Sonntag, 15. September 2019

Eßstörungen. Nicht DER Grund für Adipositas, aber einer der möglichen Gründe.

Nach meinem Fastentag am Freitag erreichte ich gestern früh ein neues All-time-Low mit 101,4 Kilogramm. Heute hatte ich morgens 102,6 Kilogramm, und sollte ich am Dienstag mit einem Gewicht unter 105 Kilogramm in die neue Fastenwoche starten können, bin ich's zufrieden. Schneller gehen dürfte es natürlich immer, zumal, wenn die 99,9 schon so nahe liegt und man sie natürlich lieber heute als morgen erreichen wollen würde, aber im Moment muß ich mich damit zufriedengeben, daß ich die Gewichtsabnahme nach jedem Fastentag physisch wahrnehme, was aber auch motivierend genug ist.

Die entscheidenden Stadien des Fastentags, in denen mein innerer Banker anscheinend den Schlüssel zum Tresor herausholt, sich dort hineinschleicht und Nachschub an Barmitteln beschafft, scheinen über Nacht stattzufinden. Ich merke es morgens, daß meine Bewegungen ein bißchen anders sind als am Abend davor, daß der Bauch weniger geworden ist. Beim Kaffeetrinken schlage ich längst gewohnheitsmäßig die Beine übereinander - jahrelang ging das einfach nicht -, und auch da bemerke ich immer nach Fastentagen kleine neue Bewegungsspielräume.

Eigentlich merke ich es sogar immer schon dann, wenn ich nachts "für kleine Mädchen" muß, daß an den Bewegungen etwas ein bißchen anders ist. Nach Eßtagen passiert mir so etwas kaum noch. Früher war es normal, daß ich nachts mindestens ein oder zweimal raus mußte, aber je weniger Bauch vorhanden ist, desto geringer der mechanische Druck auf der Blase, der mich früher nachts aus dem Bett getrieben hat. Aber nach Fastentagen ist es weiterhin nahezu unvermeidlich, weil man beim Fasten auch Salz verliert, das wiederum Wasser gebunden hatte, also will das Wasser dann natürlich auch raus. Also muß ich in solchen Nächten nachts raus, und Granufink würde dagegen höchstwahrscheinlich nicht helfen.

Zum Glück verfüge ich von Haus aus über einen gesunden Schlaf, auch nach solchen Unterbrechungen schlafe ich meistens sofort wieder ein. Ich habe auch geschlafen wie ein Baby (allerdings viel lautstärker), als ich noch meine 147 Kilogramm hatte. Wenn ich doch einmal Schlaf versäume - so zum Beispiel in der ersten Nacht im Krankenhaus: ungewohnte Geräuschkulisse, Unterbrechungen durch die Nachtschwester, Bewegungsfreiheit eingeschränkt usw. -, verlangt die Natur in der Nacht darauf so gebieterisch ihr Recht, daß ich zu schnarchen beginne, kaum daß ich das Licht ausgemacht habe. Aber ich vermute, daß mein Schlaf jetzt mit sinkendem Gewicht erholsamer ist als in meinen "schwersten" Zeiten, denn ich hatte in den letzten ungefähr vier bis fünf Jahren doch ein bißchen mit Anfällen von Sekundenschlaf zu kämpfen, meistens, wenn ich längere Zeit am Rechner arbeiten mußte. Das kommt jetzt erfreulicherweise nur noch in Ausnahmefällen vor, und somit kann ich auf der Liste der Zipperlein, die vergleichsweise geringfügig waren, mit denen ich deshalb nie bei einem Arzt war und die sich nunmehr von alleine erledigt haben, ein weiteres ergänzen.

Ich weiß genau, was passiert wäre, wenn ich damit zu einem Arzt gegangen wäre: Er hätte eine Schlafapnoe diagnostiziert und mir eine Atemmaske verschrieben. Die Dinger sind seit ein paar Jahren in Mode. Ich kenne aber genügend Leute, die sich so schlecht an sie gewöhnen konnten, daß sie sie nach anfänglichen Versuchen (und nicht selten waren sie danach voller Begeisterung!) nicht mehr verwendet haben. Wahrscheinlich wäre mir das genauso gegangen. Dasselbe ist mir ja auch mit der Knirschschiene passiert, die ich mir vor zwei Jahrzehnten aufschwatzen ließ.

Als leidenschaftlicher Flohmarkt-Fan stolpere ich in letzter Zeit bei solchen Gelegenheiten dauernd über Bücher zum Abnehmen. Neulich war es der Joschka Fischer, gestern stieß ich auf ein Buch, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte, nämlich "Maßlos. 50 Kilo leichter und glücklicher" von Angelika Schaller, erschienen 2008. Ich bin erst zur Hälfte durch und weiß deshalb noch nicht, welche Methode die Autorin angewandt hat, aber sie hat ihre Gewichtsabnahme offenbar, anders als Joschka Fischer, seit damals gehalten - eine ausgesprochene Seltenheit. Was ich aber inzwischen erfahren habe, reicht, um mir darüber klarzuwerden, daß ihr Fall mit meinem nicht vergleichbar ist. Denn Angelika Schaller hatte eine ausgesprägte Eßstörung mit unkontrollierbaren Freßanfällen - "Der Wolf kommt", wie sie diese Attacken bezeichnet -, und so etwas hatte ich nie. Ich habe auch zwanzig Jahre lang nie einen Versuch gemacht, abzunehmen, während die Autorin mehr oder weniger alles, was für Geld zu haben war, durchprobiert und sich dabei in nur ca. 15 Jahren im Alter zwischen 25 und 40 von 75 auf knapp 130 Kilo hochgejojot hat. Ihr Durchbruch zur erfolgeichen und dauerhaften Abnahme kam erst, als sie eines Tages notfallmäßig ins Krankenhaus mußte, was ihr begreiflicherweise eine Heidenangst eingejagt hatte.

Als ich 40 war, wog ich schon über 100 Kilo, aber ich fühlte mich, anders als die ungefähr gleich große Autorin, die kein Geheimnis daraus macht, daß sie seelisch ziemlich stark angeknackst war, physisch und psychisch wohl. Mit 40 und jenem Gewicht habe ich auch meinen jetzigen Mann kennengelernt, während sie ständige Zwangsvorstellungen von ihrer eigenen Unattraktivität hatte und wahrscheinlich gerade deshalb frustrierter Single war. Mein Gewicht mit Nichtachtung zu strafen, hatte über zwanzig Jahre hinweg gerade mal ca. 1 Kilogramm Zunahme pro Jahr zur Folge ... das entspricht gerade mal zwanzig Kalorien am Tag nach herkömmlicher Berechnungsweise, die ich über den Bedarf zu mir genommen haben dürfte, falls die Kalorienlogik stimmen würde. Diese zwanzig Kalorien pro Tag sind einer der Gründe, warum ich an die Kalorienlogik nicht mehr glaube, denn wenn ich zwischen 2007 und 2017 zu viel gegessen haben soll, als ich eine ganze Latte von Lebensmitteln aus meinem Leben gestrichen hatte, dann habe ich das vorher natürlich in noch weit höherem Ausmaß. Trotzdem nahm ich zu jener Zeit viel langsamer zu als später.

Erst als ich mein Gewicht zu reduzieren versuchte, begann auch bei mir der sich ständig beschleunigende Jojo-Kreislauf.

Ich frage mich, ob es der Autorin bewußt ist, daß sie keineswegs generell durchschaut hat, wie es zu Übergewicht kommt, sondern nur den Teilbereich, in dem gestörtes Eßverhalten eine Rolle spielt. Der ist allerdings ziemlich groß einzuschätzen, denn so etwas züchtet unsere sogenannte Prävention ja regelrecht heran.

Ich erinnere mich noch, als mein Sohn in die zweite Klasse ging, da kam er einmal nach Hause und sagte: "Mama ich habe gerade noch Normalgewicht." Es klang wie: "Mama, ich habe gerade noch eine vier minus bekommen." Und es klang sehr bedrückt. Meinem Kind war vermittelt worden, daß mit ihm beinahe etwas nicht in Ordnung sei. Das machte ihm Sorgen. Ich nahm meinen Kleinen in den Arm und versicherte ihm, mit ihm sei alles in bester Ordnung. Und dann griff ich zum Telefon.

Eigentlich bin ich für die Lehrer meines Kindes fast immer ein unkomplizierter Fall gewesen, aber das war eine von drei Gelegenheiten während seiner Schulzeit, in der ich auf der Stelle einen Termin mit der Klassenlehrerin ausmachte, um sie zu fragen, ob es denn wirklich nottue, den Kindern schon mit sieben, acht Jahren ein negatives Körperbild zu vermitteln und damit den typischen Diätenkreislauf schon vor der Pubertät einsetzen zu lassen. Die Dame zeigte sich betroffen und ein wenig zerknirscht, aber da solche Dinge nun einmal im Lehrplan stehen, wird sie kaum davon abgelassen haben. Ich hatte auch nicht wirklich den Eindruck, daß sie verstanden hatte, was sie meiner Meinung nach falsch gemacht hatte.

Aber schon in meiner eigenen Pubertät haben zumindest Mädchen dauernd Diät gehalten, und ich bin da keine Ausnahme. Zur Ausnahme wurde ich, indem ich nach einigen durchaus erfolgreichen Diäten, aber mit unweigerlicher anschließender Wiederzunahme, die Konsequenzen daraus zu ziehen bereit war, also auf mein Gewicht einfach zu pfeifen. Ich sah einfach keinen Sinn darin, Diäten als eine Art sinnlose Bußübung zu absolvieren, wenn es keinen Weg gab, der an der Wiederzunahme vorbeiführte. Und unter dem Strich bin ich in jedem Fall besser damit gefahren als Frau Schaller, wenn man unseren 40-Jahre-Zwischenstand vergleicht. Vor allem war ich mit Sicherheit viel glücklicher.

In ihrer Beschreibung der Alltagsprobleme bei starkem Übergewicht erkenne ich dann aber vieles wieder, was mich später, als ich mal die 120-Kilo-Marke überschritten hatte, ebenfalls geplagt hat. Auch wenn vieles bei mir weit weniger extrem war als bei ihr, als ich dasselbe Gewicht hatte, das ihr Höchstgewicht war: So etwas macht dann wirklich keinen Spaß mehr. Deshalb wundert es mich, wie viel Wert Angelika Schaller darauf legt, immer wieder zu betonen, daß es keine Schande sei, sich dafür zu entscheiden, sein Übergewicht lieber zu behalten als abzunehmen. Ich glaube nicht, daß irgendwer ernsthaft Übergewicht behalten will, wenn es einmal solche Ausmaße angenommen hat, daß es einen im Alltag behindert. Wer sagt, er will nicht abnehmen, meint damit normalerweise, daß er nicht daran glaubt, es zu können. In der Regel stehen dahinter entsprechende Erfahrungen, und ich halte es für eine psychisch gesündere Reaktion als ständige neue Abnehmversuche, die immer wieder in Mißerfolgen enden.

Das Interessante ist, daß bei hohem Übergewicht (hier meine ich ein Übergewicht von mehr als 35 bis 40 Kilo) eine entsprechend starke Gewichtsabnahme vielen schon gelungen ist ... und typisch für solche Fälle ist auch, daß das dann meistens in verblüffend kurzer Zeit, in der Regel ca. ein Jahr, erfolgte. Solche Fälle werden gerne in den Medien als unglaubliche Leistung bejubelt. Wie es weitergeht, interessiert dann keinen mehr, daß der Erfolg von Dauer sein werde, wird immer automatisch vorausgesetzt.

Das Problem ist aber immer, die Abnahme dauerhaft zu halten. Siehe Joschka Fischer. Siehe Angela Merkel (zu ihr schreibe ich irgendwann mal einen eigenen Blogbeitrag). Siegmar Gabriel hat sich den Magen verkleinern lassen, um abzunehmen, und sogar er scheint wieder zugenommen zu haben, wenn auch nicht so viel, daß er bislang auch nur in die Nähe seines Vorher-Gewichts gekommen wäre. Das ist übrigens ziemlich typisch für Magenverkleinerungen, irgendwann werde ich mich mit den Studien über den Gewichtsverlauf nach Magenverkleinerungen auch einmal in einem Blogbeitrag befassen müssen.

Möglicherweise ist es in mancher Hinsicht sogar einfacher, eine Gewichtsabnahme dauerhaft zu halten, wenn man unter einer Eßstörung leidet, denn die lebenslängliche Dauerdisziplinierung, die die herkömmliche Vorgehensweise bedeutet, ist nichts, was sich ein psychisch gesunder Mensch antun würde, solange seine Situation nicht gerade lebensbedrohlich geworden ist. Eine Energiezufuhr, die im Bereich dessen liegt, was in den frühen Nachkriegsjahren den Leuten zugeteilt wurde (und damals durchaus als unzureichend erkannt wurde, nur gab es halt nicht mehr als diese Menge zu verteilen), kann eigentlich auch nicht so richtig gesund sein. Wenn der Körper den Grundumsatz herunterfährt, um mit den Kalorien auszukommen, die man ihm gibt, heißt das ja, daß er weniger wichtige Funktionen reduziert. Aber diese Funktionen haben physiologisch trotzdem einen Sinn, also kann ihr Fehlen wohl im Lauf der Zeit gesundheitliche Probleme hervorrufen.

Zum Glück nehme ich auch nach 2,5 Jahren immer noch weiter ab, ohne mich in dieser Weise kasteien zu müssen, auch wenn sich die Abnahme dieses Jahr doch verlangsamt hat. Wenn ich esse, dann esse ich ohne Wenn und Aber alles, was mir schmeckt. Und sollte es mir tatsächlich gelingen, auf dieselbe Weise, mit der ich nunmehr bei real (Vorher-Wert zu Beginn der Fastenwoche) ca. 43 Kilogramm minus angelangt bin, auch noch die restlichen ca. 30 Kilogramm bis zu meinem Zielgewicht abzunehmen, ist es mir nicht so wichtig, ob das noch weitere zwei oder drei oder vielleicht auch vier Jahre dauert.




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