretenen inhaltlichen Positionen stehen. Mein Lieblingsbeispiel dafür ist der gräßliche Zustand des Gebisses unseres aktuellen Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach. Unbehandelte schlechte Zähne bedeuten ein erhöhtes Krankheitsrisiko, und wenn unser Gesundheits-Oberfürsorger, der das natürlich auch ganz genau weiß, ein solches zusätzliches Risiko für sich persönlich lieber eingeht, als seine Zähne sanieren zu lassen, sehe ich schon einen berechtigten Anspruch der Öffentlichkeit, von ihm zu erfahren, welche Gründe er dafür hat. Immerhin ist es Bestandteil seines Jobs, auf uns einzuwirken, damit wir alles Nötige tun, um gesund zu bleiben.

Was Ricarda Langs Fall ähnlich kompliziert macht, ist ihre Rolle als neue Bundesvorsitzende der Grünen. Es gibt unter den gehässigen Kommentaren zu ihrer Person nämlich  - neben der Mehrheit der reinen Beleidigungen aus der untersten Schublade besonders kleiner Geister - auch Aussagen, die ziemlich genau das wiedergeben, was die Gesundheitspolitik aller Parteien, auch der Partei der Grünen, zum Thema Adipositas tatsächlich vertritt - und was uns "Normal-Fetten" ohne Parteiämter und -würden bei jeder sich bietenden Gelegenheit um die Ohren gehauen wird, ohne danach zu fragen, ob wir das vielleicht ebenfalls beleidigend finden. Wenn es um solche Dinge geht, stehe ich auf dem Standpunkt: Gleiches Recht für alle. Ein Vorwurf dieser Art, der Ricarda Lang gegenüber in Ton und/oder Inhalt für inakzeptabel gehalten wird, ist es Ihnen und mir gegenüber ebenfalls. Oder umgekehrt: Falls niemand etwas dabei findet, wenn Sie und ich solchen Vorwürfen ausgesetzt werden, dann muß eine Ricarda Lang das natürlich auch aushalten.

Nachfolgend ein paar Beispiele für das, was ich damit meine.

Die Annahme, daß Dicke ihren Körper nicht im Griff haben, ist absolut üblich. Falls dies beleidigend sein sollte, wenn ein anonymer Poster in den sozialen Medien dies über Ricarda Lang schreibt, dann ist es genauso beleidigend, wenn ein Ernährungsexperte es - natürlich in der Regel fachsprachlich verklausuliert - zu niemand Speziellem sagt, aber damit wir alle gemeint sind. Das Beleidigende erhält seine besondere Würze dadurch, daß das Nicht-im-Griff-Haben zwar meistens sogar zutreffend beschrieben ist, es aber natürlich nicht in der Macht der Betroffenen liegt, daran etwas zu ändern, solange die Handlungsempfehlung von Experten, der allgemein vertraut wird ("Follow the Science"), aus Methoden besteht, die nachweislich bei mehr als 90 Prozent der Anwender nicht das gewünschte Ergebnis erbringen.

Ungeachtet der wissenschaftlich belegten Erfolglosigkeit des Kalorienmodells wird aber dennoch nicht nur von Dummschwätzern in den sozialen Medien, sondern auch von den Medien und der Gesundheitspolitik immer noch gerne so getan, als läge dieser Erfolglosigkeit ein persönliches Versagen des an seiner Gewichtsabnahme Gescheiterten zugrunde. Wie absurd das ist, möchte ich mit einem Vergleich illustrieren: Man stelle sich nur einmal vor, mehr als 90 Prozent eines Abi-Jahrgangs würde durch die Abiturprüfung fallen. Würde der zuständige Kultusminister sich danach zu der Behauptung versteigen, das läge einzig und allein an der Dummheit, Faulheit und Willensschwäche der Schüler, würden höchstwahrscheinlich nicht nur die Schüler empört reagieren. Ihre aufgebrachten Eltern würden dann das Kultusministerium vermutlich in Schutt und Asche legen. 

Für uns gibt es diese Sorte Solidarität nicht. Auch diejenigen, die uns nicht für willensschwach und dumm halten (was fast immer bedeutet, daß sie uns stattdessen als chronisch krank abstempeln, was keineswegs richtiger ist), sehen offenbar keine Notwendigkeit, solchen Unterstellungen aktiv entgegenzutreten. In diesem Fall leuchtet es mir nicht ein, daß das speziell für Frau Lang anders sein soll. 

Ein Klassiker, den bestimmt jeder Übergewichtige schon mal irgendwo gelesen hat: Übergewichtige, so heißt es darin sinngemäß, seien Schmarotzer im Gesundheitssystem, ihr Verhalten sei nicht nur absichtlich selbstschädigend, sondern gegenüber den Schlanken unanständig, weil Dicke selbstverschuldet kostspielige medizinische Ressourcen übermäßig in Anspruch nehmen müßten, die deshalb den Schlanken bei ihren nicht selbst verschuldeten Leiden nicht zur Verfügung stehen und noch dazu von ihnen mitbezahlt würden. 

Einmal davon abgesehen, daß es grober Unfug ist, zu behaupten, daß Schlanke per se immer ohne eigenes Mitverschulden medizinische Behandlung benötigen: Das besonders Perfide daran ist, daß in Wirklichkeit das Gegenteil richtig ist. Die aufwendigste und natürlich auch kostspieligste Behandlung ist nämlich im statistischen Durchschnitt gesehen die der Krankheit, an deren Ende der Tod des Patienten steht. Wer gesund lebt, bei dem passiert sie durchschnittlich in höherem Alter als bei denen, die - ob nun absichtlich oder unabsichtlich - ungesund leben, aber natürlich geschieht es bei ihm ebenfalls, und billiger ist dessen letzte Behandlung deswegen noch lange nicht. Jemand, der ein längeres Leben hat, ist vor dieser letzten Erkrankung aber natürlich auch öfter "normal" krank gewesen und mußte eine Behandlung in Anspruch nehmen als jemand, der zehn oder zwanzig Jahre jünger gestorben ist. Als Effekt sind die Krankheitskosten derjenigen, die länger leben - also nach allgemeiner Meinung gesünder gelebt haben - höher als die derjenigen, die das nicht tun und deshalb früher die Radieschen von unten sehen werden. 

Manchmal wünsche ich mir, es würde - von mir aus auch als "Strafmaßnahme" - ein eigenes Kranken-, Pflege- und Rentenversicherungssystem speziell für Leute geschaffen, die sich dem, was derzeit als gesunder Lebensstil gilt, verweigern. Ich möchte wetten, unsere Beitragszahlungen würden von den Tugendbolden innerhalb kurzer Zeit schmerzlich vermißt werden, sobald sie nur noch unter ihresgleichen sind. Und, ja, ich finde, das geschähe ihnen dann ganz recht.

 

Der dritte Satz ist Corona-Schiefdenker-Bockmist, aber die ersten beiden der drei hier wiedergegebenen Sätze könnten auch von Lothar Wieler oder Karl Lauterbach stammen, und ich nehme stark an, wenn ich ernsthaft danach suchen würde, würde ich von beiden auch wirklich vergleichbare Statements finden können. Aber diese Mühe kann ich mir eigentlich sparen, denn solche Aussagen werden von Gesundheitspolitikern aller Parteien regelmäßig getroffen und sind in allen gesundheitspolitischen Debatten üblich. Außer mir scheint so gut wie niemand daran Anstoß zu nehmen, daß es sich insbesondere beim zweiten Satz mit seiner Reduktion des Menschenlebens auf einen gesellschaftlichen Kostenfaktor um eine Verzweckung des menschlichen Lebens handelt, was ich ebenso wie die verwandte Argumentation, die auf die schlechtere wirtschaftliche Verwertbarkeit des dicken Menschen abzielt, als einen Frontalangriff auf die Menschenwürde erachte, der mich jedes Mal an die Zeiten der Volksgemeinschaft unseligen Angedenkens gemahnt - übrigens die einzige mir bekannte Epoche, in der Prävention ähnlich wichtig wie heute genommen wurde.

Da von mir erwartet wird, daß ich als Mitgemeinte das dennoch aushalte, weil niemand an solchen Debattenbeiträgen Anstoß nimmt, dann, bitteschön, gleiches Recht für alle, einschließlich Ricarda Lang. Gerne aber natürlich auch andersherum: Ich verkämpfe mich genau ab dem Moment für Ricarda Langs Recht, nicht in dieser Weise gewogen und für zu schwer für einen gesunden Volkskörper befunden zu werden, wenn ich mich darauf verlassen kann, daß sie das für andere Betroffene ebenfalls tut.

Ich finde, der Verteidiger DKo  beleidigt Ricarda Lang eher noch schlimmer als sein Vorredner, dem man immerhin noch zugute halten sollte, daß er ihr den Respekt nicht verweigern will, nur eben denselben Respekt von ihr bzw. ihrer Partei auch verlangt. Ich nehme an, in seinem Fall geht es um Respekt vor seiner Entscheidung gegen eine Corona-Impfung, was falsch argumentiert ist. Im Gegensatz zu Corona ist Adipositas ja nicht ansteckend. Dennoch finde ich, es ist ein akzeptabler Versuch, auf Augenhöhe zu kommunizieren, auf den man mit entsprechenden Argumenten auch reagieren und vielleicht in ein konstruktives Gespräch kommen könnte, während der Verteidiger Ricarda Langs ihr eine Art Behindertenstatus zuerklärt und sich zu ihrem Beschützer aufschwingt, also sich über sie überhebt und ihr damit ziemlich wirkungsvoll den Mund stopft. Denn was könnte sie als solchermaßen Beschützte noch groß sagen, ohne ihren Verteidiger anzugreifen, das sie nicht klein, häßlich und hilflos wirken läßt? Also das Gegenteil der starken Frau, die sie jedenfalls nach außen zu verkörpern versucht.

Adipositas zu einer chronischen Krankheit zu erklären, die lebenslanger Begleitung durch Fachleute bedarf, ist in der Fachwelt in den letzten Jahren in Mode gekommen, und manche Betroffenen hören das gar nicht so ungern, denn es entlastet von der persönlichen Verantwortung für seinen BMI, was nach entsprechend vielen Fehlversuchen bei den Bemühungen, ihn dauerhaft zu beeinflussen, psychisch eine große Erleichterung sein kann. Es macht die Sache aber eher schlimmer als besser, weil es die eigene Handlungsfähigkeit untergräbt. Das Ziel einer vollständigen Genesung wird außerdem dabei von vornherein aufgegeben, und das liegt überhaupt nicht im Interesse des Patienten, wohl aber im Interesse einer wachsenden Heerschar von Beschäftigten in den einschlägigen Berufsbildern, vom Ernährungsberater über den bariatrischen Chirurgen bis zum Pharmakonzern, deren Branchen es ein Maximum an Gewinnerzielung verspricht.

Der da hat meiner Meinung nach den Nagel exakt auf den Kopf getroffen. Genau das ist nämlich das eigentliche Problem, das man meiner Meinung nach zu Recht mit einer Ricarda Lang als Bundesvorsitzende der Partei haben kann und, finde ich, auch haben darf, die ja berüchtigt für ihre volkserzieherischen, darunter auch gesundheitserzieherischen Bemühungen ist, auch wenn sie dieses Image mittlerweile ganz gerne loswerden würde. 

Das erste Stichwort, das einem dazu in den Sinn kommt, ist der Veggie Day, aber für die Grünen ist es in allen möglichen Bereichen eine Selbstverständlichkeit, die privatesten Angelegenheiten der Menschen mit Vorschriften oder zumindest moralisch unterfütterten Ermahnungen zu überziehen, von denen, jede für sich genommen, die meisten eigentlich recht harmlos wirken. In der Summe bedeuten sie aber so viele regelmäßig neu gesetzte Nadelstiche, daß sich niemand darüber zu wundern braucht, wenn die Reaktion auf jeden neuen Nadelstich immer gereizter ausfällt. 

Die Position der Grünen zum Rauchen beispielsweise war lange Zeit radikaler - sie selbst würden das wohl als "fortschrittlicher" bezeichnen - als die der anderen Parteien. Inzwischen ist zum Thema Rauchen eine Art gesellschaftlicher Konsens etabliert, der vielleicht auch viel stillschweigende Ablehnung erfährt, dem aber jedenfalls kaum noch offener Widerspruch entgegengebacht wird. Unter anderem deshalb stimmt er im Großen und Ganzen mit der Position der Grünen überein, weil sie vor anderthalb Jahrzehnten aktiv daran beteiligt waren, ihn zu etablieren, sich dabei als Speerspitze des Fortschritts aufspielten und, nehme ich an, darauf nach wie vor stolz sind. 

Um diesen gesellschaftlichen Konsens aufrechterhalten zu können, müssen aber ganze Elefantenherden ignoriert werden, die kreuz und quer durch den Raum trampeln. Es würde mich freilich überraschen, wenn dies unter meinen Lesern besonders vielen bewußt wäre. Ich greife deshalb einen dieser Elefanten exemplarisch heraus. Schauen wir ihn uns mal genauer an:

Raucher im Hartz-IV-Bezug - und Raucher stellen hier nachweislich die Mehrheit - sind de facto Arme zweiter Klasse. Regelsatzerhöhungen kommen bei ihnen von vornherein gar nicht erst an: Zwischen der Einführung 2005 und heute stieg der Hartz-IV-Regelsatz um ca. 30 Prozent. Der Preis für eine Filterzigarette stieg im selben Zeitraum um deutlich über 50 %. Arme Raucher kaufen die aber in der Regel gar nicht. Sie kaufen Feinschnitttabak und drehen oder stopfen daraus ihre Zigaretten selbst. Der Preis von Feinschnitttabak wurde allerdings im selben Zeitraum noch viel stärker angehoben und hat sich zwischen 2005 und heute in etwa verdoppelt. Der Grund war nicht etwa die Raffgier der bösen Tabakindustrie, sondern die des Finanzministers, denn Tabaksteuer plus Mehrwertsteuer machen mittlerweile ca. 90 Prozent des Kaufpreises von Tabakwaren aus. Weitere regelmäßige Anhebungen der Tabaksteuer in den nächsten fünf Jahren sind letztes Jahr erst vom Parlament abgenickt worden. 

Raucher in Hartz-IV-Bezug sind seit 2005 im Vergleich zu Nichtrauchern in Hartz-IV-Bezug ständig ärmer geworden. Die Differenz, die ihnen abgeknöpft wird, fließt dabei auf direktem Wege zurück in die Staatskasse.

 

Die Argumente dafür, warum die Tabaksteuer ständig erhöht wird, kann ich wohl als bekannt voraussetzen: Verteuert man das Rauchen, hören viele Raucher mit dem Rauchen auf, was nicht nur für die Volksgesundheit gut, sondern auch zu ihrem eigenen wohlverstandenen Besten ist. Soweit die Theorie. Sie beißt sich allerdings mit einer anderen genauso verbreiteten und absurderweise oft - nur bei anderen Gelegenheiten - von genau denselben Fachleuten vorgebrachten Theorie, nämlich der, daß Raucher Süchtige sind und sich gerade nicht frei für oder gegen das Rauchen entscheiden können, egal, wie sehr man ihnen den Zugang zum Tabak erschwert. 

Also was denn nun? 

In der Praxis ist beides zu beobachten: Der Anteil der Raucher in der Bevölkerung ist wirklich stark zurückgegangen - aber gerade in den ärmsten Bevölkerungsschichten eben doch nicht. Fragen wir für den Moment nicht nach den Gründen dafür, sondern halten nur fest, daß die Strategie, armen Rauchern das Rauchen zwar nicht zu verbieten, aber mittels ständiger Verteuerung de facto unmöglich zu machen, gescheitert ist. 

Fragen wir außerdem danach, welche praktische Wirkung das hat. Für arme Raucher, die das Rauchen nicht aufgeben (und das sind fast alle), bedeutet die Verteuerung des Rauchens objektiv überhaupt keine Verbesserung, sondern eine klare Verschlechterung, und zwar nicht nur ihrer finanziellen Situation, sondern auch ihrer Gesundheit. Denn es fördert seine Gesundheit eben nicht, wenn ein Raucher schlechteres Essen kauft, um trotzdem auch noch rauchen zu können. Und daß dies geschieht, muß man annehmen, da das Essensbudget der Teil des Hartz-IV-Satzes ist, in dem sich die einzigen finanziellen Spielräume der Betroffenen befinden. (Entgegen anderslautenden Gerüchten sind 5 Euro pro Tag und Person ansonsten aber durchaus ausreichend für eine gute Ernährung. Das weiß ich deshalb, weil ich selbst ja auch nicht mehr als das für Lebensmittel ausgebe, und sonderlich sparsam bin ich dabei nicht.) 

In der aktuell geführten Debatte um die Angemessenheit der Hartz-IV-Sätze ist diese glasklar beweisbare Folge von Tabaksteuererhöhungen, wie gesagt, ein Elefant im Raum. Niemand spricht darüber. Die in letzter Zeit in wahren Strömen vergossenen Krokodilstränen über die armen Armen gelten ausschließlich den im Vergleich finanziell noch besser gestellten "Armen erster Klasse", und das, obwohl sie weniger als die Hälfte der Betroffenen ausmachen. Daraus läßt sich schlußfolgern, daß arme Raucher allen Parteien und sogar allen Gruppierungen, die sich für soziale Gerechtigkeit verkämpfen, in Wirklichkeit gar nicht arm genug sein können. 

Wie das höchstwahrscheinlich begründet würde, wenn jemand an das Tabu rühren sollte (also jemand, dem anders als mir größere Teile der Öffentlichkeit zuhören), weiß sicherlich auch jeder: "Ja, aber ... Selbstschädigendes Verhalten kann man doch nicht auch noch unterstützen! Sollen sie doch das Rauchen aufhören! Niemand muß doch rauchen!" An dieser Stelle wird die Sache auf einmal gut vergleichbar mit dem inhaltlichen Grundfehler, der auch in den oben zitierten Vorwürfen gegen Ricarda Lang steckt: "Soll sie doch abnehmen! Niemand muß doch dick sein! Wir wollen ihr selbstschädigendes Verhalten nun einmal nicht unterstützen."

Wenn eine gesundheitspolitische Grundannahme analog zu der oben skizzierten zum Rauchen lautet, daß Übergewichtige Opfer ihres eigenen, höchstpersönlichen selbstschädigenden Verhaltens seien, das sie noch dazu ziemlich leicht ändern könnten, dann kann Ricarda Lang politische Positionen, die auf dieser Prämisse basieren, tatsächlich nur mittragen, wenn sie sich persönlich verbiegt. Frau Lang ist nämlich erklärte Anhängerin von Body Positivity. Das soll ausdrücken, daß sie so ist, wie sie ist, weil sie so sein will, wie sie ist. Was auf Basis der genannten Prämisse natürlich bedeuten würde, sie schädigt sich selbst, weil sie sich selbst schädigen will. Dies als bewußt gesund lebender Mensch nicht einsehen zu wollen, ist nicht unlogischer als seine fehlende Einsicht in das Weiterrauchen der Raucher in Hartz-IV-Bezug.

Ich glaube Ricarda Lang in diesem Punkt allerdings kein Wort. Für ein Übergewicht von solchen Ausmaßen in so jungen Jahren - ohne hormonelle "Großereignisse" wie Schwangerschaften oder Wechseljahre erlebt zu haben - reicht es meines Erachtens nicht aus, einfach zu viel und/oder das Falsche zu essen oder zu wenig Sport zu treiben. Dafür muß man vor allem bereits mehr als nur eine oder zwei jojoträchtige Diäten hinter sich gebracht haben - was man natürlich nur dann tun würde, wenn man insgeheim doch ziemlich unglücklich mit seinem Äußeren wäre. Ob dies bei ihr so gewesen ist, ist aber Ricarda Langs Privatsache und geht mich gar nichts an. Ob Body Positivity in ihrem Fall eine ehrliche Überzeugung ist oder eine Fassade, aufgebaut zum Schutz der eigenen Selbstachtung, während sie insgeheim mit wachsender Verzweiflung immer wieder neue Diäten probiert und an ihnen scheitert, oder als Mittelding ein Sich-Abfinden und Arrangieren mit den scheinbar unabänderlichen Tatsachen, nachdem sie die Hoffnung auf Kleidergröße 36 irgendwann in ihrem Leben endgültig begraben hatte, darf gerne ihr Geheimnis bleiben. Ich respektiere es, daß sie darüber nicht mit Hinz und Kunz sprechen möchte.

Anders sieht die Sache aber aus, wenn sie - samt ihrem Übergewicht - als Parteivorsitzende der Grünen - und das wird sich kaum vermeiden lassen - auch für gesundheitspolitische Positionen stehen muß, die offen oder implizit aussagen, daß Adipositas a) ein zu bekämpfendes Gesundheitsproblem ist, das b) etwas mit disziplinlosem Verhalten der Adipösen zu tun hat, die eigentlich alle normalgewichtig sein könnten, wenn sie sich nur ein bißchen am Riemen reißen würden, besser informiert wären - oder, ja, vielleicht tut Gott eines Tages ja doch noch das Wunder, daß es heißen würde: "... wenn wir endlich die richtigen Methoden herausgefunden haben."

Body Positivity jedenfalls steht bezogen auf Übergewicht, insbesondere hohem Übergewicht wie bei Ricarda Lang, im Widerspruch zu den Vorstellungen von Adipositasprävention etwa auch in der vom Bundestag 2020 beschlossenen nationalen Diabetesstrategie:

 

sowie:

 

Es gibt also einen inneren Widerspruch zwischen Ricarda Langs Body Positivity und dem, was uns allen seit Jahrzehnten über die Ursachen von, die Gefahren durch und nicht zuletzt die Bekämpfung von Übergewicht eingehämmert wird und was aktuell auch Bestandteil der gesundheitspolitischen Strategien ist. Wenn es alleine oder hauptsächlich von der eigenen Willenskraft abhängt, ob man dick oder schlank ist, dann kann dies aus denselben Gründen mißbilligt werden, aus denen das Rauchen der Raucher mißbilligt wird. 

Und aus welchem Grund sollte das dann nicht auch für Ricarda Lang gelten?

Frau Lang hat ihren steilen Aufstieg in der Partei der Grünen - neben dem ihr nachgesagten politischen Talent - vermutlich vor allem zwei Faktoren zu verdanken: daß sie eine Frau ist und daß sie bisexuell ist. Beide Eigenschaften demonstrieren ein Herz für diskriminierte gesellschaftliche Gruppen, das zu haben für die Grünen ein ideeller Wert von überragender Bedeutung ist. Adipositas hat diesen ideellen Stellenwert aber nicht, auch nicht bei den Grünen. Sie wird in Langs Fall toleriert, aber sicherlich nicht gefördert, wie das bei anderen benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen natürlich erklärtes Ziel ist, obwohl Adipositas ebenfalls mit Benachteiligungen verbunden ist. 

Bis zum Beweis des Gegenteils behaupte ich, Frau Lang ist nicht wegen, sondern trotz ihrer Adipositas zur Bundesvorsitzenden der Grünen gewählt worden. 

Das Gegenteil beweisen könnte nur eine veränderte Gesundheitspolitik, in der eine Art "Recht auf Adipositas" die Body Positivity mitunterbrächte, was durchaus meinen Beifall fände (was ich allgemein über Body Positivity denke, findet sich hier). Dies würde allerdings veränderte Zielsetzungen in der Krankheitsprävention erfordern. Das Maximum an durch Prävention adipositasbedingter Krankheiten erreichbarer Gesundheit als wenigstens theoretisch anzustrebender Idealfall müßte dann aufgegeben werden. (Und geschähe das bei Adipositas, würden die Raucher mit allem Recht der Welt wohl gleiches Recht auch für sich verlangen.)

Ich fände es gar nicht schlecht, wenn diese Debatte angestoßen würde, und ich hielte Ricarda Lang für qualifiziert, dies zu tun. Daß das nicht ihr Ressort Arbeit und Soziales betrifft, lasse ich als Einwand nicht gelten, denn erstens gibt es da durchaus Überschneidungen, und zweitens hat Cem Özdemir  auch als Landwirtschaftsminister bestimmt keine Hemmungen, seine Meinung zu integrationspolitischen Problemlagen zu artikulieren. Was für eine stärkere Triebfeder, zur Lösung eines gesellschaftlichen Problems beitragen zu wollen, könnte es denn geben als persönliche Betroffenheit? 

Es sei denn natürlich, man gehört einer Minderheit an, deren Diskriminierung gar nicht als Diskriminierung gilt, und hat sich deshalb längst daran gewöhnt, sich bei speziell dies betreffenden Fragen vorsichtshalber wegzuducken, anstatt den Mund aufzumachen.

Der größte Elefant im Raum ist meiner Meinung nach nämlich, daß die Grünen genauso viel und insgeheim auch genauso gerne diskriminieren wie alle anderen auch. Nur geht es dabei um Bevölkerungsgruppen, die in ihrem Weltverständnis einfach nicht als diskriminierungsfähig gelten, sondern vielmehr als auf den Pfad der Tugend zu bringende Sünder oder mitunter auch als aus den Klauen irgendwelcher Teufel (für gewöhnlich irgendeinem Industriezweig angehörend) zu befreiende Opfer. Eine Ricarda Lang, die sich solche Zuschreibungen für ihre eigene Person zu Recht verbittet, hätte in ihrer nunmehrigen Rolle als Bundesvorsitzende der Grünen die einmalige Chance, mit guten Wirkungsaussichten auf einen veränderten Blick zumindest auf die Adipositasproblematik und die von ihr Betroffenen hinzuwirken. Dies könnte es ermöglichen, auch andere Bereiche in einem neuen Licht zu sehen. Es würde auch die Frage neu aufwerfen, wo die staatliche Verpflichtung beginnt und seine Berechtigung endet, die Bürger notfalls auch gegen ihren Willen zu schützen. 

Meines Erachtens wäre das eine nützliche Diskussion, mit der man Anspruch und Realität wieder etwas näher zueinanderrücken könnte. Im Angesicht von mehr als hunderttausend Coronatoten binnen zweier Jahre zeigte sich ja deutlich genug, daß der Staat sich dabei verhebt, wenn er den Anspruch, seine Bürger vor jeglicher Gefahr zu schützen, so umfassend auszugestalten versucht, daß niemand mehr eigenverantwortlich auf längere Sicht eintretende Gesundheitsrisiken eingehen kann - und dann kommt eine Gefährdung, die akut ist und sofortige Maßnahmen benötigt. Man hat dann nämlich nicht einmal mehr eine Sprache dafür, daß gerade etwas qualitativ anderes passiert als bei den sonst so dramatisch dargestellten Risiken durch den Genuß von Essen, Faulheit, Alkohol oder Rauchen. Wie soll man dann aber das besondere und ganz akute dringende Erfordernis von Dingen wie Masken oder Kontaktbeschränkungen oder Impfungen glaubhaft machen?

Dummerweise glaube ich aber nicht, daß Ricarda Lang eine solche Debatte auslösen wird. Vielleicht bin ich ja inzwischen ein zynisches altes Weib geworden, aber wenn ich lese, sie gelte als "politisches Talent", dann verbinde ich diese Charakterisierung spontan mit einer ganzen Menge Eigenschaften, die es zwar erleichtern, innerhalb einer Partei aufzusteigen. Die wären aber so ziemlich das Gegenteil der Eigenschaften, die einen Menschen dazu bringen, sich in einer Sache zu verkämpfen, in der man Pionierarbeit leisten müßte und voraussichtlich für lange Zeit dafür wenig Dank zu erwarten hätte. 

Ich lasse mich gerne von Frau Lang im Lauf der nächsten Jahre eines Besseren belehren, aber einstweilen verspreche ich mir von ihr für die Wahrung meiner Interessen nicht besonders viel. Gendersternchen oder Frauenquoten fallen in die mich persönlich betreffenden Bereiche, aber diejenigen, in denen ich mich tatsächlich als benachteiligt empfinde, sind in Wirklichkeit ganz andere. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Diejenigen, die tatsächlich mit Recht von sich behaupten können, die Durchsetzung von Gendersternchen und Frauenquoten seien die richtige Lösung für ihr größtes persönliches Problem, denen geht es viel, viel besser als den meisten anderen Bürgern.

Zum Glück bin ich es schon so lange gewöhnt, mich um meine Belange selbst zu kümmern, weil ich es schon vor Jahrzehnten eingesehen habe, daß niemand sonst es tun wird. Ich werde weiter auf diese Weise klarkommen.