Dienstag, 5. Januar 2021

Lagerkoller und Ambiguitätstoleranz

Ein gutes neues Jahr 2021 allerseits! In dieses Jahr bin ich mit einem befriedigenden Gewicht von 98,2 Kilogramm gestartet, nachdem wir wahrhaftig das Käsefondue sowie den Sekt restlos verputzt hatten. Lediglich von den Chips ist einiges übriggeblieben - allerdings hat das am ersten Januar die Gefräßigkeit meines Mannes nicht überlebt. Seitdem habe ich leider wieder einen Besuch vom Ühu gehabt, befinde mich aktuell aber gerade wieder bei einem Gewicht von 98,7 Kilogramm und sehe das alles nicht so tragisch. In spätestens zwei Wochen befinde ich mich ja wieder in einem langen Fastenintervall, und bis zum vierten Jahrestag meines Fastenbeginns am 20. März habe ich insgesamt vier lange Intervalle eingeplant, davon zwei im März.

Ein so ruhiges Silvester wie dieses habe ich noch nie erlebt. Bis auf ein einziges Mal war vor Mitternacht überhaupt keine Knallerei zu hören, und das fühlte sich sehr seltsam an. So war ich geradezu erleichtert, als sich, nachdem guter Tradition gemäß im Radio "Hells Bells" den Jahreswechsel einzuläuten begann, herausstellte, daß ein paar Leute sich doch aus welchen Quellen auch immer mit Raketen und Böllern versorgt hatten. Es war weit weniger als in früheren Jahren, und das war auch recht so, aber ich hätte es trostlos gefunden, wenn es überhaupt nicht geknallt hätte. Gerade ein so mistiges Jahr wie 2020 hätte man ja eigentlich besonders lautstark vertreiben wollen. 

Meine Mutter erzählte mir am Telefon, bei ihr sei genausoviel geböllert worden wie letztes Jahr. Woher auch immer die Leute dort im Dorf ihr Feuerwerk herbekommen haben. Kann das wirklich sein, daß die dortigen Dörfler über so viel kriminelle Energie verfügen, um 1000 Kilometer weit nach Polen zu fahren, nur wegen ein bißchen Feuerwerk? Am ehesten könnte ich mir vorstellen, daß es ein paar Leute gibt, die beruflich im Ausland zu tun haben und dort eine Gelegenheit hatten, sich mit Feuerwerkskörpern einzudecken. Vielleicht bastelt der eine oder andere den Kram auch selbst. 

Ich hatte mal einen Nachbarn, der so was machte. Er wohnte direkt unter meiner Wohnung, und eines schönen Tages stellte sich heraus, daß er den dafür nötigen Sprengstoff direkt unter meinem Schlafzimmer aufbewahrt hatte. Hätte ich das gewußt, wäre mein Schlaf wohl um einiges unruhiger gewesen. Das waren ziemlich heftige Dinger, ich erinnere mich noch, daß er sich eines Silvestermorgens damit vergnügte, von seinem Wohnzimmerfenster aus immer wieder die Alarmanlagen der an der Straße geparkten Autos durch Böllerbeschuß auszulösen.

Eine Menge Leute haben sich wie meine Mutter über die Knallerei aufgeregt - wobei meine Mutter schon seit Jahren darüber schimpft, weil es da irgendwen in ihrer Nachbarschaft gibt, der ziemlich üble Polenböller verwendet, die sogar meine gelassenere Schwester als "Körperverletzung" bezeichnet. Aber ich habe mich tatsächlich über jeden Knall gefreut, der in meiner Nachbarschaft zu hören war, obwohl ich selbst sicherlich seit dreißig Jahren kein Feuerwerk mehr gezündet habe. (Das letzte stammte, wie mir gerade klar wird, wahrhaftig genau von dem oben erwähnten Nachbarn, es war ein Geschenk von ihm für mein damals noch keineswegs im böllertauglichen Alter befindliches Kind. Und bevor jemand fragt, wie ich das erlauben konnte: Ich wurde vor vollendete Tatsachen gestellt: Das Kind kam strahlend mit der betreffenden Plastiktüte nach Hause, und jetzt reagier darauf mal angemessen als Erziehungsverpflichtete ... ich hab mich gewissermaßen geopfert, als ich mich der Aufgabe stellte, diese Dinger selbst in die Luft gehen zu lassen.) 

Das Feuerwerk um Mitternacht an Silvester war für mich ein Stückchen Normalität in einer unnormalen Zeit. Ich freute mich darüber. Gleichzeitig freute ich mich auch, daß es nur ein Bruchteil der gewohnten Menge an Feuerwerkskörpern war, also wohl keine Menschenmassen draußen waren und sich gegenseitig Viren zubliesen. Diesen Spagat zwischen dem Wunsch nach Normalität und der Einsicht, daß sie besser unterbleiben sollte, und den emotionalen Slalom um diese Pole herum kann ich aushalten. Der Fachbegriff dafür lautet, wie ich vor noch gar nicht so langer Zeit gelernt habe, "Ambiguitätstoleranz". Ich bin in dieser Disziplin sicherlich kein Medaillenkandidat, aber mir leuchtete das Konzept ein, und ich nehme es jetzt bewußter wahr, wenn Uneindeutigkeiten, die sich nicht auflösen lassen, mich stressen, und bemühe mich, mich davon nicht über Gebühr stressen zu lassen.

Es mehren sich spätestens seit Silvester, nicht nur bei uns in Deutschland, die Anzeichen für einen heraufziehenden kollektiven Lagerkoller in unserer downgelockten Gesellschaft, auch wenn der Ernst der Corona-Lage nur noch von einer außerdem immer kleiner werdenden Minderheit abgestritten wird. Der Spagat erfolgt in diesem Fall nicht wie bei mir zwischen Verstand und Gefühl alleine, sondern zwischen Denken und Handeln, die oft nicht so richtig zusammenpassen. Angesichts der explodierenden Infektionszahlen in Großbritannien, die dort zu einer Notbremse in Form eines erneuten Lockdowns, und diesmal sogar ohne Vorwarnzeit, führten, und einer hohen Wahrscheinlichkeit, daß die ansteckendere Virusvariante längst auch bei uns heimisch geworden ist, ist das der ungünstigstmögliche Zeitpunkt für so was. 

Mir fällt dazu ein Spruch von Blaise Pascal ein, den ich schon früher bei passender Gelegenheit gerne zitiert habe: "Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen."

Ein Geständnis: Über diese ausgeuferte Silvesterparty in der Bretagne (eine weitere gab es bei Barcelona) habe ich unkorrekterweise laut und herzlich gelacht. Ob es dort etwa Wildschwein am Spieß gab und ein Barde im Baum hing? Daß diese Party anscheinend den ganzen Neujahrstag über in aller Seelenruhe fortgesetzt wurde, 2500 Raver gegen 150 Polizisten, die offenbar keine Mittel fanden, um ihrer Gegner Herr zu werden, löste Bilder im Kopf aus, in denen Kessel mit Zaubertrank, das römische Lager Kleinbonum und durch die Luft fliegende Legionäre vorkamen. Es dauerte bis zum 2. Januar, bis die Party beendet wurde. Aber auch wenn ich darüber lachen mußte, ich fürchte, den verdeckt operierenden Zenturio Coronus Virus haben die fröhlichen Party-People in dem kleinen gallischen Dorf unterschätzt.

Bei uns herum ist es (noch?) nicht ganz so auffällig, aber das tobende Leben staute sich von Silvester an überall, wo es Langlaufloipen und Rodelpisten gab. Wahrscheinlich ist das trotz des aufgeregten Mediengetöses als Infektionsquelle noch vergleichsweise harmlos, aber es ist einen Fingerzeig, daß die Leute es in ihren vier Wänden beim besten Willen nicht mehr aushalten. Auch heute morgen wurde im Radio wieder von überfüllten Parkplätzen an solchen Ausflugszielen berichtet. Ob es nächsten Montag tatsächlich eine nennenswerte Anzahl von Ladengeschäften geben wird, die die Drohung #WirMachenAuf umsetzen werden, die am Sonntag über Twitter geisterte, wird sich finden. Sollten diese "Widerstandskämpfer" zu viele sein, um sie zügig vor die Wahl "zumachen oder Lizenzentzug" zu stellen und sollten sie so gute Geschäfte machen, daß sich tags darauf weitere Nachahmer finden, könnte es ein Vollzugsproblem geben. Es wäre kaum möglich, einem größeren Teil der Geschäftsinhaber die Gewerbeerlaubnis zu entziehen; irgendwo müssen die Leute ja nach dem Lockdown wieder einkaufen können. 

Den wenigsten ist wahrscheinlich klar, daß es zur Durchsetzung von Ge- und Verboten eine kritische Masse an Betroffenen geben sollte, die das freiwillig und aus eigener Überzeugung umsetzen. Kein Gesetz ist auf Dauer durchsetzbar, wenn man eine Mehrheit dazu zwingen muß. Man kann schließlich nicht Tag und Nacht hinter jeden Bürger zwei Büttel stellen.

Wenn jemand mich gefragt hätte, dann hätte ich im November dringend dazu geraten, während des Lockdowns die Baumärkte offen zu lassen. Das beste Mittel gegen Lagerkoller besteht darin, sich zu beschäftigen, und wann wäre ein günstigerer Zeitpunkt für ein paar lange aufgeschobene Reparaturen im Haus? Mein Mann etwa baut gerade einen maßgefertigten Kleiderschrank unter die Dachschräge. Außerdem hat er mir Hängeschränke in der Küche angebracht (einschließlich ein paar Extras wie LED-Beleuchtung etc.) und dann hat er noch ein Bild gerahmt, das wir schon vor anderthalb Jahren auf dem Flohmarkt gekauft hatten. 

Es handelt sich um dieses Bild hier ("Der Eremit" von Salomon Koninck. Bildquelle: Wikipedia):


Natürlich ist es kein Original, aber ein Druck auf Leinwand, auf einen Holzrahmen aufgezogen, der mit einem Alter von mehr als hundert Jahren trotzdem als eine Art Antiquität aus eigenem Recht betrachtet werden kann. Mein Mann hat einen schlichten Holzrahmen aus Restholz gebastelt und mit Goldfarbe besprühte Styroporleisten aufgeklebt. Der Goldlack war das einzige, das uns kurz ins Grübeln brachte, ob wir ein anderes beschaffen müßten (nur, woher?), denn er wurde, wie wir zu spät bemerkten, als "nicht styroporfest" bezeichnet. Wir haben ihn dann getestet und fanden den Effekt des goldbesprühten Styropors, das nicht mehr glatt, sondern ganz leicht angefressen und ein bißchen wie altes Holz wirkte, ganz bombastisch, ein echter klassizistischer Rahmen könnte nicht schöner sein. Jetzt hängt das Bild in diesem Rahmen über meinem Schreibtisch.

Das Problem mit dem Lagerkoller ist, daß die Leute ab einem gewissen Punkt Vernunftgründen nicht mehr zugänglich sind. Deshalb finde ich, bei einem Lockdown sollte man ein paar "Überdruckventile" beibehalten, auch wenn sie strenggenommen von der Sache her verzichtbar erscheinen, und meines Erachtens wären da die Baumärkte besonders nützlich und sinnvoll gewesen, weil sie mit einer körperlichen Betätigung verbunden sind, mit der man sich ja auch ein bißchen abreagieren kann. Klar, man kann sich notfalls alles, was man fürs Renovieren braucht, auch bei Versandhändlern bestellen. Aber man könnte ja ebenso, statt die Langlaufloipe zu nutzen, "Winter Games" am Computer spielen, und trotzdem wurden Langlaufloipen und ähnliches bewußt nutzbar gelassen.

Daneben finde ich, die Inhaber und Beschäftigten von besonders lockdowngeschädigten Branchen sollten viel mehr Chancen bekommen, sich bei Interesse coronabezogen (gegen entsprechende Vergütung) unterstützend zu betätigen. Da fehlt es meinem Eindruck nach an kreativen Ideen, denn das wäre bestimmt vielen lieber als Ausfallzahlungen oder Kurzarbeitergeld. Hotels könnten etwa von ihrer Gemeindeverwaltung zur Unterbringung von Quarantänefällen genutzt werden, bei denen der eigene Haushalt als Quarantäneort bedenklich erscheint, etwa, wenn jemand in einem Wohnheim oder sonst in beengten Verhältnissen lebt. Für Unterstützung bei der Terminvergabe für Impfungen oder Tests sowie Kontaktverfolgung wären Angehörige etlicher coronageschädigter Branchen von ihren beruflichen Erfahrungen her geeignet.

Back to topic:

Mich hat interessiert, was wohl aus Sonja Bauer aus der TV-Reportage "Abnehmen, um zu überleben" geworden sein mag. In meinem letzten Blogbeitrag hatte ich meine Rezension dieser Sendung am Rande erwähnt, in der aus meiner Sicht mehr Fragen neu aufgeworfen als beantwortet wurde, deshalb ging mir das wieder durch den Kopf. Leider konnte ich aber nichts Aktuelleres herausfinden, aber ich fand ein Pressemitteilung der Klinik, in der Sonja Bauer operiert wurde, und weiß nun, daß die OP selbst bereits zwei volle Jahre hergewesen ist, als ich die Sendung über sie sah und darüber schrieb. 

2017 fand die Operation also statt. Und so ein Zufall: Genau 2017 war in dem Klinikum auch das Adipositaszentrum eröffnet worden, in dem man sie behandelte und operierte. Da hat man offenbar einen besonders spektakulären Fall für die PR der neuen Errungenschaft genutzt, was diese ganzen Sendung, die mich ohnehin unangenehm an eine Werbesendung für diese Art von OPs erinnerte, ein noch strengeres "Geschmäckle" verleiht. 

Ziemlich irritiert war ich auch über die Behauptung in der Pressemitteilung der Klinik, daß Sonja Bauer als Folge der Ernährungsvorstellungen in ihrem Elternhaus im Alter von zehn Jahren an Diabetes Typ 1 erkrankt sein soll. Das ergibt nicht viel Sinn, und ich vermute, es ist Diabetes Typ 2 gemeint, der - anders als Typ 1 - tatsächlich in Zusammenhang mit der Ernährung steht. Dieser Lapsus läßt mich doch ein wenig die Stirne runzeln. Geschrieben wurde das vermutlich von einem von der Klinik bezahlten Pressebüro - so macht man das nämlich heutzutage -, und der Autor hatte wohl im Kopf, daß es sich bei Kindern in der Regel um Diabetes Typ 1 handelt und das eigenmächtig ergänzt. In einem Adipositaszentrum voller Experten hätte das aber eigentlich irgendwem auffallen müssen. Hat dort überhaupt niemand dieses Ding noch einmal gelesen, bevor es auf der Website landete? Sehr unprofessionell. Wollen wir hoffen, daß sie im OP professioneller arbeiten.

Immerhin, nun ist mir klarer als nach dem Filmbeitrag, wie es zu Sonja Bauers extremer Gewichtsentwicklung gekommen ist. Wenn sie schon als Zehnjährige Insulin verabreicht bekommen hat und noch dazu genetisch vorbelastet war, hatte sie von vornherein kaum eine Chance, jemals auf normalem Wege ein normales Gewicht zu erreichen, völlig egal, was und wieviel davon sie gegessen hat.

Wenige Tage nach meinem eigenen Blogbeitrag brachte die Lokalpresse ebenfalls einen ausführlichen Bericht über Sonja Bauer, der ihr aktuelles Gewicht im Dezember 2019 (128 Kilogramm, also noch einmal sieben Kilogramm weniger im Vergleich zum Endpunkt im Film) sowie einiges Erhellende über die Vorgeschichte beizusteuern hatte und ebenso einen weiteren Ausblick brachte. Zum 14. Januar 2020 hatte Sonja Bauer nach diesem Bericht ihren nächsten Termin, um über die kosmetischen Operationen zu sprechen, die ihr noch bevorstanden: die Entfernung der Hautlappen, die nach ihrer starken Abnahme sowohl am Bauch wie auch an den Beinen und Armen notwendig war. Eine Abnahme von zehn weiteren Kilogramm, hieß es, werde von ihr erwartet, bevor diese Operationen durchgeführt werde. 

Das klingt streng, aber es kommt mir sinnvoll vor. Denn nach weiteren zehn Kilogramm Abnahme, also einem Gewicht von 118 Kilogramm MIT ca. 30 Kilogramm überschüssiger Haut, darf man davon ausgehen, daß nach den kosmetischen Operationen noch ein Gewicht von unter 90 Kilogramm übrigbleibt. Wenn man diese Operation nicht zu früh macht, ist das Risiko gering, daß später noch weitere kosmetischen Eingriffe nötig werden. Ich sehe es ja an mir selbst, daß die Abnahme ab 110 Kilo abwärts meine Figur weitaus stärker verändert hat als die hohen vorherigen Abnahmen. Gerade im letzten Jahr war das, obwohl ich heute nur ein paar Kilo weniger auf die Waage bringe als vor einem Jahr, so auffallend, daß ich manchmal darauf angesprochen werde, wie schmal ich geworden sei. 

Nur sind in meinem Fall natürlich keine Fettschürzen entstanden, weil beim Fasten - anders als bei solchen Operationen - die überschüssige Haut zusammen mit dem Fett verstoffwechselt wird. - Nee, ich würde nie mit einem Magenverkleinerungs-Patienten tauschen wollen, aus vielen Gründen, und das ist einer davon. Was die Abnahme betrifft, bin ich auf Augenhöhe mit Magenbypass-Patienten, und habe gar keinen Grund, sie darum zu beneiden.

Trotz Corona, das natürlich die Prioritäten der Berichterstattung verändert hat, finde ich es eigenartig, daß es zu Sonja Bauers Geschichte bislang nirgends ein Update gab. Ob diese weiteren Operationen vielleicht wegen des Corona-Ausnahmezustands gar nicht stattfinden konnten? Ich hoffe, dieser Frau geht es gut. Sie hätte es verdient nach allem, was sie hinter sich hat. 




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