Donnerstag, 23. Mai 2024

Die Anfeindbarkeit der Wissenschaftler

Mein Gewicht heute früh nach fünf aufeinanderfolgenden Eßtagen: 76,5 Kilogramm. Am Samstag wog ich nach einem plus drei Fastentagen in der Woche davor 73,4 Kilogramm, also habe ich netterweise auch wieder eine Zahl gesehen, die unter dem Zielgewicht liegt. Wieviel es wert ist, daß ich heute früh unerwartet weit unter dem Reißleinen-Gewicht von 78 Kilo lag, kann ich im Moment noch nicht einschätzen. Da ich aber am Montag das nächste dreitägige Fastenintervall haben werde, bin ich ganz guten Mutes, daß ich die 78 im Anschluß erst mal in respektvollem Abstand halten kann. Natürlich werde ich weiter beobachten, obwohl die blöde Zahl auf der Waage gerade nicht Priorität 1 hat. 

Mein Gewicht liegt jetzt übrigens 12 Kilo niedriger als das meines Bruders, den ich vor drei Jahren gewichtstechnisch noch "gejagt" habe, nicht nur, weil ich abgenommen habe, sondern weil er wieder zugenommen hat, wenn auch nicht allzu stark. Meine Schwester ist näher an mir dran, aber auch sie wiegt mittlerweile mehr als ich. Beiden habe ich über Pfingsten meine Theorie beschrieben, aber obwohl sie interessiert zuhörten, bin ich mittlerweile ziemlich sicher, daß sich das ein Fall von "In ein Ohr rein, zum anderen wieder raus" erweisen wird.

Das soll für heute genügen, weil ich, von unserem Hauskauf absorbiert, relativ wenig Zeit und zudem schon ein anderes Thema habe, zu dem ich etwas sagen will. Man sollte es nämlich echt nicht meinen, zu was für einem kafkaesken Hürdenlauf eine langjährige Hausbank einen Immobilienkauf auch dann macht, wenn man eigentlich mehr als genug Geld hat und es lediglich erst noch flüssig machen muß. Das kostet mich gerade derartig Nerven, daß ich in Erwägung ziehe, die Hausbank zu wechseln, wenn ich das alles überlebt habe und erst einmal sicher im eigenen Häuschen sitze.

***

Die Tagesschau berichtete nämlich auf ihrer Website, 45 Prozent der Wissenschaftler gäben an, schon Anfeindungen ausgesetzt gewesen zu sein, was bis hin zu Drohungen und körperlichen Angriffen gehen kann. Dabei sah ich folgende Grafik.

 

Irgendwie fühle ich mich jetzt von diesem Bericht mitgemeint. Zu einer Reihe von Wissenschaftlern habe ich mich ja schon - teils wiederholt -  kritisch geäußert, und je nach Tagesform und Grad des Ärgers war da mal mehr, mal weniger Polemik mit im Spiel. Die oberste Rubrik könnte man auch mir mindestens vorwerfen, möglicherweise - je nachdem, wie man so etwas definiert - auch die zweite und die dritte. 

Als Grundannahme setzt die Tageschau implizit voraus, daß das Anzweifeln der Kompetenz von Wissenschaftlern wie auch kritisches Hinterfragen ihrer publizierten Ergebnisse eine Art Majestätsbeleidigung sind, die - jedenfalls dann, wenn sie durch Nichtwissenschaftler erfolgt - generell zu unterbleiben hätte. Das ist in mehr als einer Hinsicht fragwürdig, nicht zuletzt auch deshalb, weil diejenigen, die als Laien Wissenschaftler kritisieren, dies ja häufig nicht aus dem hohlen Bauch heraus, sondern als von den aus deren Erkenntnissen sich ergebenden empfohlenen oder bereits umgesetzten Maßnahmen Betroffene tun. Von diesen Leuten wird offenbar erwartet, daß sie im Zweifelsfall lieber der Wissenschaft als den eigenen Augen trauen müsse, was ich für ein unbilliges Verlangen halte. In solchen Fällen ist die Rubrik 1 "Anzweifeln der Kompetenz" von Wissenschaftlern implizit aber immer mit im Spiel (sofern man nicht gleich ihre Integrität anzweifelt, was in manchen Fällen die einzige andere Möglichkeit wäre, die man annehmen könnte und dann aus Blick der Studie den dritten Tatbestand "Aktive persönliche Diskriminierung von Forschern" erfüllen würde) und liegt nahe genug, um sie auch explizit zu vermuten und dies laut auszusprechen.

Tatsächlich ist es aber außerdem auch noch so, daß sogar die Hardcore-Verschwörungstheoretiker, die für den Großteil der ganzen restlichen Palette an Anfeindungsarten verantwortlich sein dürften, die ich weder begehe noch billige, sich in der Regel ebenfalls auf Wissenschaftler berufen, die zu der betreffenden Frage zwar eine Minderheitenmeinung vertreten, aber dennoch häufig fachlich als ebenso qualifiziert wie die Mehrheit ihrer Zunft gelten können. Aber auch, wo sie anderen Fachgebieten angehören als dem, zu dem sie sich äußern, ist es ja auch Ausdruck einer Art von blindem Glauben an das, was ein Herr Professor Doktor einem so sagt, wie wir das ja offenbar machen sollen. Follow the Science und so. Daß man sich aber immer gerne den Herrn Professor Doktor heraussucht, dessen Meinung einem am meisten zusagt, wenn man mehrere zur Auswahl hat, ist ja nur menschlich. Einwände von Fachleuten im einschlägigen Gebiet würden nach der Denklogik dieser Umfrage ja eigentlich als zulässig gelten und nicht als Anfeindung. Daß dann aber Nichtwissenschaftler nicht ebenfalls auf sie verweisen dürfen sollen wie die Mehrheit, die sich an genehmere Wissenschaftler halten, ist unlogisch. Es ist ja außerdem nicht so, daß eine Mehrheit, egal wie breit, auch gleichzeitig die Richtigkeit der von ihr vertretenen Auffassung garantiert. Sie kann lediglich lauter brüllen.

Straftaten, Drohungen oder Hate Speech verharmlosen will ich natürlich ganz und gar nicht. Aber mir wird trotzdem auch zu wenig danach gefragt, welche Anteile an der immer gereizteren gesellschaftlichen Grundstimmung denn die Wissenschaft selbst hat. Egal, welche anderen Faktoren es sonst noch gibt, die da mit einwirken, es stört mich, daß immer so getan wird, als gäbe es da nichts zu ändern. Das sehe ich anders. Es gibt sie wirklich, die Ungereimtheiten in Studien, die den Autoren kaum entgangen sein können, die irreführenden Abstracts, über die dann groß in den Medien berichtet wird, und das Totschweigen unliebsamer Fakten, die in den Studien enthalten waren und man nicht an die große Glocke hängen wollte. All das untergräbt die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft. Wie soll man diese Ursachen für bröckelndes Vertrauen in Wissenschaftler aber beseitigen, wenn man immer nur so tut, als existierten sie nicht? Beseitigen sollte man sie aber unbedingt, unabhängig davon, wie man den anderen einweirkenden Faktoren außerdem auch noch zu Leibe rückt. Und zwar nicht nur als vertrauensbildende Maßnahme, sondern um mit wissenschaftlichen Ergebnissen mehr anfangen zu können.

Was normale Radiohörer sich unter den Anfeindungen aus der Studie vorstellen, das habe ich Pfingsten erfahren, als wir zufällig auf das Thema zu sprechen kamen. Die glauben, es ginge dabei durchweg um Dinge wie Beleidigungen, Drohungen und Gewalttaten. Daß das auch Teile legitimer Kritik mitbetrifft, kann sich keiner vorstellen. Ich frage mich, ob dem ein ungewollter Kommunikationsfehler zugrunde lag oder genau dieser Effekt auch erreicht werden sollte. Und als nächstes frage ich mich, ob ich alleine mit dieser Frage in der internen Strichliste, mit der Anfeindungen gezählt werden, noch ein weiteres Mal vorkommen würde ...

Was mich betrifft, möchte ich festhalten, daß ich nicht damit aufhören werde, Wissenschaftler in der in diesem Blog nachlesbaren Weise "anzufeinden" - da die offenbar darauf bestehen, daß das, was ich mache, Anfeindungen sind -, wenn sie nicht damit aufhören, mir das Leben ohne einleuchtenden Grund sauer machen zu wollen oder es sogar durch nutzlose oder schädliche Ratschläge zu gefährden. Mir ist mein Leben im Zweifelsfall mehr wert als die Unangefeindetheit der Wissenschaftler, auch wenn ich schon verstehen kann, daß es ihnen viel lieber wäre, nicht angefeindet zu werden.

Die Autoren der Studie, über deren Ergebnis hier berichtet wurde, kamen zu dem Schluß, die Absicht der Täter sei es, bestimmte Forscherinnen und Forscher mundtot zu machen und unliebsame Erkenntnisse zu negieren. Das mag so stimmen oder nicht, es hat jedenfalls damit zu tun, daß diese Erkenntnisse -zu Recht oder zu Unrecht - für falsch gehalten werden, und genau dasselbe passiert auch innerhalb des Wissenschaftsapparats selbst auch mit Erkenntnissen, die dort unliebsam sind. Man denke nur daran, daß die keineswegs verschwörungstheoretischen Erkenntnisse von Professor Seyfried immer noch von den Teilen der Wissenschaft, die die Sache etwas angehen würde, weitgehend ignoriert werden - ob die daraus abgeleiteten Behandlungen sinnvoll eingesetzt werden können oder nicht, darüber könnte man ja diskutieren, wenn es nur endlich auch einmal diskutiert würde, anstatt es eisern zu beschweigen. Von dem besonders merkwürdigen Gebaren der Frau Professorin Hübner will ich an dieser Stelle nicht noch einmal anfangen. 

Liebsam oder unliebsam, ich bin jedenfalls nicht bereit, auch ehrlich für richtig gehaltene Erkenntnisse der Wissenschaft unter Denkmalschutz zu stellen, wenn sie sich in der persönlichen Anwendung bei mir selbst nun einmal als eindeutig falsch erwiesen haben - wie etwa das Kaloriendogma - oder es gute Gründe für die Annahme gibt, daß sie sich bei sorgfältiger und ergebnisoffener Prüfung durch Fachleute als falsch erweisen würden - wie etwa die Gentheorie bei der Entstehung von Krebs. In beiden Fällen halte ich es sogar für skandalös, die liebgewonnene gewohnte Theorie auch um den Preis der Gesundheit und schlimmstenfalls des Lebens von betroffenen Patienten auf Biegen und Brechen aufrechterhalten zu wollen. Als persönlich Betroffene habe ich meines Erachtens ein Recht darauf, zu verlangen, daß abweichende Meinungen in der Wissenschaft, die sich mit meiner persönlicher Erfahrung besser als die aktuell maßgebliche Lehrmeinung in Deckung bringen lassen, sorgfältig geprüft werden, bevor man sie verwirft - und letzteres natürlich nur dann, wenn man sie tatsächlich widerlegen kann. Seyfried wurde bislang von niemandem widerlegt, er wird lediglich ignoriert, obwohl er alle Einwände gegen Otto Warburg mit sehr plausibel wirkenden Argumenten widerlegt hat. Wo bleiben also nun die Einwände gegen ihn? Warum rennen die Warburg-Widerleger pausenlos nur gegen die Ursprungsannahmen Warburgs an, als ob es nicht längst eine inhaltlich ergänzte und auf dieser Grundlage verbesserte Version gäbe, die sie  widerlegen müßten?

Apropos Gentheorie und Krebs. Vor wenigen Wochen stieß ich auf ein Buch zum Thema Krebs, das mir bis dahin noch kein Begriff gewesen war, vor elf Jahren geschrieben von einem Tübinger Radioonkologen namens Martin Bleif, dessen Frau wenige Jahre zuvor an triple-negativem Brustkrebs verstorben war. Sie war erst Mitte dreißig und bekam ihre Diagnose, kurz nachdem das Paar ein Kind bekommen hatte. Zwei Jahre später starb sie, nachdem die Therapie nicht hatte verhindern können, daß die Krankheit metastasierte. Mich interessierte dieses Buch - neben der Tatsache, daß es in einem seriösen Verlag erschienen ist - vor allem deshalb, weil Bleif mit einer Kombination aus langjähriger beruflicher Praxis sowie persönlicher Betroffenheit innerhalb der Familie Fachwissen wie auch persönliches Interesse an bestmöglicher Therapie miteinander verbindet. Wer könnte mehr Interesse daran haben, Krebs bestmöglich zu durchschauen, und hätte bessere Chancen, dies wirklich zu tun?

Gemessen an meinen Erwartungen erwies sich das Buch als eine kleine Enttäuschung. Im Großen und Ganzen ist es ein Buch "Krebs für Anfänger", durchaus gut zu lesen und sehr detailreich, was die Fragen "Was ist Krebs?", "Wie wird man behandelt und warum so und nicht anders?", "Habe ich etwas falsch gemacht und deshalb Krebs bekommen?" und all das, was jemanden interessiert, der sich nach einer Krebsdiagnose bei sich selbst oder einem nahen Angehörigen informieren möchte. Aber irgendwie blieb alles, was dazu kam, mir doch viel zu vage. Ich hätte mehr aus einer Schilderung lernen können, wie genau der Autor und seine Frau nach deren Krebsdiagnose vorgegangen sind, aber dazu kamen nur verstreute Schnipsel. Das war auch Absicht, denn ein "solches" Krebsbuch, das von persönlicher Betroffenheit dominiert wird, wollte der Autor laut Vorwort ja gar nicht schreiben. Freilich hätte er genau dazu eine Perspektive beisteuern können, die in der Kombination mit Fachwissen in den typischen Büchern zu Krebs nicht vorkommt, also ist das ein bißchen schade.

Die Patientenperspektive wird folgerichtigerweise eher en passant und in einer Art abgehandelt, die mich ein wenig an diese Broschüren erinnerte, die ich vor meiner Chemotherapie in die Hand gedrückt bekommen hatte, die mit den traurig lächelnden, blaß geschminkten jungen Frauen mit den krebstypischen Kopfbedeckungen. Aus dieser Perspektive fehlte außerdem das für Patienten Wesentliche nach einer Krebsdiagnose, nämlich die Frage, WIE man es überhaupt anstellen soll, obwohl man sich gerade in eine ausgesprochene Fließbandbehandlung gibt, nicht stärker als nötig zum passiven Objekt dieser Behandlung zu werden, zu der einen, wenn man erst einmal auf dem Fließband sitzt, ja alles und jeder drängt, weil diese Behandlungen nun einmal in einer bestimmten Weise getaktet werden, die sich nicht an den Bedürfnissen des Patienten, sondern an denen des Apparats orientieren. Weder der anfängliche Schockzustand noch die physischen Handicaps, die man während der Behandlung entwickelt, sind ja sonderlich zuträglich dafür, nebenbei auch noch ständig Widerstand gegen wohlmeinende Helfer zu leisten, von denen man in einer umfassenden Weise abhängig ist und die noch dazu zu Recht auf ihr überlegenes Fachwissen pochen können. Ich finde diese ständigen Ermutigungen, sich gefälligst als mündiger Patient zu betätigen, wie sie auch bei Bleif vorkommen, ziemlich unrealistisch. Nicht einmal ich habe mehr gekämpft als unbedingt nötig, obwohl ich physisch so wenig beeinträchtigt war, daß ich sicherlich mehr Kraftressourcen hatte als viele andere Krebspatienten. Aber in vielen Detailfragen bleibt einem doch kaum etwas anderes übrig, als der Kompetenz des Behandlers zu vertrauen, dem man sich anvertraut hat. Ohne einen Anfangsverdacht, daß an einer Sache etwas nicht stimmt, hätte ich doch überhaupt keine Grundlage gehabt, etwas anderes als sie zu verlangen.

Dazu kommt noch, daß Bleifs Erkenntnisse über die Perspektive der "anderen Seite", also der Patienten, sich meinem Eindruck nach nur auf seine Frau beschränkte. Die Beispielfälle von anderen Krebspatienten waren überwiegend aus der Arztperspektive, nicht von ihren Mitpatientinnen. Andernfalls wäre ihm wohl aufgefallen, daß sie beide im Vergleich zu anderen Krebspatienten durch ihren Medizinerstatus vergleichsweise privilegiert waren und viel mehr Chancen hatten, mit den behandelnden Ärzten auf Augenhöhe zu kommunizieren. Das hilft einem Durchschnittspatienten aber wenig, der mit viel ungünstigeren Voraussetzungen vor seinen Onkologen treten muß und im Grunde wenig anderes tun kann, als dem zu folgen, was der ihm sagt. Und das, obwohl meinem Eindruck nach wie bei den Philosophen gilt: "Drei Onkologen - vier Meinungen", also im Detail durchaus eine Wahl möglich wäre und vermutlich fast immer eine Entscheidung nötig macht, welchem der Experten man folgen möchte, wenn man eine Zweitmeinung einholt. Diese Zweitmeinung einholen, wird man in den Broschüren wie auch bei Bleif ermutigt. Aber warum eigentlich? Wenn ich als Patient ohne eigenes Fachwissen die Wahl zwischen den Therapievorschlägen von zwei gleich qualifizierten Fachleuten  treffen soll, nach welchen Kriterien soll ich diese Entscheidung denn treffen? Im Grunde kann man sich da doch gleich auf eine einzige Meinung beschränken, denn das Risiko, ins Klo zu greifen, wird durch die Zweitmeinung sicherlich nicht niedriger. Eine Zweitmeinung würde ich erst dann einholen, wenn sich zeigt, daß die Behandlung nicht so wirkt, wie es in Aussicht gestellt wurde, es sei denn, ich habe bei meinem ersten Arzt ein ungutes Gefühl. Falls es von Anfang an so ist, läge es freilich näher, lieber gleich einen anderen Arzt zu suchen, also wäre die Zweimeinung eher eine vernünftige Option, falls man erst nach Beginn der Behandlung anfängt, an seinem Arzt zu zweifeln.

Der Teil im Buch, in dem es um das Leben mit Krebs geht - als Patient, aber auch als dessen Angehöriger und in gewisser Weise sogar schon als Mensch, der möglicherweise einmal Krebs bekommen könnte -, hätte von mir aus ebenfalls mehr Raum in dem Buch einnehmen dürfen. Mit der eigenen Sterblichkeit sich selbst und anderen gegenüber umzugehen, sei es als abstraktes Potential, sei es als konkret im Raum stehende mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit, ist nicht nur in Zusammenhang mit Krebs ein Bereich, über den viel zu wenig nachgedacht wird. Tatsächlich müßte man damit meiner Meinung nach bereits bei der Prävention beginnen, denn die hat die Kehrseite, daß sie häufig in eine Art magische Handlung mit moralischer Unterfütterung umgedeutet wird. Bleif erwähnt solche Mißdeutungen manchmal am Rande, aber ich hatte nicht das Gefühl, daß er sich ernsthaft damit auseinandergesetzt hat. Etwa, wenn er erwähnt, daß Krebspatienten glauben, die "Krebsvorsorge", die ja in Wirklichkeit gar keine ist, sondern eine Krebsfrüherkennung, könne Krebs verhindern und gerade deshalb besonders geschockt von ihrer Krebsdiagnose sind. Das liegt nicht nur an diesen Patienten, es liegt auch an der Art, wie Werbung für die Teilnahme an Früherkennungsmaßnahmen gemacht wird, das zielt ja fast immer auf die Abwägung zwischen "Früherkennung oder früher Tod" ab und fördert damit solche Irrtümer, da ja jede Krebserkrankung, auch eine im Frühstadium, fast von jedem mit "früher Tod" assoziiert wird. 

Bleif erörtert zwar brav in aller Ausführlichkeit das Für und Wider verschiedener Krebsfrüherkennungsmaßnahmen, läßt einen dann am Ende aber mit der Anforderung alleine, selbst abzuwägen, ob man das nun machen oder nicht machen möchte. Er unterschlägt außerdem, daß eine Entscheidung gegen die Früherkennung, falls man dann wirklich Krebs bekommt, natürlich dazu führt, daß eine Menge der Medizinmänner und -frauen den tiefempfundenen Drang haben werden, einem aufs Butterbrot zu schmieren, daß man dies durch den Verzicht auf Vorsorge selbst ausgelöst habe, womit prompt dem Patienten die Schuld an seinem Krebs in die Schuhe geschoben wird. Ich stehe immer noch hinter meiner Entscheidung, auf das Brustkrebs-Screening zu verzichten, aber wie viele nichtscreenende Krebspatienten fassen ihre Krankheit eigentlich als Strafe für ihre Verweigerung auf - zumal einem das, und zwar geschah das auch bei mir mehrmals, daunter in einem Fall SEHR unsubtil, ja auch genauso vermittelt wird? Auch das muß man sich fragen, ob man so etwas im Ernstfall aushalten würde.

Natürlich kann der Autor dieses Dilemma nicht auflösen, aber ich gestehe, ich finde seine Herangehensweise ein wenig wohlfeil. Diese Art von Bewußtseinsbildung einseitig nur auf der Seite des Patienten reicht meiner Meinung nach nicht, wenn das Bewußtsein seitens der Ärzteschaft nicht dazu passend ist, daß einer sich aus freien Stücken für die ihrer Meinung nach falsche Herangehensweise an die Krebs-"Vorsorge" entscheiden kann, ohne deshalb etwas falsch gemacht zu haben, falls er dennoch irgendwann Krebs bekommt. Mindestens hätte ich an dieser Stelle eine Vorwarnung über diesen Aspekt der Sache erwartet.

Den größten Teil des Buches nimmt die Geschichte der Krebstherapien ein und das überraschte mich, da Sidhartha Mukherjees Bestseller "Der König aller Krankheiten" bereits vorher erschienen war und diese Geschichte ebenfalls in größter Ausführlichkeit erzählt. Wieso war es dann dem Autor so wichtig, gerade diesen Teil noch einmal in epischer Breite auszuführen? Oder hatte er, als das Konzept erarbeitet wurde, einfach noch nicht von dem "Konkurrenten" gewußt und keinen Bock gehabt, es nach der Arbeit, die er bereits hineingesteckt hatte, noch einmal umzuwerfen? Im Vergleich zum "König aller Krankheiten" fand ich zwar durchaus auch das eine oder andere Detail, das ich aus jenem Buch nicht in Erinnerung habe. Der Autor schrieb sein Buch ja auch unter dem Eindruck, den es auf ihn gemacht hatte, plötzlich auf der anderen Seite, der des Patienten, dessen Perspektive zu erfahren, während er zuvor nur die professionelle Perspektive hatte, und vielleicht ist es ja auch so, daß er in seiner damaligen Lektüre Mukherjees das eine oder andere vermißt, das er mit seinem Buch ergänzen wollte. Aber gerade auf diese Details hätte ich eigentlich als Leser, der Mukherjee auch schon gelesen hat, doch noch eher verzichten können. Wenn ich oder eine mir nahestehende Person gerade am Eingang der Onkologen-Mühle stehe, durch die ich gedreht werden soll, ist es doch schließlich nicht mein allerbrennendstes Interesse, zu erfahren, wie man im Laufe der letzten ca. hundert Jahren Krebs zu behandeln versucht hat und was dabei alles an Neuentwicklungen herausgekommen ist.

Daß das Buch auf Basis meines Wissensstands sowie der Tatsache, daß seit seinem Erscheinen mehr als zehn Jahre ins Land gegangen sind, mir wenig Neues bot, daran ist der Autor kaum schuld. Ebenso ist es keine große Überraschung, daß der Autor von Krebs als Erkrankung des Stoffwechsels damals noch nichts gehört oder wenn doch, es nicht ernst genommen hat. Trotzdem enttäuschte es mich ein wenig, daß nicht der Hauch eines Zweifels an der Grundannahme hinter heutigen Krebsbehandlungen erkennbar war. Es würde mich dennoch interessieren, ob dem Autor diese Zweifel vielleicht ja doch noch inzwischen gekommen sind. Würde er die Mitochondrien-Theorie für wahr halten, hätte er freilich das Problem, daß er dann seinen Beruf als Radioonkologe gleich komplett in Frage stellen müßte. Daß er über diesen Schatten zu springen gewillt wäre, erscheint mir außer im absolut nicht wünschenswerten Fall einer erneuten akuten persönlichen Betroffenheit und einer dadurch veränderten Priorisierung der Dinge eher unwahrscheinlich.

Am Ende meiner Lektüre war ich also weder viel schlauer noch vorher, noch hatte ich das Gefühl, eine verwandte Seele gefunden zu haben, jemand, der weiß, wie es mir als Krebspatientin ging, und der mir etwas zu sagen hatte, das mir geholfen hätte, wenn ich es nur schon direkt nach der Diagnose gewußt hätte. Reine Zeitverschwendung war das Buch für mich vor allem deshalb nicht, weil es sich wirklich gut lesen ließ, aber nicht wegen der enthaltenen Informationen. Für jemanden, der den Mukherjee nicht gelesen hat und sich darüber informieren will, wie sich die Krebsbehandlung im Laufe vor allem der letzten hundert, hunderfünfzig Jahre entwickelt hat, sieht das vielleicht aber anders aus. Schlechter ist Bleifs Darstellung nämlich bestimmt nicht. Wer das richtige Buch sucht, um nach einer Krebsdiagnose besser zu wissen, wie er sich nun am besten verhalten sollte, für den paßt es aber meiner Meinung nach nicht. Leider fällt mir spontan auch kein anderes Buch ein, das ich dafür besonders tauglich fände, und ich fürchte, ausgerechnet dieses so wichtige Buch ist einfach noch nicht geschrieben. Sollte ich irgendwann doch noch auf ein solches Buch stoßen, lasse ich es natürlich wissen. :-)



2 Kommentare:

  1. Huch, wo ist denn dein Kommentar hinverschwunden, Sandra?

    Mir ist erst verspätet aufgegangen, daß dein Hinweis mit dem Buch von Nasha Winters sich auf eine völlig andere Stelle im Blogartikel bezieht, als ich gedacht hatte, nämlich auf den Schlußabsatz. Falls meine Antwort dir also verwirrend vorkam, ist das der Grund. Ich hatte ja weiter oben im Artikel speziell mein Bedauern darüber beschrieben, daß Martin Bleifs besondere Perspektive in seinem Buch kaum zur Geltung kam. Mit diesem Fehlen hadere ich immer noch, und so dachte ich natürlich sofort an diesen Punkt.

    Was ich jetzt aber nicht weiß: Umfaßt Nasha Winters Buch denn auch Strategien, wie man mit Experten umgeht, die von einem verlangen, das Gegenteil dessen zu tun, was sie empfiehlt? Das scheint mir nämlich das allergrößte Problem zu sein, mit dem bei einer Mehrheit derjenigen, die sie anwenden wollen, das dann doch wieder ausgehebelt wird. Wenn alle um einen herum davor im Chor und teils mit dramatischen Worten warnen, ist es nun einmal unheimlich schwer, bei so einem Vorhaben zu bleiben. Und zeigt man dann ein Buch aus dem Riva-Verlag vor, kontert der Doc vermutlich mit einem von Thieme, das entsetzlich wissenschaftlich aussieht und aus einem Regal mit lauter Büchern in diesen charakteristischen Einbänden stammt.

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  2. Hallo liebe Perditax… ich lese grade auch nur einen Kommentar von dir der sich auf einen vorher (?) bereits geschrieben. Von dir? bezieht?
    Seltsam… meiner ist komplett weg…
    Also Nasha Winters schreibt zu den Ärzten maximal: „Such dir nen anderen“
    Alle Aussagen im Buch sind hinten dann mit Quellen , Kapitel für Kapitel , untermauert. Ich habe nicht alle nachvollzogen und binnen einigen Punkten auch ein wenig… sagen wir mal … ich finde sie esoterisch.
    Aber: ich selber denke auch, dass Stress ein Teil des Problems ist.
    Liebe Grüße, ich muss mal Garde dringend meinem Mann Helfen. Der ruft grade nach mir

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