Mein Gewicht heute früh nach dem letzten von vier aufeinanderfolgenden Fastentagen im letzten langen Fastenintervall vor dem Urlaub: 76,9 Kilogramm. Das hat meine Erwartungen übertroffen und ich bin natürlich begeistert - nicht zuletzt, weil ich damit auch eine der symbolträchtigen Zahlen geschnappt habe: Meine Abnahme seit dem 21.3.2017 beträgt nun sage und schreibe 70,1 Kilogramm. Auch wenn mein Gewicht natürlich im Lauf der nächsten vier Tage wieder auf über 80 Kilo hochgehen wird, sobald sich mein Wasserhaushalt regeniert hat, das ist schon ein Meilenstein. Da es von ihm aus nur noch 3,4 Kilogramm bis zu meinem Zielgewicht sind, nehme ich an, daß dieses Zielgewicht als Nach-Fasten-Gewicht noch dieses Jahr das erste Mal erreichen werde. (Als Vorher-Gewicht und damit der Startpunkt für den Übergang in die Haltephase dürfte der Mai 2024 plusminus ein Monat realistisch sein.)
Daß ich die 70 möglicherweise knacken würde, habe ich schon am Dienstag gesehen, denn ich hatte da nach meinem montäglichen Startgewicht von 82,7 Kilogramm sage und schreibe 2,6 Kilogramm minus in einem Tag verzeichnet. So viel auf einmal habe ich schon lange nicht mehr an einem einzigen Fastentag Gewicht verloren - aber das zeigt mal wieder, welche Einflüsse der Wasserhaushalt auf die Bewegungen auf der Waage hat. Denn natürlich habe ich dabei vor allem Wasser abgelassen. Als ich auch am nächsten Tag unerwartet viel Gewicht verloren habe und schon nach zwei Tagen ein neues Tiefstgewicht von 78,4 Kilogramm auf der Waage ablesen konnte, lag das vermutlich auch daran, daß ich mehr Wasser als sonst verloren habe - immerhin hatte ich am Dienstag das erste Mal seit fünfeinhalb Wochen keine Bestrahlung mehr. Bauarbeiten im Körper bedeuten ja immer einen höheren Wasserbedarf, und die haben jetzt aufgehört. Zum Ausgleich war das Minus an den beiden folgenden Tagen dann aber geringer. Trotzdem: Meine Abnahme in vier Fastentagen umfaßte 5,8 Kilogramm, das lag auch insgesamt über Durchschnitt.
Das bestätigt mir jetzt auch, daß mein Gewicht in den letzten Wochen während der Bestrahlung plus Hochsommerhitze wasserbedingt nach oben verzerrt war. Ich vermute, daß ich nach dem Urlaub mit um die 81 Kilogramm wieder starten werde. Normalerweise hätte ich in der Woche nach dem Urlaub ja gleich wieder ein langes Fastenintervall gehabt, aber das muß ich am Dienstag dummerweise wegen einer kompliziert zu terminierenden Verabredung mit Freundinnen unterbrechen, also habe ich nur drei Fastentage, Montag, Mittwoch und Donnerstag - oder vielleicht verschiebe ich den dritten Fastentag auch einfach auf den Freitag, das entscheide ich dann spontan. Im August habe ich also überhaupt kein langes Fastenintervall, erst Anfang September geht es damit wieder los.
Wer weiß, wofür solche Verzögerungen gut sind. Wenn ich das Fasten gar zu lange zu regelmäßig mache, gewöhnt sich mein Stoffwechsel ja an diesen Rhythmus und nimmt Anpassungen vor, um möglichst wenig Reserven verbrauchen zu müssen. Deswegen war es vermutlich auch gar nicht so übel, daß ich im Mai wegen der vielen Feiertag alle langen Fastenintervalle auf drei Tage verkürzen mußte und damit natürlich eine Abnahme von null hatte. Dafür sind es jetzt im Juni und Juli aber 3,5 Kilogramm gewesen.
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Ich habe vorgestern ein Buch wiedergelesen, das ich kurz vor der Jahrtausendwende schon einmal gelesen hatte: Ruth Picardie: "Es wird mir fehlen, das Leben". Es enthielt für mich ein paar Überraschungen, unter anderem die, daß ich noch nie so deutlich gesehen habe, wie sehr sich die Mentalität seit den neunziger Jahren verändert hat. Beim ersten Lesen enthielt das Buch den Puls auch meiner damaligen Zeit und nichts daran erschien mir sonderbar. Jetzt merke ich, wie weit weg diese Zeit nun auch schon wieder ist.
Ruth Picardie war eine britische Journalistin, ungefähr in meinem Alter, die 1996, erst 32 Jahre alt und Mutter von zwei kleinen Kindern, eine Brustkrebsdiagnose bekam und 1997 an ihrer Krankheit starb. Damals war das Buch ein Bestseller, es traf irgendwie den Ton dieser Zeit, die - und das ist mir erst beim Wiederlesen dieses Buches so richtig klar geworden ist - ganz anders war als die heutige. Damit meine ich nicht irgendwelche technischen Errungenschaften - immerhin, das WWW und Handys zogen da gerade in den Alltag der Menschen ein; ich selbst hatte ab 1998 meinen ersten Internetanschluß -, sondern was die Mentalität und den Zeitgeist betrifft.
Kurz noch zu Picardies Erkrankung: Brustkrebs war damals natürlich noch ungleich schlechter behandelbar, was auch daran lag, daß die Behandlung viel undifferenzierter war. Warum manche Patientinnen auf den damaligen Behandlungsstandard besser und andere schlechter ansprachen, wußten jedenfalls ihre Ärzte nicht. Man probierte es einfach und hoffte das Beste, und bei einem Teil der Patientinnen war man damit ja auch erfolgreich. In Picardies Fall gab es aber kein Happy End, was mehrere Gründe haben kann: Erstens war der Knoten in ihrer Brust schon zwei Jahre vor der Diagnose entdeckt, aber irrtümlich zunächst für harmlos erklärt worden. Erst als er sich vergrößerte, wurde er als Krebs erkannt. Zweitens vertrug Picardie die Chemotherapie so schlecht, daß sie nach vier Chemo-Sitzungen abbrechen mußte. Drittens begann der Krebs spätestens dann bereits zu streuen, was viertens auch erst mit eigentlich unnötiger Zeitverzögerung erkannt wurde, weil die Ärzte die Symptome erst nicht ernst nahmen.
Das Buch ist eine Sammlung einiger Kolumnen, die die Journalistin Picardie in den Wochen vor ihrem Tod für den "Observer" geschrieben hatte, kombiniert mit einigen Leserbriefen als Reaktion, aber vor allem privaten E-Mails, die zwischen Picardie und einigen ihrer Freundinnen (und einem HIV-positiven Freund) ausgetauscht wurden. Ein wenig irritierend fand ich, daß diese chronologisch sortierten Dokumente erst mehrere Monate nach der Krebsdiagnose einsetzen, denn natürlich hätte mich gerade die weggelassene erste Phase mehr als alles andere interessiert. Aber dieses Buch entstand zum einen wegen des gewaltigen Echos auf ihrer Kolumnen, und zum zweiten war es für ihren Witwer, ebenfalls ein Journalist, sicherlich auch eine Form der Trauerbewältigung, dieses Buch zusammenzustellen; von ihm stammt die Einleitung und ein Text über die letzte Krankheitsphase am Ende. Aus irgendwelchen Gründen scheint diese frühe Phase ihm dafür nicht geeignet erschienen zu sein, und das muß man als Leser natürlich respektieren. Obwohl ich schon neugierig wenigstens auf die Gründe dafür wäre.
Alleine schon, daß es den Geist der Neunziger, gesehen aus der Perspektive einer jungen Frau meiner Generation, so gut einfängt, macht das Buch lesenswert. Das Besondere daran ist, daß sie mit ihrer Krebserkrankung unsanft aus den Lebenslügen der "postfeministischen" (Picardies eigene Worte) Ära gerissen wird - so, wie das allen ging, die damals einsehen mußten, daß die Sorgen des weiblichen Alltags, wie man sie in der Cosmopolitan nachlesen konnte, Pipifax für Mädels ohne wirkliche Sorgen waren.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich Mitte der Achtziger mal einen
dieser albernen Psychotests in der "Cosmo" gemacht habe, keine Ahnung
mehr, was da gefragt wurde. Hängen geblieben ist der erste Satz meines
Auswertungsergebnisses: "Sie böses, böses Mädchen Sie ..." Es war als
Kompliment gemeint. Wir wollten, glaube ich, fast alle schon böse
Mädchen sein, Jahre bevor das Buch "Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überallhin" die Sache in Buchdeckel brachte. Das war Bestandteil des Zeitgeists, aber man benötigte ein paar Grundvoraussetzungen, damit diese Sache funktionierte, und dazu gehört eine gewisse Sicherheit als Fundament, sowohl in rechtlicher Hinsicht als auch in praktischer, die ziemlich schnell brüchig werden kann. In Stephen Kings Buch "Es" gibt es eine Szene, die das sehr eindrucksvoll wiedergibt: Eine Feministin steht zum anscheinend ersten Mal
einem Gewalttäter gegenüber, der bereit ist, sie zu verstümmeln oder zu töten, wenn er von ihr nicht bekommt, was er will (eine Auskunft, wo seine Frau sich aufhält), und als ihr das klar wird, ist von der kämpferischen
Fassade schnell nicht mehr viel übrig. Das steht für mich beispielhaft für das Phänomen, daß wir damals alle eine Variante des von mir so viel kritisierten "So tun, als ob" praktiziert haben. Wir taten so, als wären wir stark, und glaubten wohl auch selbst daran. So lange, wie wir uns innerhalb des Rahmens bewegen konnten, in dem dies geglaubt und unterstützt wurde.
Daß ich es schneller als andere wieder verlernt habe, ist nicht mein Verdienst - die Umstände zwangen mich dazu, denn mein Fundament bröckelte mehrmals an kritischen Stellen und ich stellte fest, daß die vermeintliche Sicherheit in einem Rechtsstaat lieber nicht gar zu gründlich darauf getestet werden sollte, ob sie im Bedarfsfall wirklich vorhanden ist und wenn ja, ob sie wirklich geeignet ist, mich zu schützen.
Also lernte ich, mir selbst zu helfen, auch dann, wenn alles um mich herum die erstaunlichsten Anstrengungen unternahm, mich dabei zu sabotieren (was irritierend häufig vorkam). Nebenbei lernte ich aber auch, meine Kräfte rationell einzuteilen und meine Zeit, Kraft und Nerven möglichst wenig auf Fragen zu verschwenden, die nachrangig waren. Denn als alleinerziehende Mutter mußte ich priorisieren, und dabei waren bestimmte Fragen lebenswichtig, aber auf andere kam es weniger an. Ich erinnere mich noch daran, wie merkwürdig ich es fand, als damals ein Freund in einem Gespräch über das, was der Mensch braucht, ausgerechnet Urlaubsreisen (und zwar nicht einmal generell, sondern speziell bezogen auf mich) für unverzichtbar hielt, die mir wiederum in fast jeder Hinsicht nachrangig vorkamen. Urlaub war mir außerdem auch kein Herzensbedürfnis. Wäre das Kind nicht gewesen, dem ich die Peinlichkeit ersparen wollte, nach den Sommerferien von keiner Urlaubsreise erzählen zu können, hätte ich darauf gut verzichten können. So fand ich über die Jahre immer wieder ziemlich kreative kostengünstige Lösungen, um all denen, die danach fragen würden, einen Urlaub oder wenigstens etwas Urlaubsähnliches vorweisen zu können, und auf ein paar davon bin ich heute noch stolz, vor allem diese Familienfreizeit, bei der ein anschließender Kassensturz ergab, daß ich weniger Geld dafür benötigt hatte, als ich daheim ausgegeben hätte.
Was mir beim Wiederlesen von Picardies Buch so auffiel, ist, daß sie dieses Priorisieren auch erst lernen mußte, als sich ihre Handlungsoptionen mit fortschreitender Krankheit immer weiter verengten. Anfangs - also zu der Zeit, als die E-Mail-Wechsel des Buches einsetzen - scheint sie ihre Kräfte in eine wahre Sturzflut von mehr oder weniger obskuren Alternativtherapien vergeudet zu haben, die sie parallel zur "schulmedizinischen" vornahm, und zwar meinem Eindruck nach ziemlich wahllos. Ich will darüber nicht die Nase rümpfen; vielleicht hätte ich in den Neunzigern an ihrer Stelle ähnliches getan. Aber trotzdem bin ich überzeugt davon, ich hätte mich schon damals viel mehr darauf fokussiert, einen roten Faden in meiner Krankheit zu finden, an dem ich mich mit allem, was ich tue oder was ich nicht zu tun bereit bin, entlanzuhangeln versucht hätte. Bei Picardie finde ich davon nichts, sie schoß ihre Maßnahmen breitestmöglich mit der Schrotflinte ab und hoffte offensichtlich darauf, daß vielleicht eine davon sich als der Treffer erweisen würde. Grundlage waren Empfehlungen von Freunden, viele davon so esoterisch, daß ich selbst schreiend davor die Flucht ergriffen hätte.
Wenn ich mir vor Augen halte, wie kräftezehrend alleine schon das unverzichtbare Programm einer normalen Krebsbehandlung ist, bricht mir der Schweiß aus, wenn ich mir vorstelle, parallel dazu noch alle möglichen sonderbaren Wunderheiler und Alternativtherapeuten aufzusuchen und - zeitgleich - deren Mittelchen einzunehmen und Ernährungsvorschriften einzuhalten versuchen, was sich natürlich in der Praxis als unmöglich erweist, weil sie einander teilweise widersprechen. Eine solche Energieleistung hätte ich kaum aufgebracht. Picardie tat es, und das vermutlich auch deshalb, weil sie es gewohnt war, in den Kampfmodus zu gehen, wenn etwas nicht auf Anhieb so klappte, wie sie es sich vorgenommen hatte.
Damit sie ihre Kinder bekam, hatte sie beispielsweise eine künstliche Befruchtung benötigt. Daran ist ja eigentlich heute nicht mehr viel Merkwürdiges - Frauen mit Hochschulbildung bekommen ihr erstes Kind meistens erst nach der Mitte der Dreißiger, und da läuft bei manchen die biologische Uhr schon nur noch mit Aussetzern oder gar nicht mehr -, was mir aber auffällig vorkam: Ihr Geduldsfaden, als sie nicht gleich nach ihrer Hochzeit schwanger wurde, war ziemlich kurz. Als sie nach zwei Jahren nicht von alleine schwanger geworden war, schwang sie bereits die IVF-Brechstange, obwohl sie erst Anfang 30 war und noch viel Zeit zum Weiterprobieren gehabt hätte. Die Brachialmethode funktionierte dann auch, allerdings mußte sie ihren Sieg über ihre widerspenstigen Fortpflanzungsorgane mit einer ungewöhnlich unangenehmen Schwangerschaft bezahlen. Vielleicht wäre das ja auch in einer normalen Schwangerschaft passiert, aber ebenso ist es möglich, daß es irgendetwas mit der vermutlich bereits in ihr schlummernden Krebserkrankung zu tun hatte und sie der Grund dafür war, warum ihr Körper nicht ausgerechnet jetzt schwanger werden wollte.
Alles reine und noch dazu wilde Spekulation natürlich. In dem Buch wird diese künstliche Befruchtung aber auffälligerweise wie eine Selbstverständlichkeit behandelt, das scheint mir auch zeitgeisttypisch für eine Frau ihrer Bildung und ihres Alters in den Neunzigern. Gar kein Gedanke daran, ob ihr Körper ihr vielleicht mit seiner Verweigerung der Schwangerschaft zum konkreten Zeitpunkt irgendetwas sagen will, das es sich lohnen würde, anzuhören, bevor man mit sich zu Rate geht, wie man damit nun umgehen will, sondern nur die grimmige Bereitschaft, ihn zum Schwangerwerden zu zwingen, wenn er es nicht freiwillig tut.
Am Krebs scheiterte die aus diesem Verständnis abgeleitete Herangehensweise dann allerdings. Das ist natürlich keine Kritik, denn wahrscheinlich wäre jede andere Herangehensweise genauso gescheitert. In den Neunzigern waren es halt noch keine 90 Prozent 5-Jahres-Überlebenden bei Brustkrebs und in Teilbereichen noch weitaus bessere Überlebensperspektiven. Außerdem hatte eine unfähige Gynäkologin durch eine Fehldiagnose eines Knotens in der Brust als angeblich gutartig (ohne wenigstens durch eine Biopsie eine Bestätigung dafür zu suchen!) die Behandlung unnötigerweise verzögert. Als die Behandlung begann, hatte der Krebs möglicherweise schon gestreut, in jedem Fall tat er es spätestens ein paar Monate nach deren Beginn - auch hier wurde aber die Diagnose der Metastasen unnötig lange hinausgezögert. Es ist übrigens ziemlich charakteristisch, daß Picardie solche Dinge nur am Rande erwähnt und nicht lange herumlamentiert, obwohl es dafür ja einen handfesten Grund gegeben hätte. Einer der Unterschiede zu heute ist nämlich auch, daß in den Neunzigern diese Opferpose noch nicht schick geworden war, in die sich heute jeder aus dem geringsten Anlaß ohne viel Nachdenken schwingt.
Picardies Chancen erwiesen sich binnen weniger Wochen durch immer neu entdeckte Metastasen - erst in den Knochen, dann im Gehirn, später auch in Leber und Lunge - als so schlecht, daß sie daran kaum noch durch irgendwelche Eigenmächtigkeiten etwas schlimmer machen konnte. Aber irgendwann gab sie dann auf und fokussierte sich vor allem darauf, ihr kurzes Restleben mit Inhalten zu füllen - und vor allem mit so viel Spaß wie möglich. Dabei half ihr, daß sie das Glück im Unglück hatte, bis ziemlich kurz vor ihrem Tod körperlich noch fit zu sein.
Erwähnenswert finde ich es dabei außerdem, daß Picardie zuvor keineswegs ein ungesundes Leben geführt hatte, weder nach damaligen noch nach heutigen Maßstäben. Sie ernährte sich vegetarisch, rauchte nicht und trank nur in Maßen Alkohol. Ihre Laster lagen also nicht in den gesundheitsrelevanten Bereichen, sondern eher im Bereich Shopping, sei es Mode, sei es Kosmetik, und genau das zelebrierte sie dann auch, als die schlechten Nachrichten immer schneller kamen und immer schlechter wurden ... das Bedürfnis danach entzieht sich zwar meinem Verständnis, denn ich bin noch nie gerne shoppen gegangen. Aber sich sein Rest-Leben, wenn man sich damit abgefunden hat, daß die Uhr fast abgelaufen ist, so angenehm wie möglich zu machen, das leuchtet mir natürlich sehr ein, auch wenn ich dazu andere Dinge täte, die ich befriedigender fände.
Als die Chemo ihr Gewicht auf 70 Kilogramm katapultierte (ein Gewicht, das weit unter meinem heutigen und sogar noch unter meinem Zielgewicht liegt), war sie total entsetzt, also war sie wohl ein noch viel niedrigeres Körpergewicht gewöhnt. Das Buch enthält auch ihren Mailwechsel mit einer Freundin namens India, die sich ebenfalls viel zu fett fühlt, was einer der roten Fäden in ihrer Korrespondenz ist. Nirgends wird bei ihr ein konkretes Gewicht erwähnt, aber ich wäre ziemlich überrascht, wenn ihr Gewicht höher als meines gewesen wäre. Auch so eine Besonderheit in den Neunzigern: Damals war die Adipositas-Welle noch weit von ihren heutigen Ausmaßen entfernt, obwohl sie sich bereits aufbaute. Die um ihr Gewicht Ringenden waren bestimmt nicht weniger als heute, aber sie kämpften von einem durchschnittlich niedrigeren Gewicht aus als unsereins um ein noch niedrigeres. Sie waren darin genauso erfolglos wie ihre heutigen schwereren Nachfolgerinnen es meistens sind und ich ebenfalls war, bis ich das Intervallfasten entdeckte und die Sache auf einmal aufhörte, sich meiner Kontrolle zu entziehen.
Wie weit es mir gelingen wird, meine Krebserkrankung zu kontrollieren, muß sich natürlich erst zeigen. Daß ich jetzt krebsfrei bin und sogar ziemlich gute Aussichten habe, es dauerhaft zu bleiben, bedeutet natürlich nicht, daß ich eine Garantie dafür hätte. Aber die hatte ich ja, wenn man es genau nimmt, überhaupt noch nie in meinem Leben. Mit dieser Sorte Unwägbarkeiten lebt man mit um die dreißig, indem man sie ignoriert (es sei denn, sie überrumpeln einen schon in diesem Alter), ohne sich ihrer bewußt zu sein. Anders wäre man ja gar nicht in der Lage, irgendwelche Zukunftspläne zu machen. Aber genauso kann man das auch handhaben, wenn man sich der Unwägbarkeiten bewußt ist.
Es würde einen handlungsunfähig machen, würde man sein Leben so planen, daß es auf die Möglichkeit eines Todes im Lauf der nächsten zwölf Monate hin optimiert ist. Das gilt jedenfalls dann, wenn es keine handfesten Gründe gibt, ihn in diesem Zeitraum für sehr wahrscheinlich zu halten. Wenn aber bei meinen Eckdaten mehr als 90 Prozent aller Brustkrebspatientinnen nach fünf Jahren noch leben, dann ist mir zwar klar, daß ich auch zu den weniger als 10 Prozent gehören kann, aber ich halte das für keine Basis, um eine vernünftige Lebensplanung zu betreiben. Ich plane deshalb mein Leben so, als würde ich hundert Jahre alt, und falls mir da meine physische Verfassung doch früher einen Strich durch die Rechnung zu machen versucht, muß ich eben umplanen.
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