Freitag, 16. Oktober 2020

Die Null-Risiko-Gesellschaft

Mein Gewicht heute früh im Anschluß an den zweiten Fastentag der Woche: 96,4 Kilogramm. Schade, dass es nicht unter 96 gegangen ist, als kleinen Trost kann ich mir aber immerhin sagen: Wäre ich vor dem Frühstück auf der Waage gewesen, hätte ich wahrscheinlich 96,0 oder sogar weniger gesehen. Das ist schon ein neues Gefühl, dass solche Zahlen auch in "normalen" Fastenwochen auftauchen.

Eigentlich hatte ich gar nicht vor, heute einen Blogartikel zu schreiben, aber ich habe eine Ergänzung zu meinem überlangen vorgestrigen Beitrag zu machen. Da schrieb ich nämlich an einer Stelle: 

Die Bundesregierung befindet sich in einer Zwickmühle: Das von Frau Merkel verkündete Ziel, das Leben jedes einzelnen Bürgers um fast jeden Preis vor Corona zu bewahren und dies mit dem Wert des einzelnen Menschenlebens zu begründen, war zwar ethisch untadelig, ist in der Realität aber gar nicht durchzuhalten, und das haben auch genügend Leute intuitiv begriffen, weshalb es zum meist gar nicht direkt ausgesprochenen Bestandteil der Anti-Coronamaßnahmen-Polemiken wurde, etwa bei dem Argument, die Therapiemaßnahmen schädigten das Leben von mehr Menschen als die Krankheit selbst.

Heute las ich in der FAZ, daß Vince Ebert in einer Talkshow etwas ganz ähnliches zur Sprache brachte, aber anders als ich gestern benannte er dabei ein damit verbundenes grundsätzlicheres Problem, das ich mindestens genauso wichtig finde: 

Dazu kommt noch das, was der Physiker und Wissenschaftskabarettist Vince Ebert als die Mentalität einer „Null-Risiko-Gesellschaft“ definierte. Diese versuchte nicht nur Risiken zu minimieren, sondern „auf Null herunterzudrücken“. Jetzt hätten wir es aber mit einer Situation zu tun, wo wir als Gesellschaft eine andere Frage beantworten müssten: Welches Risiko seien wir bereit zu akzeptieren? Darüber wollte man aber nicht reden, so Ebert, also lavierte die Politik mit der Botschaft herum, sie hätte alles im Griff.

Der letzte Satz ist ungefähr das, was ich im obigen Zitat gemeint hatte. Daß seitens der Bundesregierung überhaupt so argumentiert wurde, obwohl jeder spüren kann, daß mit solchen Versprechungen irgendetwas nicht stimmt, hat etwas mit dem Phänomen zu tun, das er in den vorherigen Sätzen beschreibt, nämlich einem Grundgedanken, der schon lange verfolgt wird, aber nun von Corona ad absurdum geführt wird. Der Begriff "Null-Risiko-Gesellschaft" trifft dabei den Nagel so exakt auf den Kopf, daß ich Vince Ebert ein bißchen darum beneide, daß er und nicht ich auf diese griffige und zutreffende Formel gekommen ist. 

Offenbar hat er dabei ein ähnlich ungutes Bauchgefühl wie ich. Was mich daran aber noch unbehaglicher stimmt, ist, daß es so schwierig ist, dieses Gefühl in Worte zu fassen und zu begründen; umso dankbarer bin ich dafür, daß sich jemand gefunden hat, dem das in höchst eleganter Weise und in knapper Form gelungen ist. 

Wenn ich mich über dieses Thema geäußert habe, was schon mehrmals geschehen ist, ging es meistens um einen ganz konkreten Fall. Ich hatte dieses Gefühl zum Beispiel im Fall der Masernimpfpflicht; ich habe hier im Blog darüber geschrieben: von meinem Unbehagen über die in keinem Verhältnis zum dadurch vermeidbaren Schaden stehende Masernimpfpflicht sowie auch über die dieser Entscheidung vorausgegangene am Rande der Hysterie balancierende Medienkampagne, in der die Impfgegner auf eine Weise zu einem Feindbild stilisiert wurden, die mich unangenehm berührte. 

Ich konnte diese Aufregung beim besten Willen nicht nachvollziehen. Im Zeitraum zwischen 2001 und 2018 gab es in Deutschland exakt 15 Todesfälle durch Masern. So gut ich begreifen kann, daß jeder dieser Todesfälle für die Betroffenen und ihre Familien eine Tragödie ist: Wenn das einen medizinischen Notstand mit staatlichem Handlungsbedarf und Zwangsmitteln gegen Widerspenstige bedeuten soll, wo soll das denn hinführen? Jedes Jahr sterben um die 500 Menschen durch Ertrinken, bei vielen ist Leichtsinn mit im Spiel. Sollen wir uns deshalb alle von Gewässern fernhalten?

Die Corona-Maßnahmen, behaupten Kritiker gerne, seien eine "Therapie, die in der Gesellschaft mehr Schaden anrichtet als die Krankheit selbst". Damit liegen sie offensichtlich falsch, und zwar vor allem deshalb, weil sie den gesellschaftlichen Schaden durch Covid-19-Infektionen durch bewußte oder unabsichtliche Fehler kleiner rechnen, als er in Wirklichkeit ist. Die Frage ist allerdings berechtigt, ob eine solche Einschätzung für die Masern-Impfpflicht gilt, bei der nicht 10.000 tatsächlich Todesfälle in einem halben Jahr, die ohne Maßnahmen auf ca. 60.000 hätten anwachsen und innerhalb eines ganzen Jahres durchaus auch 100.000 übersteigen können, sondern 15 in 18 Jahren zur Debatte stehen, bei denen es auch im Falle einer Verzehnfachung der Todesfallzahlen nur um eine einstellige Zahl von Toten pro Jahr gegangen wäre. 

Bei den Corona-Demonstrationen im Sommer fielen mir etliche Teilnehmer auf, die auf ihren Transparenten das Gespenst einer Corona-Zwangsimpfung heraufbeschworen haben. Kein Zweifel, Impfgegner waren auf diesen Demos stark mitvertreten. Jens Spahn kann also noch so viele heilige Eide schwören, daß im Falle von Corona an einen Impfzwang gar nicht gedacht sei, das wird ihm in bestimmten Kreisen nicht geglaubt, und das finde ich leider auch nachvollziehbar. 

Zwangsmaßnahmen sind schon seit Jahren in Mode, weil freiwillige Lösungen nie 100 % sogenannte "Compliance" nach sich ziehen, und weniger als das gilt in einer "Null-Risiko-Gesellschaft" zunehmend nicht mehr als akzeptabel. Sinnvoll ist das aber meiner Meinung nach nicht. Nach dem Pareto-Prinzip erfordern die letzten zwanzig Prozent einer Maßnahme achtzig Prozent des Aufwands - und je näher man einem Hundert-Prozent-Ziel kommen möchte, desto weniger steht der nun noch benötigte Aufwand in einem vernünftigen Verhältnis zum zusätzlich erreichten Erfolg. 

Wenn ich die Masern-Impfpflicht als Beispiel nehme, die zum Ziel hat, eine Masern-Impfquote, die bereits über 90 % liegt, noch näher an die 100 % zu bringen, dann halte ich den Schaden, der entstanden ist, weil bewußte Impfverweigerer (also Leute, die irrigerweise überzeugt davon sind, daß eine Impfung ihrem Kind schlimmeren Schaden als die Krankheit selbst zufügen wird) nun im Fall von Corona noch schwerer zu überzeugen sind. Der potentielle Schaden durch eine fahrlässig weiterverbreitete Corona-Infektion ist aber um sehr vieles höher als der durch die Verbreitung der Krankheitserreger, die Masern auslösen. 

Meiner Meinung nach hätte man genau dies auch von vornherein kommen sehen können, als letztes Jahr zu einer Attacke auf die Impfgegner geblasen wurde, die mich abgestoßen hat (obwohl ich den Sinn von Impfungen gegen Kinderkrankheiten nie in Zweifel gezogen habe), die ich aber als logische Konsequenz aus der unausgesprochenen generellen Null-Risiko-Grundhaltung erkannte.

Corona könnte sich sogar als eine Chance erweisen, falls Vince Eberts Kritik zum Anlaß genommen würde, das gedankliche Konzept, das der "Null-Risiko-Gesellschaft" zugrunde liegt und auf Corona von vornherein gar nicht anwendbar ist, kritisch zu überprüfen. Ich glaube nämlich, die paternalistische Fürsorglichkeit, mit der sich der Staat zur Aufgabe gemacht hat, uns vor allem möglichen einschließlich uns selbst zu beschützen, hat dazu geführt, daß uns als Einzelnen die Fähigkeit, aber ebenso die Bereitschaft, uns selbst zu schützen, immer mehr verloren geht. Statt dessen weisen die ständig aufs Neue aufpoppenden und oft merkwürdig quengelig klingenden Forderungen - vor allem dann, wenn es um vermeintliche Ungerechtigkeiten oder auch um echte Ungerechtigkeiten, aber auf einem vergleichsweise geringfügigen Level, geht - darauf hin, daß man von diesem fürsorglichen Staat dann auch erwartet, jedem jedes noch so kleine Steinchen aus seinem Lebensweg zu räumen. 

Ein Staat, der diesen überhöhten Anspruch an Kleinkram vorrangig erfüllen soll - und man darf sich da keine Illusionen machen: Keine der zugehörigen Interessengruppen wird jemals an den Punkt kommen, an dem sie verkündet, sie habe ihr Ziel erreicht und die geforderte Gerechtigkeit sei vollständig hergestellt -, hat aber gar keine Chance mehr, die eigentlich wichtigen und großen Fragen wirksam zu bearbeiten.  

Ich würde mir wünschen, daß, sobald Corona wirklich einmal überstanden ist, noch einmal ganz von vorne über die Rolle und die Aufgaben des Staates gegenüber dem Bürger nachgedacht wird - und zwar beginnend dort, wo die politischen Entscheidungen getroffen werden, also in Bundesregierung und Parlament. Was den Leuten mehr als alles andere fehlt, ist Ermutigung zu einem der eigenen Wahrnehmung angepaßten Handeln. Wir haben alle schon lange vor Corona vor lauter fürsorglicher und gut gemeinter Betüttelung durch Experten verlernt, unserer eigenen Wahrnehmung noch zu trauen und auf dieser Basis selbst Einschätzungen zu treffen. Das muß sich meiner Meinung nach über Corona hinaus verändern. 

In dieser Frage spreche ich auch als meinem Gefühl nach gerade noch heil davongekommene Beinahe-Geschädigte einer Gesundheitsstrategie, die im Fall von Adipositas und den damit assoziierten Krankheiten unwirksame und manchmal auch die Krankheit verschlimmernde Strategien verfolgt. Experten können sich irren, und dann kann es lebensrettend sein, nicht auf ihren Rat zu hören. Aber dafür braucht man Selbstbewußtsein und Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und den Mut, selbst zu urteilen (auch auf die Gefahr hin, daß man falsch liegen könnte), und das wird einem in Gesundheitsfragen ja systematisch ausgetrieben. 

Richtig, wenn ich selbst entscheide, gehe ich das Risiko ein, daß ich falsch liege und dadurch Schaden erleide. Überlasse ich die Entscheidung einem Experten, gehe ich aber auch ein Risiko ein, nämlich daß er falsch liegt und ich dadurch Schaden erleide. Davon, daß dann nicht nicht schuld bin, sondern er es ist, kann ich mir im Zweifelsfall aber auch nichts kaufen. Ich kann es immer noch eher akzeptieren, durch meinen eigenen Fehler einen Schaden zu erleiden, als durch mir aufgedrängte Fehler anderer Leute, egal wie toll ihr Fachwissen ist. 

Natürlich höre ich mir an, was Fachleute sagen. Aber die Entscheidung treffe ich lieber selbst, sofern und sobald ich das Gefühl habe, mir ein Urteil zutrauen zu können. Wenn ich dann doch falsch liege, dann akzeptiere ich die Folgen daraus als Konsequenz meiner eigenen Handlung.

Ich kenne kaum jemanden, der sich im Bereich Gesundheit dazu in der Lage fühlt. Und genau das fehlt nicht nur im Falle von Corona. Die Leute machen alle nur, was ihre jeweiligen Gurus ihnen sagen, die einen halten sich dabei an die "offiziellen" - von Drosten über Wieler bis Kekulé -, und die anderen schwören auf Wodarg, Bhakdi und Stadler. Das übergreifende Problem dabei lautet: In jeder Frage lassen sich echte und vermeintliche Experten finden, die genau das vertreten, was jemand, der die staatlichen Handlungsanweisungen in einer wissenschaftlich begründeten Frage unangenehm findet, besonders gerne hören möchte. Es ist sinnlos, diesen Experten ihren Expertenstatus abzusprechen oder sich über sie lustig zu machen, denn aus Sicht eines Laien lesen sich ihre Begründungen ebenso wissenschaftlich wie die der Gegenseite. Aus seiner Sicht gibt es keinen Grund, ihm nicht zu vertrauen. Besser wäre es natürlich, er würde ein eigenes Urteil zustandebringen, aber wie man das tut, obwohl man fachlich ahnungslos ist, darauf wird in unserer Gesellschaft ja kein Mensch ausreichend vorbereitet. Ich habe es mir autodidaktisch angeeignet, und mir fällt immer wieder auf, daß kein Mensch außer mir das zu können scheint.

An Corona könnte man das ein bißchen üben, denn im Falle von Corona funktioniert der Null-Risiko-Ansatz sowieso nicht, und so bleibt Regierungen, Behörden und Experten gar nichts anderes übrig, als den einzelnen mit einer Teilverantwortung an der Lösung mitzubeteiligen. Würden sie über ihren Schatten springen und der Grundproblematik zu Leibe rücken, kämen sie schnell dahinter, daß das Entscheidende die Kommunikationsstrategie ist. Die müßte meiner Meinung nach zweigeteilt sein:

  • Einmal betreffend die verpflichtenden Maßnahmen, die nämlich nicht den Einzelnen selbst schützen sollen, sondern, ihn verpflichten, sich so zu verhalten, daß er andere Menschen schützt. Es geht hier also um einen Akt gesellschaftlicher Solidarität, und genau so muß das auch kommuniziert werden.
  • Sich selbst zu schützen, ist dagegen niemand verpflichtet, sondern es wird erwartet, daß jeder selbst einschätzt, auf welche Weise er das tut, und ebenso, ob und wie intensiv er die dafür bereitgestellten Informationen - die natürlich dann regelmäßig und verständlich kommuniziert werden müssen - nutzt. Hierbei geht es um Eigenverantwortung und ebenso um den Respekt vor der persönlichen Einschätzung, der Risikowahrnehmung und der Risikobereitschaft des einzelnen. 

Es geht um ein Grundvertrauen in die Bereitschaft und die Befähigung zum Selbsterhalt, und das kostet einen Staat, der es gewohnt ist, sich zu kümmern, natürlich einige Überwindung, weil es in der Natur der Sache liegt, daß die eigenverantwortliche Entscheidung für mache auch mit einer Fehlentscheidung und bösen Konsequenzen enden kann. Das kann ich nachfühlen. Ich erinnere mich noch genau daran, was für eine scheußliche Angst ich trotz bester Vorbereitung hatte, als ich mein Kind das erste Mal alleine über die Ampel einer vielbefahrenen Straße gehen ließ. Aber ich bin froh, daß ich ihm diese Chance gegeben habe, mir zu zeigen, daß er diese Aufgabe meistern konnte. Um Menschen stark zu machen, muß man bereit sein, sie in eigener Verantwortung Risiken eingehen zu lassen. Die Corona-Demonstranten wirkten auf mich in vielen Videoaufnahmen ein bißchen wie verzogene Kleinkinder oder trotzige Pubertierende, und ich habe den Verdacht, ihnen fehlen genau diese stark und im eigentlichen Sinne erwachsen machenden Erfahrungen. Ich glaube außerdem, sie sind Opfer, nicht einer Verschwörung, sondern einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Wenn Menschen nicht wie Erwachsene, sondern wie Kinder behandelt werden (und in einer Null-Risiko-Gesellschaft liegt das in der Natur der Sache), verwandeln sie sich in aufsässige Gören.







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