Mittwoch, 11. August 2021

Die "Fettlöserin" Nicole Jäger und das Kalb mit den zwei Köpfen

Mein Gewicht heute früh nach Fastentag 1 dieser Woche: 95,9 Kilogramm. Was für eine Erleichterung, denn gestern frustrierte mich die Waage mit 98,8. Keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist, aber ein Minus von 2,9 am Fastentag war bei mir eigentlich schon immer eine ausgesprochene Seltenheit und seit wir das Abendessen um 18 Uhr machen, fällt das zu erwartende Minus ja noch viel geringer als vorher aus und liegt häufig sogar unter 2 Kilo. Da war also wohl irgendein blöder Sondereffekt mitbeteiligt, bei dem das Wasser von Montag auf Dienstag aus irgendeinem Grund übertrieben in die Höhe geschossen ist. Jetzt hoffe ich, daß ich morgen bei um die 97 Kilo herum anfange und am Freitag wieder um die 95 herum liegen werde. 

Falls es so läuft wie letztes Jahr im Sommer, als ich ja auch während des Urlaubs meines Mannes auf lange Fastenintervalle verzichtet habe, müßte mein Gewicht ab nächste Woche dann endlich leicht zu sinken beginnen. Aber mir ist schon klar, daß alles auch ganz anders kommen kann, siehe die blöde 98,8 gestern.

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Ein Einschub aus aktuellem Anlaß, obwohl der Blogartikel eigentlich schon zu 90 Prozent fertig war und ein ganz anderes Thema betrifft, weil das eine wichtige Entdeckung ist: Schwedische Forscher fanden heraus, daß es unterschiedliche Subtypen von menschlichen Fettzellen gibt, und von denen reagierte in ihrer Untersuchung offenbar nur eine Sorte auf Stimulation mit Insulin. (Studie im Volltext hier, ich habe sie aber noch nicht durchgelesen.) Darin könnte sich möglicherweise die Erklärung verbergen für einerseits die schnellen Erfolge von Low Carb/Intervallfasten, wie auch andererseits für das Plateau, in dem man schlußendlich damit häufig landet.

Deshalb werde ich die Studie in jedem Fall noch komplett durchlesen müssen, vielleicht stoße ich darin ja noch auf Details, aus denen sich irgendwelche praktisch anwendbaren Schlußfolgerungen ziehen lassen. 

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Erinnert sich im Jahre 2021 eigentlich noch irgendwer an die "Fettlöserin" Nicole Jäger? Ich stieß auf ein YouTube-Video einer Talkshow aus dem Jahre 2015, in dem sie einer der Talkgäste war, und war nicht nur von der Dame selbst, sondern auch von den anderen Gästen, man könnte sagen, überhaupt von dieser ganzen Veranstaltung irritiert. Mich wunderte, daß niemand das, was Nicole Jäger sagte, irgendwie hinterfragte, auch nicht die sonderbarsten Details. Das hätten ja keine kritischen oder gar inquisitorischen Fragen sein müssen, leichte Verwunderung hätte es ja auch schon getan. Mich berührte es sonderbar, daß die anderen Gäste stattdessen nicht einmal mit der Wimper zuckten, wenn merkwürdige Details vorkamen wie etwa die Behauptung, sie habe ihr Gewicht von 340 Kilogramm ermittelt, indem sie auf zwei Personenwaagen stand. 

Funktioniert das auf diese Weise wirklich? Mein Mann meint, diese Methode müsse jedenfalls sehr ungenau sein. Die Frage wäre dann also, wie grob geschätzt diese 340 Kilogramm in Wirklichkeit waren, falls es sich dabei nicht - siehe weiter unten - sowieso um einen Wert handeln sollte, der in Wirklichkeit niemals gemessen wurde. Plusminus 20 Kilo hin oder her? 40? Noch mehr?

Daß Nicole Jäger behauptete, einmal 340 Kilogramm gewogen zu haben, hat mich aber noch am wenigsten aus der Fassung gebracht, obwohl es eine ganze Reihe von Fragen aufwirft, auf die ich später noch einmal zurückkommen werde und die merkwürdigerweise in der Talksendung nicht gestellt wurden. Gewichtsangaben dieser Art übersetze ich mir spätestens seit dem "Ex-160-Kilo-Mann" bei Spiegel Online in ein "Ich war damals viel fetter als heute". Die Abnahme an sich war es nicht, die ich bei dem bedauernswerten Micha Klotzbier angezweifelt habe, aber solange mir niemand die glatte Zahl 160 belegt, halte ich sie für eine "Begradigung" der Wahrheit - so, wie mir das das in den Medien leider bei allen möglichen Themen regelmäßig auffällt. Niemand scheint dabei noch irgendetwas zu finden.

In der Realität läuft es ja nie so wie in einem Roman, in dem jedes beschriebene Detail irgendeinen Sinn hat, was den Plot betrifft. Die Wirklichkeit ist viel zerfranster, es gibt immer irgendwelche Dinge, die sich in die Geschichte, die erzählt werden soll, nicht so richtig hineinfügen oder für deren Erklärung man viel zu weit ausholen müßte, als daß dies Bestandteil der Story werden könnte. Dann kommt der journalistische Erzähler natürlich in Versuchung, ein bißchen zu schummeln, in der Annahme, dies sei ja nicht weiter schlimm, solange nur das Gesamtbild nicht grob verfälscht werde. 

Das ist leider ziemlich üblich geworden, aber es ist trotzdem eine ziemlich dumme Idee. Warum sollte ich denn einem Gesamtbild noch vertrauen, nachdem ich den Autor im Detail bei einer nachweislichen Unwahrheit ertappt habe? Und mir passiert das andauernd. Wenn ich nun noch bedenke, daß ich ja gar nicht gezielt nach so etwas suche, muß ich davon ausgehen, daß das, was mir als "echte" Schummeleien auffällt, nur die Spitze des Eisbergs ist.

In Nicole Jägers Geschichte ist so vieles ungereimt, daß es mir auf diese Zahl 340 letztlich kaum noch ankam. Was ich ihr vor allem nicht geglaubt habe, und das scheint mir bedeutsamer, war, daß sie zum Zeitpunkt der Talkshow 170 Kilogramm gewogen haben soll. Ihr Gewicht muß meines Erachtens deutlich höher gewesen sein. Mit 170 Kilogramm bei 1,77 Meter Körpergröße hat man einen BMI von um die 54. Mein eigener BMI zu Maximalgewichtszeiten lag bei 51,5, also nicht gar so weit weg von dem, den sie als Gast in dieser Talkshow gehabt haben müßte. Wie Nicole Jäger aber mit einem BMI, der nur so geringfügig höher lag als mein maximaler, eine solche Wampe gehabt haben sollte, die sich mindestens doppelt so weit vorwölbte wie meine damalige, leuchtet mir nicht ein. 

Auf die Gefahr hin, wegen des Begriffs "Wampe" und meiner Erörterungen derselben nun für taktlos gehalten zu werden: Nicole Jägers Bauch hing ihr im Sitzen in dem verlinkten Video beinahe bis über die Knie. So extrem war das bei mir definitiv nie, auch nicht in meinen schlimmsten Zeiten. Ich bin deshalb der Meinung, sie muß zum Zeitpunkt dieser Sendung eher um die 200 Kilogramm herum gewogen haben. 

Spielt das aber überhaupt eine Rolle, diese dreißig Kilogramm hin oder her? Zumal dann, wenn man ihr glaubt, daß sie - wenigstens ungefähr - von 340 Kilogramm hergekommen ist, macht das denn überhaupt einen so gravierenden Unterschied, ob sie nun 140 oder 170 Kilogramm abgenommen hat? Beides sind ja fast unvorstellbare Zahlen - jedenfalls für Leute, die noch nie einen BMI über 40 gehabt haben. In Wirklichkeit gelingen schwer Adipösen, die sich ernsthaft um eine Gewichtsabnahme bemühen, aber ziemlich häufig unvorstellbare Gewichtsabnahmen, 30, 40, 50 oder wie Nadja Hermann sogar über 70 Kilogramm sind längst nicht so selten, wie sich das viele Leute vorstellen. Und natürlich können diese Abnahmen umso höher ausfallen, je höher das Ausgangsgewicht war. Nur schaffen es die wenigsten unter diesen erfolgreichen Abnehmern, ihre unvorstellbare Gewichtsabnahme längere Zeit zu halten.

In Nicole Jägers Fall machte es deshalb einen Unterschied, weil es bei ihrem Talkauftritt wie bei ihrem Buch auch um die Frage ging, ob Nicole Jäger auch die zum Normalgewicht noch fehlenden 100 Kilogramm plusminus x noch abnehmen könne. Denn dies war ja sinngemäß ihre Kernaussage: Ich bin Abnehmprofi, weil ich 170 Kilo abgenommen habe.  Die Zahl derer, die ein Gewicht von 170 Kilogramm als Ergebnis einer Abnahme glücklich machen würde, ist allerdings höchstwahrscheinlich ziemlich überschaubar, also ging es stillschweigend ja wohl auch um die Erwartung, jemand, der eine solche Abnahme hingekriegt habe, der werde nun auch noch weiter bis zum Normalgewicht abnehmen können.

Tatsächlich ist dies aber in den Jahren seit dieser Talkshow nicht geschehen. Die Nicole Jäger von 2021 hat augenscheinlich ungefähr dieselbe Figur wie die von 2015, welches Körpergewicht auch immer das bedeuten mag. Zwischendurch legte sie 2016 meinem Eindruck nach außerdem ein gutes Stück zu, das sie später dann wieder abnahm. 

Das alles deutet weniger auf einen Abnehmprofi als auf einen Jojo-Profi hin.

Nicole Jäger war offenbar jahrelang (von 2008 bis 2015) im Forum Abnehmen.com aktiv, und dort löste ihr Buch, als es neu herausgekommen war und Frau Jäger gerade durch alle Talkshows tingelte, heftige Diskussionen aus, weil vieles, was sie in ihrem Buch geschrieben hatte, in erheblichem Widerspruch zu dem stand, woran man sich aus ihrer Forumszeit erinnerte. Ihr Tagebuch hatte sie 2015 löschen lassen, aber ihr Account besteht noch, und einige der Diskussionen, an denen sie beteiligt war, kann man noch nachlesen, und ein paar dieser Beiträge habe ich auch gelesen. Da gibt es tatsächlich gröbere Ungereimtheiten. Gleichzeitig haben gerade diese Diskussion um ihre Person und die Details, die von anderen Forumsteilnehmerinnen über sie recherchiert wurden, in Kombination mit ihren alten Beiträgen dazu geführt, daß sie mir eher leidtat. 

Ist Nicole Jäger eine Hochstaplerin? Eine Menge Leute halten sie dafür und nehmen ihr das übel. Ich nicht. Ich nehme die Hochstapelei nämlich nicht ihr übel, sondern den Medien. Falls man sie für eine Betrügerin hält, wäre ihr der Betrug ohne mindestens eine extrem hohe Bereitschaft der Medien, dabei mitzuspielen, ja gar nicht gelungen. Mit dieser Bereitschaft meine ich: Sich blind, taub und debil stellen, wenn sie Geschichten erzählt, bei denen eigentlich jeder Normalbegabte stutzig werden und ein paar Rückfragen stellen sollte, die nicht nur in dieser Talkshow unterblieben sind, sondern praktisch überall, wo sie interviewt oder porträtiert wurde. Es ist schon auffällig, daß sie immer nur "softball questions" gestellt bekam.

Noch vor den TV-, Print- und Onlinemedien, die Nicole interviewt und ihr eine Plattform geboten haben, gilt das erst einmal und vor allem für ihren Buchverlag. Und bei dem handelt es sich nicht um irgendeine von vornherein zweifelhafte Klitsche vom Kaliber eines Kopp Verlags, sondern dafür hat der Rowohlt-Verlag sein durchaus ansehnliches Prestige in die Waagschale geworfen. Ich finde es übrigens auffällig, daß Nicole Jäger und Nadja Hermann ungefähr zur selben Zeit von Buchverlagen unter Vertrag genommen wurden (Nadja Hermanns Verlag war Ullstein, auch ein Verlag mit eigentlich gutem Ruf). Offenbar bestand damals am Markt eine hohe Aufnahmebereitschaft für ungewöhnliche Abnehm-Geschichten, und je schräger, desto besser. (Der "Ex-160-Kilo-Mann" bei Spiegel Online, eine Fortsetzungsgeschichte, in deren Verlauf mir die Erbärmlichkeit, zu der das einst beste Nachrichtenmagazin Deutschland hinabgesunken ist, deutlicher denn je auffiel, war übrigens auch in dieser Zeit.) 

Buchverlage mit Ansehen zehren meiner Meinung nach mittlerweile - genauso wie die sogenannten "Qualitätsmedien" im journalistischen Bereich - überwiegend nur noch von dem guten Ruf, den sie sich in besseren Zeiten erworben haben, und das ist auch nicht erst seit gestern so. Es hat etwas damit zu tun, daß schon seit Jahrzehnten die Betriebswirte immer größere Teile der Verlagsbranche regieren, spätestens seit Konzerne wie Penguin Random House (vormals: Bertelsmann - genau, die von der Bertelsmann Stiftung) oder eben Holzbrinck (zu dem Rowohlt gehört) den größten Teil der angesehenen früher unabhängigen Verlage aufgekauft haben. Das Ansehen der Buchverlage von einst wurde erworben, indem man sich den Luxus leistete, Bücher, die für inhaltlich wichtig gehalten wurden, trotz absehbarer Verluste bei der Publikation trotzdem zu veröffentlichen und dies mit den Gewinnen anderer Titel querzusubventionieren. Heutzutage können Buchverlage sich das überwiegend gar nicht mehr leisten, und von denen, die es könnten - Stichwort Konzerne -, tun es auch nur noch die wenigsten. Statt dessen wird stur immer das publiziert, was voraussichtlich das meiste Geld bringen wird, und der Aufwand, den man in den Inhalt noch zu stecken bereit ist, orientiert sich natürlich ebenfalls an dieser Frage. 

Verlage sind nämlich längst darauf eingestellt, die neu publizierten Bücher nur für einen relativ kurzen Zeitraum einzuplanen. Bücher, auch Hardcover-Ausgaben, sind heutzutage eine Art Wegwerfartikel geworden, produziert für einen kurzatmigen Markt, der die brandaktuelle Neuerscheinung von heute spätestens in sechs Monaten in die Ramschkiste verbannen wird, und damit ist die Erstverwertung der Erstauflage im Prinzip abgeschlossen, es sei denn, ein Titel verkauft sich so gut, daß weitere Auflagen produziert werden können. Das Geld für die Deckung der Produktionskosten muß jedenfalls in der Zeit zwischen Erscheinen und der mit einiger Wahrscheinlichkeit betriebswirtschaftlich am vorteilhaftesten Verramschung nach wenigen Monaten verdient werden, und Bücher, bei denen dies nicht zu erwarten ist - oder jedenfalls von den Marktstrategen der Verlage nicht erwartet wird -, müssen ihr Heil im Selfpublishing-Bereich suchen. 

In jedem Verlag werden natürlich dennoch kommerzielle Nieten veröffentlicht. Es wird aber aktiv angestrebt, deren Zahl zu minimieren und idealerweise auf Null zu bringen. 

Jemand wie Nicole Jäger - die kurz zuvor als Abnehm-Coach im Fernsehen bestaunt werden konnte - ist für solche Rahmenbedingungen mit einer Aufmerksamkeitsspanne von ca. einem halben Jahr, die es zu nutzen gilt, fast ideal. 

Ein Buchverlag kann außerdem nicht viel verlieren, wenn er offensichtliche Lügen als angeblich wahre Geschichte publiziert, auch dann nicht, wenn sich über ihrem Autor ein Shitstorm zusammenbraut, weil ihm eine Lüge (oder, siehe Annalena Baerbock, ein Plagiat) nachgewiesen werden kann. Gerade ein Shitstorm ist - gleich nach einem Begeisterungs-Hype - sogar das Zweitbeste, was aus Verlagssicht passieren kann. Die Leute schimpfen dann zwar über das Buch und seinen Autor, aber sie kaufen es trotzdem wie verrückt, weil aus irgendwelchen Gründen jedermann glaubt, über ein Buch schimpfen darf nur, wer es auch gelesen hat. Auf diese Weise trägt gerade ein Shitstorm in besonderem Maße zum Erfolg des Buches, dem Honorar der Autoren und dem Gewinn des Verlages mit bei. 

Nicoles Vorgeschichte ist - von wenigen Schlaglichtern abgesehen - in eine Art diffusen Nebel gehüllt, den - so entnahm ich das einigen Rezensionen - auch die Lektüre ihres Buches nicht weiter erhellen würde, weshalb ich davon absehe, es mir aus der Bibliothek auszuleihen (es zu kaufen käme für mich nach der obigen Schilderung aus prinzipiellen Gründen nicht in Frage). Ob ich es stehenlassen werde, sollte es mir auf dem Flohmarkt in die Hände fallen, kann ich jetzt noch nicht sagen, und sollte ich es in einer dieser "Zu verschenken"-Kisten finden, nehme ich es höchstwahrscheinlich schon mit. 

Heute ist Nicole Jäger 38, das heißt, sie müßte ca. 1983 geboren sein. In einem Interview mit der Emma gab sie an, schon als kleines Mädchen pummelig gewesen zu sein und beschuldigte implizit Ärzte, ihre Eltern und diverse ihr verordnete Kuraufenthalte, bei ihr die Adipositas ausgelöst zu haben. Dennoch will sie in ihrer Kindheit außerdem Leistungssport betrieben haben. Im Alter von 14, also Ende der neunziger Jahre, erlitt sie nach eigenen Angaben einen Sportunfall, der ihre starke Zunahme auslöste. Ihr Maximalgewicht von 340 Kilogramm hatte sie, ebenfalls nach eigenen Angaben, im Alter von 26, also um 2009 herum. Zu jener Zeit war sie allerdings in einem Forum zugange, in dem von diesem Gewicht (noch) nicht die Rede war. Glaubhafter kommt mir der Satz im gleichen Interview vor, laut dem sie seit ihrem fünften Lebensjahr ständig auf Diät gewesen sei. 

Ständig auf Diät gewesen zu sein, das ist der Faktor, den meinem Wissensstand nach fast alle im Alter vor den Wechseljahren SEHR dick Gewordenen miteinander gemeinsam haben. Eine interessante Teilfrage beträfe aus meiner Sicht die Rolle, die übergewichtspanische Eltern sowie Diäten, mit denen sie bei ihren Kindern selbiges zu bekämpfen versuchten, bei heutigen jüngeren Erwachsenen (im Alter bis ca. 40) gespielt haben könnten: Könnte dies speziell ungewöhnlich hohe Gewichtszunahmen zusätzlich begünstigt haben? 

Denn ich erinnere mich noch sehr genau, daß schon in der Kindheit meines Sohnes während der neunziger Jahre die Übergewichtsvermeidung bei Kindern in Kindergärten, Schulen und bei Ärzten ein Riesenthema gewesen ist und Experten sich aktiv um die Eltern von betroffenen bzw. wirklich oder vermeintlich gefährdeten Kindern bemüht haben, und das mit einer Penetranz, daß ich vor jedem anstehenden Elternabend davon zu phantasieren begann, mir eine Dose Cola und eine Tüte Kartoffelchips mitzunehmen und sowie das Thema angesprochen wurde, beides demonstrativ hervorzuholen und zu verspeisen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mein Sohn in der zweiten Klasse eines Tages aus der Schule nach Hause kam und sagte: "Ich habe gerade noch Normalgewicht", und das klang wie "Ich habe gerade noch eine vier minus". Eigentlich war ich im Umgang mit Lehrern pflegeleicht, aber an diesem Tag machte ich einen Termin mit der Klassenlehrerin aus, um sie zu fragen, ob es aus ihrer Sicht wirklich nottue, Kindern schon in diesem Alter ein negatives Körperbild zu vermitteln, und ob es nicht völlig ausreiche, daß Mädchen um die Pubertät herum mit Diäten anfangen, ob man das nun schon bei Grundschulkindern beiderlei Geschlechts aktiv herbeiführen wolle. 

Ich erinnere mich auch noch an das kulleräugige Erstaunen der jungen Lehrerin, der meine Argumentation erkennbar über den Horizont ging. Sie gab sich betroffen, aber ich gebe mich nicht der Illusion hin, daß sie an ihrem Unterricht allzu viel verändert hat. Außerdem gehe ich davon aus, daß dies überall im Lehrplan stand und entweder mit einigermaßen vorhandenem pädagogischen Geschick gehandhabt wurde, oder eben so, wie von dieser Lehrerin. Sicher zuweilen auch schlimmer. 

Was Ernährungsratschläge betrifft, war ich schon seinerzeit nicht sonderlich kooperativ, was auch damit zu tun hatte, daß ich kein schlechtes Gewissen hatte und keinen Grund dazu. Ich war ja die Mutter dieses Kinds, das sich mit einem Freudenschrei "Lecker! Blumenkohl" aufs Abendessen stürzte, wofür mich bestimmt anderer Kinder Mütter erdolcht hätte, wenn sie es nur gewußt hätten. Alles, was ich "falsch" machte, machte ich absichtlich falsch. Deshalb nahm ich ernährungspädagogische Bemühungen in der Regel ungnädig auf.

Bei vielen Eltern fielen entsprechende "pädagogische Gespräche" vermutlich auf fruchtbareren Boden als gerade bei mir, aber das muß nicht zwangsläufig bedeuten, daß dies zum Nutzen ihrer Kinder geschehen ist.

Übrigens fand ich es interessant, wie clever Nicole Jäger in der Emma genau die Knöpfe gedrückt hat, die bei einer Zeitschrift dieser ideologischen Ausrichtung funktionieren sollten. 

Zu bloggen begann Nicole Jäger 2013, 2014 trat sie erstmals im Fernsehen auf; beides mündete dann wohl in den Vertrag über ihre Buchpublikation. 2015 und 2016 waren für Nicole Jäger eine Art lange PR-Tour für ihr Buch. Was mag es zu bedeuten haben, daß die Emma erst im Sommer 2016 dran gewesen ist? Hatte da das Interesse der "Mainstream-Medien" bereits nachgelassen, so daß man die Interviews noch mitnahm, die aus irgendwelchen Nischen heraus noch zu bekommen waren, bevor die Restauflage ihres Buches in die Wühltische verbannt werden mußte? Ehrlich gesagt, es würde mich nicht wundern.

Also, diese Talkrunde im SWR Nachtcafé war offensichtlich auch Bestandteil der Buch-Promotion von Nicole Jäger, aber in einem frühen Stadium. Was ich von den anderen Talkgästen zu halten habe, bin ich mir nicht sicher. Kann das vielleicht sein, daß sie sich dafür hergegeben haben, in Bezug auf Nicole Jäger - ihre eigene Geschichte brachten sie natürlich ebenfalls ein - als bloße Stichwortgeber aufzutreten? Daß alle Teilnehmer - der Moderator wie auch alle Gäste, einschließlich derjenigen, die medizinisches Fachwissen hatten - so geradezu grimmig entschlossen schienen, kein Wort, das sie erzählte, anzuzweifeln, kann ich mir bei einer ungescripteten Sendung fast nicht vorstellen.  

Dabei drängten sich schon bei beiden Zahlen, ihrem angeblichen Startgewicht 340 Kilogramm und ihrem angeblich damals aktuellen Gewicht 170 Kilogramm, manche Fragen förmlich auf, und ich finde es vor allem als Zuschauerin ärgerlich, mit meinen unbeantworteten Fragen so alleine gelassen zu werden. Meine Fragen zur zweiten Zahl habe ich bereits gestellt. Die erste Zahl, 340, bedeutet wiederum ein so extremes Gewicht, daß ich die weltweite Zahl der lebenden Menschen, die so viel oder noch mehr wiegen, auf eine höchstens dreistellige Zahl schätze. 

Vielleicht war das nicht jedem der Talkshowgäste klar, da für viele Normal- oder fast Normalgewichtige ja oft schon alles über 100 Kilogramm den Rahmen des Vorstellbaren sprengt, obwohl ein solches Gewicht ja gar nicht so selten ist, und nur noch nach dem Prinzip "1, 2, viele" gezählt wird - also ein Gewicht von 300 Kilogramm auch nicht merkwürdiger als eines von 150 erscheint. Aber mit einem Gewicht von 300 Kilogramm ist - anders als bei 150 Kilogramm - auch der Rahmen dessen gesprengt, innerhalb dessen Ärzte und Epidemiologen für gewöhnlich Gesundheitsrisiken erörtern.Es gibt da ja diese trashige amerikanische TV-Dokumentationsserie "Mein Leben mit 300 kg", diesen Leuten sieht man auf den ersten Blick an, daß sie längst nicht mehr krankheitsgefährdet, sondern definitiv wirklich krank sind. 

Alleine die geschwollenen Beine! Solche Schwellungen sind kein Fett, sondern Wasser, das für sich alleine schon zig Kilogramm des überhöhten Körpergewichts ausmachen kann und ein ziemlich eindeutiges Zeichen dafür, daß der Körper mit dem hohen Gewicht nicht mehr klarkommt. Es erinnert mich außerdem an Sonja Bauer, den "Star" einer TV-Dokumentation, in dem es um Magenverkleinerungs-Operationen ging, deren Beine ebenfalls so extrem angeschwollen waren. Ihr Maximalgewicht lag bei - im Vergleich zu Nicole Jäger fast schon harmlos klingenden - 215 Kilogramm, und ich schrieb vor längerer Zeit einen Blogartikel über sie. 

In diesem Blogartikel über Sonja Bauer erwähnte ich unter anderem auch, daß diese 215 Kilogramm - aber ebenso auch schon mein eigenes Maximalgewicht von 147 Kilogramm - innerhalb der Personen mit Adipositas deutliche Ausreißer nach oben, nicht etwa das typische Gesicht einer sogenannten "Adipositasepidemie" darstellen.

1,5 Prozent der deutschen Bevölkerung, erwähnte ich dort (die damals verlinkte Quelle ist leider unter dem Link nicht mehr auffindbar, und ich such jetzt keine neue), haben Adipositas Grad 3, die höchste und gesundheitskritischste Einstufung von Übergewicht, das als krankhaft gilt. Das wären ungefähr 1,2 Millionen Menschen, also tatsächlich ziemlich viele. Aber von diesen 1,2 Millionen müssen die meisten ein Gewicht haben, das unter meinem Maximalgewicht liegt. Adipositas Grad 3, also einen BMI von  40, habe ich nämlich erst nach einer Abnahme von 33 Kilogramm mit einem Körpergewicht von 114 Kilogramm wieder unterschritten. 

Fälle wie meiner sind zwar wahrscheinlich deutlich in der Minderheit, aber dennoch nicht wirklich selten. Ich habe versucht, herauszufinden, wie häufig sie sind, aber leider erfolglos: Mit BMI 40+ werden wir alle über einen Kamm geschoren: diejenigen, die noch frohgemut mehrtägige Wandertouren unternehmen, wie ich mit 120 und sogar noch mit 130 Kilo, und diejenigen, die ihre Wohnung nicht mehr verlassen können, weil ihre Beine sie nicht mehr tragen. Aber ich sehe relativ häufig Leute auf der Straße, die ich auf ungefähr meine damalige Statur einschätze - und: Meine Kleidergröße lag mit 56/58 noch in etwa in dem Bereich, in dem es eine vernünftige Auswahl gibt, also genügend Käufer einkalkuliert werden können, um eine Produktion im größeren Stil lohnend zu machen. 

Das ist jetzt gewissermaßen aus dem Kaffeesatz gelesen, aber ich könnte vielleicht zu den schwersten zehn Prozent unter diesen 1,2 Millionen "extrem Adipösen" in Deutschland gehört haben. Damit befände ich mich immer noch in Gesellschaft von immerhin 120.000 Menschen. In Sonja Bauers Gewichtsklasse, noch einmal 60 bis 70 Kilogramm schwerer,  sieht es aber garantiert schon sehr viel spärlicher aus. 180 Kilogramm sind zum Beispiel das Maximalgewicht normaler Krankenhausbetten. Die Schwerlastbetten, Schwerlaststühle und -liegen, die für Patienten zum Einsatz kommen müssen, die mehr als 180 Kilogramm wiegen, haben eine Belastungsgrenze von zwischen 200 und 300 Kilogramm. Körpergewichte über 300 Kilogramm werden bei der Konstruktion offenbar noch nicht ernsthaft mitberücksichtigt. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, daß es in Deutschland mehr als ein paar wenige Einzelfälle mit einem solchen Körpergewicht gibt. Mit der "Volkskrankheit Adipositas" hat so ein Gewicht dann natürlich auch nicht mehr viel zu tun, sondern ist eher eine Kuriosität, so wie ein Kalb mit zwei Köpfen. 

Nicht zu vergessen dabei: Dieser Kuriositätswert ist es dann natürlich auch, der eine Nicole Jäger, die angeblich vor einiger Zeit noch ein solches Kalb mit zwei Köpfen gewesen ist, für die Medien so interessant macht, daß niemand es für nötig hält, dafür irgendwelche Belege zu verlangen. Hilfreich für "normale" Adipöse, wie man sie jeden Tag auf der Straße sehen kann, ist meiner Meinung nach nichts daran, ausgerechnet ihrem Fall möglichst viel Publizität zu verschaffen. Aus meiner Sicht kann ich von Nicole Jäger rein gar nichts Sinnvolles lernen, und zwar nicht einmal dann, falls sie wirklich 170 Kilogramm abgenommen haben sollte, da ich ja kein Zielgewicht von 170 Kilogramm habe und das, was sie erreicht hat, weit hinter dem zurückbleibt, was sich nahezu hundert Prozent der Abnehmenden erhoffen.

Wenn ich mich zurückerinnere, wie es war, 147 Kilogramm zu wiegen, dann ist mir klar, daß Nicole Jägers Alltag mit ihrem jetzigen Gewicht nicht ganz unkompliziert sein kann. Ich hatte schon mit 120 Kilogramm Schwierigkeiten, bei meiner Mutter die Dusche zu benutzen und in der Wohnung meiner Schwester, früher die Wohnung meiner Großeltern, wäre ich nur mit Mühe ins Klo reingekommen, das eine Fehlkonstruktion von Tür hatte, die nach innen geöffnet werden mußte. Klar, man richtet sich die Sache in seinem gewohnten Alltag immer so ein, daß alles halbwegs reibungslos funktioniert. Aber daß Frau Jäger mittlerweile von öffentlichen Auftritten lebt, für die sie durch die ganze Republik tingelt, stelle ich mir ganz schön kniffelig vor, beginnend mit der Fahrt zum Auftrittsort bis zur Sicherstellung von Stühlen, in die sie überhaupt noch hineinpaßt. Auftritte im Stehen dürften für sie ganz schön anstrengend sein, und ihre Kleidung ist zwar wirklich schick, wirkt auf mich aber eher unbequem - und wie lange das dauern mag, diese Fummel anzuziehen, wage ich mir gar nicht vorzustellen.

Mit 340 Kilogramm, behaupte ich, wäre Nicole Jäger durch keine genormte normale Zimmer- oder Wohnungstür mehr hindurchgekommen. Man hat ab einem gewissen Gewicht schlicht keine Möglichkeit mehr, seine Wohnung zu verlassen, auch deshalb, weil einen die Beine auch nur noch schlecht oder gar nicht mehr zu tragen imstande sind. Wenn jemand mit einem solchen Gewicht ins Krankenhaus muß, ist das ein logistischer Kraftakt und erregt genügend Aufsehen, um Schaulustige anzulocken und Zeitungsmeldungen auszulösen.

In Berlin wurde kürzlich eine Frau ins Krankenhaus eingeliefert, die mehr als 300 Kilogramm wog. Die Feuerwehr hatte die Hauswand durchbrechen müssen, um die Frau aus ihrer Wohnung zu tragen. Zum Glück, hieß es, lebte die Frau im Erdgeschoss, sonst wäre ein Kran angefordert worden.

Vermutlich wog Nicole Jäger ungeachtet ihres massiven Übergewichts niemals dermaßen viel, daß sie ein Fall fürs Kuriositätenkabinett, also eines dieser erwähnten Kälber mit zwei Köpfen, geworden wäre, aber es ist ihr verblüffenderweise gelungen, sich ausgerechnet durch die Behauptung, dies einmal gewesen zu sein, eine Existenz - nämlich als halbprominente Buchautorin und als Komikerin - zu schaffen. Das ist aber allemal besser als ihre vorherigen Versuche, sich als Abnehm-Coach zu etablieren. Daß sie vom Abnehmen überhaupt nichts versteht, davon zeugt die Tatsache, daß es ihr in den letzten fünf Jahren nicht gelungen ist, weiter abzunehmen, sondern in der Jojo-Falle steckengeblieben zu sein scheint. Daß sie aber ungeachtet dessen ein echtes komisches Talent ist, davon zeugt, daß ich bei diesem Videoclip an einer Stelle Tränen gelacht habe, obwohl ich ihn gar nicht zum Spaß angeschaut hatte, sondern nur, um ihr aktuelles Gewicht des laufenden Jahres 2021 einzuschätzen. Ich habe sehr schmallippig begonnen, den Clip zu schauen, aber am Ende nickte ich anerkennend. Hochstaplerin hin oder her, in diesem Metier scheint sie am richtigen Platz zu sein.

Falls irgendwer neugierig darauf ist, welche Stelle mich so erheitert hat: Es ging um die Klebestreifen in Damenbinden. Über die habe ich noch nie und nirgends wahrere Worte gehört als die von Nicole Jäger. Das war eine Gelegenheit für ein stilles Dankgebet dafür, daß ich längst jenseits der Wechseljahre bin. Damenbinden gehören zu den Dingen, die ich ü-ber-haupt nicht vermisse.

Es ist eine spannende Frage, ob Nicole Jägers derzeit gesicherter Lebensunterhalt vielleicht sogar gefährdet wäre, falls sie tatsächlich den Dreh mit dem Abnehmen bis zum Normalgewicht doch noch herauskriegen würde, oder ob dies ihren Ruhm im Gegenteil in neue Höhen katapultieren würde. 

Wäre eine normalgewichtige Nicole Jäger noch so komisch, wie sie es jetzt ist? 

Wahrscheinlich wäre ihr das völlig egal. Sie hat ja nicht umsonst mindestens ihr gesamtes Erwachsenenalter lang gegen immer höheres Übergewicht angekämpft. Vielleicht fände sie es ja zur Abwechslung ganz angenehm, keinen Grund zu haben, über sich selbst zu lachen.

Vor vielen Jahren - angeblich um 2007 herum - hat Nicole Jäger sich schon einmal vergeblich um eine Magenverkleinerung bemüht. Damals waren die Krankenkassen noch sehr zögerlich mit den Genehmigungen, aber mittlerweile hat man eher den Eindruck, solche Operationen werden den Leuten geradezu aufgedrängt. Es würde mich gar nicht überraschen, wenn Nicole Jäger im Lauf der nächsten Jahre diese Möglichkeit nutzen würde. Obwohl ich es natürlich viel besser fände, wenn sie das Intervallfasten entdecken würde.

 

 

 

1 Kommentar:

  1. Was Nicole Jäger betrifft, Uhla hat im Abnehmforum mal was gepostet:

    https://www.abnehmen.com/threads/382713-talk-video-mit-nicole-jaeger-die-mal-340-kg-gewogen-hat?p=13898493&highlight=Nicole+J%E4ger#post13898493

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