Ach, übrigens: Sobald ich unter 97 Kilo bin, habe ich eine Gewichtsabnahme von mehr als 50 Kilogramm zu verzeichnen. Hätte mir vor drei Jahren jemand gesagt, daß ich zu einer solchen Abnahme in der Lage sei, hätte ich ihm an einem guten Tag den Vogel gezeigt und an einem schlechten die Freundschaft aufgekündigt. So was hätte ich nicht einmal als Scherz akzeptieren können, weil meine Humorfähigkeit bei diesem Thema ziemlich eingeschränkt war. Wenn man einem Problem so hilflos gegenübersteht, kann man weder Scherzkekse noch Besserwisser gebrauchen.
Jetzt bin ich aber nicht mehr hilflos, und was daran noch schöner ist: Ich habe keinerlei Zweifel, daß ich erstens eine Wiederzunahme nicht zu befürchten habe und zweitens bis zu einem von mir selbst gewählten Punkt im Normalgewichtsbereich problemlos weiter abnehmen und anschließend dieses Gewicht dauerhaft halten kann, ohne mir dies mit permanenter Anstrengung, Selbstdisziplinierung und Selbstbeobachtung erkämpfen zu müssen. Meinen Humor habe ich wiedergefunden, aber gegenüber den Besserwissern schwankt meine Haltung noch ein bißchen; das hängt von ihrem Aufteten ab. Mir selbst können sie ja nichts mehr, aber es gibt Momente, in denen wird es mir kotzübel, wenn ich ihren Umgang mit anderen beobachte, Leuten, die das Problem noch habe, das ich für mich lösen konnte.
Mein selbstgewählter Punkt lautet: 73,5 Kilogramm, und gewählt habe ich ihn eigentlich nur deshalb, weil das 50 % meines Ausgangsgewichts sind und somit eine symbolträchtige Zahl ist. Sein Gewicht halbieren, das ist schon eine Ansage. Zwischen zwei und drei Jahre werde ich wohl noch brauchen, bis ich an diesem Punkt bin, und würde mir das schwerfallen, was ich mache, käme ich wohl allmählich in Versuchung, früher aufzuhören, weil ich mich längst wieder in meinem physischen Wohlfühlbereich befinde und somit aus dieser Richtung keine drängenden Gründe bestehen, die mich zum Weitermachen nötigen würden. Wenn ich Eitelkeiten mit in Betracht ziehe, läge meine Grenze wohl bei ungefähr 90 Kilogramm ... sagen wir 89, weil bei der Eitelkeit ja auch eine Rolle spielt, welche Zahl vorne steht. Da ich jetzt schon bei Kleidergröße 44 angekommen bin, bei Hosen teils auch schon 42, wäre ich mit zehn Kilo weniger als jetzt auch aus dem "niedrigen Übergrößenbereich" vollständig raus.
Aber warum sollte ich aufhören mit etwas, das mir keinerlei Mühe macht?
Meine Welt wäre gerade völlig in Ordnung, wenn das, was ich mache und womit ich ein lebenslang unlösbares Problem in den Griff bekommen habe, nicht so ziemlich das Gegenteil von dem wäre, was "die Wissenschaft" so empfiehlt und ich tagtäglich den zugehörigen Schwachfug zu lesen bekäme, Ernährungswissenschaftlerweisheiten, wie etwas diese hier von einer Professorin im einschlägigen Bereich:
Das Traurige an solchen Aussagen ist, daß ich sie für durchaus ernst gemeint halte, einschließlich der Zielsetzung. Richtig erkannt ist hier, daß die Umsetzung der "wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse" nicht gelingt - wobei "häufig" aber schon ein Euphemismus ist, denn in Wirklichkeit gelingt sie "in den meisten Fällen" nicht. Dies anzuerkennen wäre ein wichtiger erster Schritt, um zu der weiteren Erkenntnis zu gelangen, daß die Erkenntnisse, die sie meint, fehlerhaft und deshalb von vornherein gar nicht umsetzbar sind. Wäre es nämlich anders, könnten mehr als nur ein kleiner Bruchteil unter den Anwendern das, was auf dem Papier als richtig verbreitet wird, in der wirklichen Welt tatsächlich umsetzen.Wie trägst du dazu bei, dass die Menschheit sich gesünder ernährt und/oder die Umwelt nachhaltiger gestaltet wird?
Ich versuche durch angewandte Forschung wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zu generieren, die bei der Umsetzung zu einem gesünderen und auch nachhaltigen Ernährungsverhalten unterstützen. Die Schwierigkeit besteht häufig darin, dass das Wissen vorhanden ist, die Umsetzung aber nicht gelingt. Zurzeit sind neue Ansätze in der Diskussion und im Gespräch, die dem Bereich der Verhältnisprävention zuzuordnen sind, wie z.B. die Förderung gesunder Quartiere oder auch Nudging. Zudem ist es mir ein Anliegen, die zukünftigen Generationen von ÖkotrophologInnen zu sensibilisieren, im Zeitalter von „Fake News“ die Wissenschaftlichkeit richtig einschätzen und interpretieren zu können. Wir brauchen die Wissenschaft, um eine fundierte und vor allem seriöse Grundlage für Handlungsempfehlungen für eine gesündere und nachhaltigere Ernährungsweise zu haben.
Allein schon, daß die Frau Professorin diese Schlußfolgerung nicht zieht, macht ihre Bemühungen darum, neue Mittel und Methoden zur Vermittlung ihrer fehlerhaften Empfehlungen zu finden, zu einem traurigen Witz.
Das von ihr dabei so gepriesene in den letzten Jahren in Mode gekommene Nudging finde ich allerdings gar nicht zum Lachen. Als "Nudging", wörtlich "anstupsen", bezeichnet man ja eine Methode, die Leute mit manipulativen Methoden dazu zu bringen, das vermeintlich Richtige zu tun. Neu ist dabei vor allem der Begriff. Im kommerziellen Produktmarketing wird das schon seit Jahrzehnten angewandt. Im Grunde ist es nur folgerichtig, in einer Gesellschaft, die in den letzten ca. zwei Jahrzehnten so gnadenlos durchkommerzialisiert wurde, daß kaum jemand noch bemerkt, wie unlogisch das eigentlich ist, auch dieses Mittel aufzugreifen. Folgerichtig bedeutet allerdings nicht, daß es damit auch sinnvoll ist. Im Gegenteil war schon die Durchkommerzialisierung meiner Meinung nach ein schwerwiegender Fehler. Aber das näher auszuführen, würde an dieser Stelle wohl zu weit führen.
Aus dem Produktmarketing könnten die wohlmeinenden Nudger im Public-Health-Bereich jedenfalls einiges über die Grenzen des Erfolgs solcher Methoden lernen. Denn tatsächlich ist es zwar möglich, durch manipulative Mätzchen Käufer dazu zu verleiten, Dinge zu kaufen, die sie ursprünglich gar nicht kaufen wollten. Was sie aber damit nicht erreichen können, ist, daß diese Käufer sie auch ein zweites Mal kaufen, falls sie ihre Erwartungen nicht befriedigt haben. Alle Manipulation nützt also nur dann etwas, wenn das vermarktete Produkt den Käufer anschließend wirklich ím praktischen Gebrauch überzeugt. Je häufiger ein Produkt nachgekauft werden muß, desto schlechter wirkt Manipulation, auf Dauer gesehen. Kein Wunder also, daß die Nahrungsmittelindustrie ständig neue Produkte einführt und alte wieder vom Markt nimmt.
Nudging als Mittel in einer Präventionsstrategie wird ähnliche Erfahrungen erzeugen. Schlimmer noch: Da die handelsüblichen Ernährungsstrategien von vornherein gar nichts taugen, wird Nudging als Mittel zu ihrer besseren Durchsetzung die Adipositas-Epidemie eher verschlimmern als verbessern.
Ich will das jetzt aber auch nicht vertiefen, denn meine wichtigsten Vorbehalte gegen "Nudging" sind prinzipieller Natur. Ich mag mich nämlich nicht in eine von irgendwelchen Dritten aus welchen Gründen auch immer so gewollte Richtung schubsen lassen. Einmal davon abgesehen, daß die Nudger längst nicht immer realistisch einschätzen können, ob der Schubser, den sie einem geben, für den Geschubsten wirklich in eine Richtung führt, die gut für ihn ist, tut auch der vorsichtigste Stups irgendwann mal richtig weh, wenn das Schubsen einen immer wieder auf dieselbe Stelle trifft. Weil ich die Richtung nun einmal nicht gehen will, in die man mich unermüdlich zu schubsen versucht, reagiere ich auf jeden neuen Schubser immer gereizter.
Was mich aber am meisten ärgert, ist, daß Nudging suggeriert, daß ich nicht fähig bin, meine Entscheidungen selbst zu treffen, sondern dafür der Fürsorge von Fachleuten bedarf, die es dabei für legitim halten, mich so lange auszutricksen, bis ich das tue, was sie für richtig halten. Das betrachte ich, um mit Karl Mays Indianerhäuptlingen zu sprechen, als eine Beleidigung, "die nur mit Blut abgewaschen werden kann". Ich betrachte es als Angriff auf meine Würde als Mensch und erwachsener Staatsbürger, mir die Rechte, Pflichten und Fähigkeiten implizit abzusprechen, die damit einhergehen, und das tut man, wenn man man mich mit sanfter Gewalt in eine bestimmte Richtung zu schieben versucht. Das gilt aber noch mehr, wenn es dabei nicht nur um meinen persönlichen Geschmack geht, sondern wenn ich das, wozu man mich so ausdauernd zu nudgen versucht, ausdrücklich für falsch und unter Umständen sogar gefährlich halte. In Ernährungsfragen ist genau das der Fall. Hätte ich vor drei Jahren einen Experten um Rat gebeten und seine Ratschläge befolgt, dann wäre ich heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine schwerkranke Frau ohne realistische Hoffnung auf Genesung.
Für mich gibt es deshalb nur einen einzigen vernünftigen Grund, bei Nudging-Aktivitäten nicht immer und in allen Fällen exakt das Gegenteil des Verlangten zu tun: weil ich mich damit ja genauso manipulieren lassen würde. Ich folge deshalb diesem spontanen Impuls, der in der Fachwelt als "Reaktanz" bezeichnet wird, nicht spontan, sondern mache manchmal trotz des Nudgings das, wozu man mich drängt. Aber ich werde dabei nicht weniger wütend als in den Fällen, in denen ich mich bewußt anders verhalte. Ich habe nämlich längst blaue Flecken an den Stellen, auf die das Nudging bei mir am häufigsten hinzielt, und manchmal möchte ich Leuten, die nach wie vor dafür Propaganda machen, solche Methoden noch viel öfter als bisher anzuwenden, am liebsten eine Tracht Prügel versetzen. Nicht, um sie zu bestrafen oder um sie als Blitzableiter für meine angestaute Wut zu nutzen, sondern hauptsächlich, um sie endlich davon abzuhalten, mich weiter mit ihren ständigen Mikroaggressionen zu terrorisieren.
Die Aggressionen, die alleine der Begriff "Nudging" mittlerweile bei mir auslöst, gar nicht anzufangen von tatsächlich beobachteter Nudging-Praxis in meinem Alltag, brachten mich auf einen weiteren Gedanken, denn wir haben ja in den letzten Jahren eine Art gesamtgesellschaftliches Aggressionsproblem entwickelt, das den Fachleuten Rätsel aufgibt: Was macht das eigentlich mit den Leuten, wenn sie ständig hin- und hergeschubst werden, häufig, ohne daß sie überhaupt merken, was gerade mit ihnen geschieht - wie das ja ausdrücklich beim Nudging Bestandteil des Konzepts ist? Ich behaupte, gerade diejenigen, die nicht merken, was mit ihnen geschieht, entwickeln dennoch das Gefühl, daß die Dinge dauernd auf merkwürdige Weise falsch und anders laufen, als sie das eigentlich wollen. Das alles geschieht unter Rahmenbedingungen, in denen jeder einzelne Bürger täglich in vielen kleinen Begebenheiten zu spüren bekommt, daß in einer Gesellschaft, die sich nach Marktwirtschaftslogik organisiert hat, so ziemlich alles wichtiger ist als seine Bedürfnisse.
Es wäre merkwürdig, wenn das nicht zu aufgestauten Aggressionen führen würde. Gegen wen oder was sie sich richten sollen, wissen die Leute allerdings nicht. Am Ende kommen sie an irgendeiner Stelle zum Ausbruch, die eigentlich gar nicht viel damit zu tun hatte. Es wird bestimmt noch ein Weilchen dauern, bis Ursachen und Wirkungen in solchen Fragen richtig durchschaut werden; hoffentlich geschieht das, bevor ein Bürgerkrieg ausbricht oder das zunehmend irrationale Verhalten der Wähler auf einen Charismatiker aus einem demokratiefeindlichen Lager trifft, der unser trotz allem immer noch in vielen Bereichen hervorragend funktionierendes System schnell mal plattmacht und durch irgendwas Gräßliches ersetzt.
Aber einstweilen ist da nicht auf Veränderungen zu hoffen, und schon gar nicht in einer Gesundheitspolitik, in der Ehrgeizlinge wie Jens Spahn und Wichtigtuer wie Karl Lauterbach das große Wort führen.
Es kommt mir ziemlich irrational vor, wenn dieselben Politiker, die auf Nudging-inspirierte Ideen wie die Widerspruchslösung bei Organspenden gekommen sind (die keine Mehrheit gefunden hat, aber wahrscheinlich in den nächsten Jahren so oft wieder zur Abstimmung gelangen wird, bis das gewünschte Ergebnis herauskommt), sich andererseits so gekränkt darüber zeigen, daß sich die Objekte ihrer paternalistischen Fürsorge von anderen, weniger erwünschten Instanzen, etwa rechtspopulistischen Parteien, genauso leicht manipulieren lassen wie von ihnen selbst. Mein Tip an die Politik: Wenn ihr manipulationsresistente Bürger haben wollt, dann hört vor allem erst einmal selbst damit auf damit, Manipulation, etwa in Form von Nudging, als Instrument zu ihrer Lenkung zu verwenden. Den Menschen seine jeweils eigenen Dummheiten machen zu lassen, soweit anderen kein unmittelbarer Schaden daraus entsteht, ist keineswegs verwerflicher, als ihn mit manipulativen Mitteln zu einem Verhalten zu drängeln, das ihm widerstrebt. Im Falle der Ernährung kommt hinzu, da sich schon seit Jahrzehnten immer eindeutiger als falsch herausgestellt hat, wohin die Leute genudgt werden sollen. Die empfohlenen Mittel zeigen einfach nicht die Wirkung, die sie der Theorie nach zeigen müßten. Mit dem Verstand ist es kaum zu erfassen, wieso die Ernährungs-Gebetmühlen sich trotzdem unbeirrt weiterdrehen. Währenddessen steigen die Ausgaben für Adipositas-Folgekrankheiten ins Unermeßliche, und den Opfern einer falschen Herangehensweise selbst die Schuld an ihren Krankheiten in die Schuhe zu schieben, macht die Sache für die Krankenkassen ja nicht billiger.
Ich gebe Frau Prof. Sibylle Adam gerne hiermit eine Nachhilfestunde in Adipositas-Prävention. Untaugliche von erfolgversprechenden Maßnahmen zu unterscheiden, ist nämlich in Wirklichkeit so einfach, daß man dazu keine Hochschulausbildung benötigt, sondern auch eine "Geringqualifizierte" wie ich sie präzise beschreiben kann:
Hausaufgabe:
Finden Sie mindestens zehn Personen, die nachweisen können, daß sie
a) mindestens zwanzig Kilo abgenommen haben und damit aus dem Übergewichts- in bzw. in unmittelbare Nähe des Normalgewichtsbereichs gelangt sind,
b) diese Abnahme über fünf Jahre hinweg vollständig oder fast vollständig (maximal 15 Prozent Wiederzunahme) sowie ohne größere Gewichtsschwankungen (maximal 15 Prozent vorübergehende Anstiege) gehalten haben.
Aus irgendwelchen Gründen wird zwar unheimlich viel über Ernährung, Gewicht und Folgeerkrankungen geschrieben, aber auf die eigentlich so nahe liegende Idee, das nachzumachen, was die wenigen Erfolgreichen getan haben, scheint bislang noch niemand gekommen zu sein. Das einzige Forschungsprojekt dazu, das ich kenne, mißachtet auf geradezu groteske Weise die in Fettdruck von mir hervorgehobenen Qualitätssicherungskriterien und die zugehörige zweistellige Zahl von daraus hervorgegangenen Studien ist deshalb nicht einmal das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind. So unglaublich das ist angesichts des medialen Daueralarms, aber niemand scheint sich wirklich dafür zu interessieren, wie Adipositas vermieden werden könnte.
Noch zähle ich mich nicht zu den Erfolgreichen nach den von mir gerade genannten Kriterien. Aber ich wünsche mir, daß bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich das ändert, die ermüdend langsame Kontinentaldrift der einschlägigen Institutionen gar nicht mehr von Belang ist, weil es sich unter den von Übergewicht Betroffenen auch ohne deren Zutun herumgesprochen hat, was beim Abnehmen wirklich funktioniert und aus welchem Grund es funktioniert. Nichts auf der Welt ist so schlecht, daß es nicht für irgendetwas gut sein könnte, das gilt auch für versagende Institutionen: Vielleicht lernen wir daraus, uns wieder ein bißchen mehr auf uns selbst zu verlassen und unsere Problem alleine zu lösen.
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