Sonntag, 9. Juli 2023

Gesundheitspolitik für Halbdackel

Mein Gewicht heute früh am Tag vor meinem letzten langen Fastenintervall: 82,6 Kilogramm. Das ist zufriedenstellend, wenn auch noch kein richtiger Grund für ekstatische Freudenausbrüche. Ich habe allerdings den Verdacht, daß die Bestrahlung für einen ständig leicht erhöhten Wasserhaushalt sorgt. Immerhin schreddert sie ja fünfmal in der Woche an den beiden bestrahlten Stellen (Brust und Achselhöhle) Zellen, davon vermutlich die meisten zuvor gesunde. In mir finden also permanent Bauarbeiten statt, und das dürfte wohl auch zusätzlich Wasser benötigen, wie das bei Baustellen halt so ist. 

Inzwischen habe ich 17 von 28 Bestrahlungsterminen hinter mir, und glücklicherweise scheint die häufigste Nebenwirkung, Müdigkeit, bei mir auszubleiben - anders hätte ich die letzten beiden Arbeitswochen wohl kaum überstanden, denn die waren richtig anstrengend, weil mir ja jeden Tag diese durchschnittlich zwei Stunden fehlten, aber gleichzeitig dauernd alles mögliche gleichzeitig erledigt werden sollte. Das einzige, was ich an Nebenwirkung bemerkt habe, ist - und das auch nur ab und zu - ein leichtes Zwicken an den bestrahlten Stellen. Ich nehme an, das kommt von den internen Bauarbeiten. Aufgefallen ist mir, daß es im Lauf der Woche zu Wochenende hin etwas zuzunehmen scheint und auch insgesamt seit Beginn der Bestrahlung etwas häufiger und stärker geworden ist, also bin ich ganz froh über die zweitägige Pause immer übers Wochenende, sonst würde das womöglich wirklich unangenehm werden. 

Jetzt geht es aber ohnehin nur noch um zwei Wochen plus den darauffolgenden Montag, dann bin ich fertig mit der Radiotherapie. Da ich außerdem den Eindruck habe, das Zwicken ist in den Wochen ohne langes Fastenintervall stärker als in solchen mit, nehme ich an, der mit dem Fasten verbundene Autophagie-Effekt ist nützlich, also ist es ein glücklicher Zufall, daß ich am letzten Bestrahlungstag den ersten Tag eines langen Fastenintervalls haben werde und bis zu dessen Ende der Rückstau bei den nötigen internen Reparaturarbeiten vielleicht ja ein bißchen stärker verringert werden kann als andernfalls.

Ich hoffe darauf, morgen mit um die 83 Kilogramm in das lange Fastenintervall gehen zu können und am Freitagmorgen weniger als 78 Kilogramm zu wiegen. Ziemlich gespannt bin ich dann aber vor allem darauf, ob sich bei meinem übernächsten Fastenintervall, das am letzten Bestrahlungstag beginnt, bis zum Freitag ein stärkerer Wasserverlust herausstellt - was ja der Fall sein müßte, sofern ich richtig liege mit meiner Annahme, daß ich gerade wegen der Bestrahlung einen leicht erhöhten Wasserpegel habe. 

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Gestern haben wir einen vergnügten Hofflohmärkte-Tag gehabt, und dabei hatte ich eine Wiederbegegnung mit der jungen Frau, die mir im Oktober 2021 an ihrem Flohmarktstand spontan ein frisch gebackenes und sehr leckeres Keto-Brötchen geschenkt hatte, nachdem wir zufälligerweise dahintergekommen waren, daß wir beide Low Carb essen. Ich habe sie darauf angesprochen, und es stellte sich heraus, daß sie diese Ernährungsweise ein Jahr lang durchgehalten und dann wieder beendet hat. Sie sagte, es habe ihr soziales Leben einfach zu sehr beeinträchtigt. 

Das tat mir leid für sie, aber komisch fand ich es außerdem, daß sie gar nicht auf den Gedanken gekommen zu sein scheint, die Keto-Ernährung irgendwie zu modifizieren, also vielleicht - so wie ich das von Anfang an sowohl beim Fasten als auch bei Low Carb gemacht habe - Keto einfach zu unterbrechen, wenn es dem sozialen Leben in die Quere kommt. 

Vielleicht steckte ja insgeheim auch noch mehr dahinter, etwa, daß sie es gar zu gut und zu konsequent machen wollte und dann mit dem Jieper nach verbotenen Genüssen irgendwann nicht mehr klarkam. 

Ich habe ihr jedenfalls erzählt, daß ich Low Carb immer zweimal im Jahr für ein paar Wochen anwende, und hoffe, ich konnte damit bei ihr ein paar subversive neue Gedanken auslösen. Das Problem ist ja oft, daß man in solchen Fragen gerne in einer Art "Ganz oder gar nicht"-Denkfalle steckenbleibt. Also: Wenn es nicht gelingt, Keto konsquent umzusetzen, kann man es genausogut gleich ganz bleibenlassen. Das sehe ich ganz anders, und ich finde, die Erfahrung gibt mir recht.

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Twitter spülte mir folgenden kulleräugig-naiven Satz in die Timeline, der mich über die allgemeine Einfalt nachsinnen ließ, der die Leute symbolpolitische Wichtigtuerei mit einer sinnvollen gesundheitspolitischen Maßnahme verwechseln läßt:

Auf den ersten Blick ist man ja erst einmal überrascht, daß Rauchen in Autos nicht längst verboten sein soll, jedenfalls ging das mir erst einmal so - ich habe ja gar kein Auto und deshalb gar nicht so genau verfolgt, wie die Rechtslage da im Moment ist. Wenn ich mal in einem Auto sitze, ist es eines, das jemand anders gehört, und ich käme gar nicht auf den Gedanken, dort rauchen zu wollen, es sei denn, der Besitzer fordert mich ausdrücklich dazu auf oder zündet sich selbst eine an, was mir allerdings schon lange nicht mehr passiert ist. Meines Wissens werden bei Neuwagen längst weder Aschenbecher noch Zigarettenanzünder mehr eingebaut und wer im Beisein seines Kindes auf der Straße raucht, riskiert es, von Wildfremden angefeindet zu werden. Daß ich in meiner Wohnung immer noch rauche, macht mich auch unter Rauchern ohne Kinder längst zu einem Ausnahmefall, der häufig auf Erstaunen stößt. Im Carsharing und Mietautos ist das Rauchen zwar nicht gesetzlich, aber vom Betreiber privatrechtlich verboten. 

Rauchen in privaten Räumen, auch Autos, ist auch ohne gesetzliche Verbote längst zu einem recht seltenen Ausnahmefall geworden. Ist Rauchen im Beisein von Kindern, ob nun im Auto oder anderswo, also wirklich ein so gravierendes Problem, daß der Gesetzgeber es unbedingt lösen müßte? 

Dieser Dario Dingsda zäumt den Gaul von der falschen Seite her auf, wenn er (richtigerweise) feststellt, daß so ein Verbot jedenfalls keinen Schaden anrichten werde, und der Meinung ist, alleine deshalb müßte jeder, der bei Sinnen ist, dafür sein. Das reicht für sich genommen aber für mich noch nicht aus, ein Gesetzesvorhaben zu befürworten, bei dem andererseits auch nichts dafür spricht, daß ein meßbarer gesundheitlicher Nutzen aus ihm entstehen wird. 

Schon klar: Diese steile These ist genauso kontraintutiv wie meine Behauptung, daß es beim Abnehmen nicht auf die Kalorien ankomme. Sie scheint im Widerspruch zu dem zu stehen, was seit langer Zeit "jeder weiß". Also will ich das auch begründen, denn das, was "jeder weiß" stimmt nämlich in Wirklichkeit fast nie in allen Teilbereichen.

Tatsächlich sind heutige Kinder ja nicht seltener krank, als wir es damals waren, die wir überwiegend rauchende Väter hatten, die in der Wohnung, im Auto und praktisch überall geraucht haben, weil das damals üblich und normal war. Bei vielen Krankheiten - etwa Asthma und Allergien - können Anstiege auch etwas mit veränderten Diagnoseverfahren, aber auch mit "Diagnosemoden" zu tun haben. Deshalb greife ich als besonders prägnantes und folgenschweres Beispiel Krebs bei Kindern heraus.

Krebs bei Kindern ist nämlich mit der sukzessiven Ächtung des Rauchens im Beisein von Kindern keineswegs seltener, sondern im Gegenteil häufiger geworden. Vergleicht man die Zahl der Krebsfälle bei Kindern pro Million Kinder des Jahres 1980 mit den Folgejahren, stellt man fest, daß diese Zahl in den letzten vierzig Jahren ständig gestiegen ist. 2018 lag sie um 75 % höher als 1980. Mittlerweile hat sie sich wahrscheinlich nahezu verdoppelt.  

Das heißt natürlich nicht, daß rauchende Eltern im Auto für Kinder gesünder wären als nichtrauchende, es heißt nur, daß Rauchen der Eltern speziell bei Kindern und Krebs nicht der Faktor sein kann, an dem man ansetzen müßte, wollte man diesen Anstieg wirklich verhindern, was ich übrigens auch in der Tat für ein wichtiges gesundheitspolitisches Ziel halten würde. 

Ich finde diesen Trend bei Krebs speziell bei Kindern umso beunruhigender, als ja auch andere potentiell krebsauslösende Faktoren seit meiner Kindheit teils sogar in dramatischem Umfang reduziert worden sind, was eigentlich eher zu einem Rückgang hätte führen sollen. Als ich in den Kindergarten ging und deshalb täglich mindestens zweimal eine Viertelstunde lang unsere vielbefahrene Hauptstraße entlangging, waren die Autoauspuffs (damals noch ohne Katalysator) auf Nasenhöhe mit mir. Ich war fünf, als wir unsere Kohle-Einzelöfen in der Wohnung durch eine Zentralheizung ersetzten, und solche Kohleheizungen wurde erst nach und nach anderswo ersetzt. Ich habe noch in den achtziger Jahren ein paar Jahre lang mit einem holz- und kohlebefeuerten Kachelofen geheizt ... und übrigens die besonders angenehme Wärme, die das erzeugte, auch sehr geliebt. Aber natürlich hat das in der Raumluft auch mehr Schadstoffe erzeugt.

Neben den Wohnungsheizungen und den Autos stießen auch Fabriken in den Siebzigern ihre Abgase noch ungefiltert in die Luft, und die Wärmedämmung, die meine Eltern sich unter dem Eindruck der Ölkrise von 1973 leisteten, bestand aus einer Täfelung unseres Wohnhauses mit asbesthaltigen Platten, was irgendwie auch keine so richtig gesundheitsfördernde Sache war. Meine Schwester hat sich während ihres ersten Ferienjobs durch die Dämpfe der damals üblichen Lacke (deren Verwendung einen Betriebsinhaber heute sicherlich in den Knast bringen würde) eine lebenslang nachwirkende allergische Erkrankung zugezogen. 

Das ist natürlich keine abschließende Aufstellung, nur das, was mir spontan als erstes einfällt, wenn ich irgendwo lese, daß ein Anstieg von Krebsfällen - ob nun bei Kindern oder bei Erwachsenen - auf Umweltgifte zurückgeführt wird. Spontan kann ich mir nicht vorstellen, daß wir heute durchschnittlich mehr und stärkeren Umweltgiften ausgesetzt sind als in meiner Kindheit. Falls es dennoch so sein sollte, habe ich noch nirgends eine Gegenüberstellung gesehen, die eine solche Annahme plausibel machen würde. Statt dessen wird diese Frage allgemein ignoriert, wenn von den Umweltgiften von heute die Rede ist - deren Existenz ich übrigens damit keineswegs bestreiten will, nur erscheint mir die Annahme einer höheren Intensität als vor fünfzig Jahren nicht einleuchtend.

Wenn sich seitdem die Zahl der Krebsfälle je Million Kinder verdoppelt hat, halte ich es schon für eine sehr wichtige Frage, woher das kommt und was man dagegen tun kann. Eines aber steht fest: Am Rauchen kann es nicht liegen, denn das ist - sowohl den Anteil der Raucher in der Bevölkerung wie auch der Orte betreffend, an denen sie rauchen - ständig weniger geworden. 

Das Rauchverbot im Auto ist deshalb meines Erachtens nichts weiter als Symbolpolitik, ein typischer Fall von gesundheitspolitischem "So tun, als ob". Etwas "gegen das Rauchen zu tun", garantiert außerdem den Beifall einer Bevölkerungsmehrheit, bei der praktisch alles, was mit der Bekämpfung des Rauchens zu tun hat, spontan erst einmal gutgeheißen wird. Für diese Art von leicht zu erringendem Beifall steht der oben abgebildete Tweet geradezu idealtypisch. Ich nehme an, genau auf diesen Beifall zielt Lauterbachs Gesetzesvorhaben auch ab, nicht etwa auf meßbare gesundheitliche Vorteile für Kinder. 

Ganz ehrlich? Ich glaube nicht, daß so ein Gesetz ein Ausdruck von "Gesundheitswahn" ist, wie das diese FDP-Tante, die den Dario Dingsda zu seiner Einlassung inspirierte, sicherlich auch nicht wirklich glaubte, sondern damit Punkte bei den Freiheitsgläubigen zu machen hofft, die sich ja in den letzten Jahren (und zwar völlig zu Recht) von der FDP abgewandt haben und nun (mit weit weniger guten Gründen) der AfD nachlaufen. Es geht auch ihr nur um billigen Beifall. Ernst genommen fühle ich mich als Wähler weder von der einen noch von der anderen Seite. 

Der Tweet mit der treudoofen Gewißheit des Autors, genau zu wissen, was in dieser Frage gut und richtig ist, läßt es mir aber sogar eiskalt das Kreuz herunterlaufen, weil man an solchen Reaktionen immer wieder erkennt, wie leicht es für Politiker, Aktivisten und Lobbyarbeiter aller Couleur ist, sich im Umgang mit Leuten, die "halbwegs Verstand" haben, auf den Aufbau bloßer Potemkinscher Dörfer zu beschränken, um sie von einer Sache zu überzeugen. Wer halbwegs Verstand hat, wäre demnach dem gleichzusetzen, was man in unseren Breiten traditionell einen "Halbdackel" nennt, und der Begriff ist das Gegenteil eines Kompliments.

Ich empfehle, sich lieber gleich einen vollständigen Verstand zuzulegen und ihn zunächst an der Frage zu schärfen, ob man zu einer bestimmten Frage wirklich bereits genug weiß, um zu ihr eine Meinung zu haben. Man entdeckt dann zwar schnell, daß man nur noch selten dieselbe Meinung vertreten kann, die bei Umfragen gerade mehrheitsfähig ist ... und das kann auch im "sozialen Leben" manchmal auf ähnliche Weise ein bißchen einsam machen wie eine ketogene Ernährung. Man müßte einfach zu weit ausholen, um seine nicht tagesschaukompatible Meinung zu begründen. Dafür ist aber die Aufmerksamkeitsspanne des durchschnittlichen Gesprächspartners viel zu kurz.

Aber mit den Halbdackeln möchte ich trotzdem nicht tauschen. Außerdem, fürs weite Ausholen, um meine Meinungen zu begründen, habe ich ja immerhin meinen Blog. :-)


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