Dienstag, 24. Januar 2023

Untote und Opportunisten

Mein Gewicht heute früh nach einem Tag Fasten: 86,4 Kilogramm, und das werte Befinden heute ist ein deutlicher Fortschritt zu gestern - und schon gestern lief bereits wieder unter der Rubrik "Durchaus akzeptabel". Einschränkung: Ich habe gestern den ganzen Tag erbärmlich gefroren. Weil ich auch entsprechend geheizt habe, ging es tagsüber trotzdem ganz gut. Aber als ich abends das Schlafzimmer mit seinen 16,7 Grad Celsius betrat, ging ich erst mal in die Knie, denn das war für mich gestern schon vor dem Ausziehen kaum auszuhalten. Dann holte ich mir den bislang nie benutzten extrawarmen Schlafanzug, den ich eigentlich die ganze Zeit für einen blöden Fehlkauf gehalten hatte, zog ihn zusätzlich über das Nachthemd und verkrümelte mich ins Bett. So ging es dann doch.

Sonst schlafe ich immer bei gekipptem Fenster. Das brachte ich gestern nicht über mich. Trotzdem bin ich nachts einmal aufgewacht, weil meine Füße (die in Bettschuhen steckten) sich wie Eisklumpen anfühlten. Heute scheint mein Temperaturempfinden zum Glück wieder normal zu sein. Dafür habe ich jetzt den Trastzumab-Nebenwirkungs-Klassiker, Durchfall, aber auch das scheint sich zu beruhigen, die letzte kleine Mahlzeit, ein griechischer Joghurt mit einem Schuß Orangensirup, scheint jedenfalls nicht mehr explosiv gewirkt zu haben. Gut, daß ich gestern sowieso nichts gegessen habe. 

Aber am meisten gefreut hat mich heute morgen, daß der Kaffee endlich wieder nach Kaffee schmeckte statt wie Batteriesäure. 

Ich gehe somit davon aus, daß ich das Gröbste hinter mir habe, und plane deshalb bereits für den nächsten Zyklus voraus, bei dem die Nebenwirkungspalette sich vermutlich ja nach einem ähnlichen Schema abspulen wird, wenn man auch die Abweichungen im Detail vorher natürlich nie so genau vorhersagen kann. Was ich nächstes Mal nämlich testen will, ist, ob die Nebenwirkungen stärker oder schwächer ausfallen, wenn ich den vierten Fastentag hinter die Chemo schiebe, also vor der Chemo nur einen Tag faste. Bei EC hatte ich den deutlichen Eindruck, daß zwei Fastentage vorher mehr bringen als nur einer, aber ob das diesmal genauso ist (will heißen: die Wirkung, obwohl sie stärker war, eigentlich trotzdem noch ein Fall von "gut davongekommen" gewesen ist), bin ich mir nicht sicher, weil mir der Vergleich fehlt. 

Das Fasten schützt ja die gesunden Körperzellen - bis zu einem gewissen Grad - vor dem Gift, das bei der Chemo in mich hineingepumpt wird. Vielleicht ist die zellschützende Wirkung bei meinem aktuellen Cocktail aber besser, wenn ich Fastentag vier doch nach hinten verschiebe. Und das will ich jetzt ausprobieren, alleine schon weil dieses Platinzeugs, dem ich - sagt die Chemo-Schwester - meine wochenendlichen Ausfallerscheinungen vor allem zu verdanken habe, speziell die Nieren schädigen kann, und die will ja ich noch ein Weilchen behalten. Falls mir also auf diese andere Weise eine Verbesserung der Nebenwirkung gelingen sollte, bleibe ich dabei. Wird es schlechter, mache ich es bei den letzten beiden Zyklen wieder umgekehrt. Und falls alles gleich bleibt? Keine Ahnung. Vielleicht werfe ich dann eine Münze.

Apropos Platinzeugs. Heute habe ich einen meiner älteren Blogartikel zur neuen Chemo-Runde korrigiert, weil ich da von "Cisplatin" geschrieben hatte. Das gibt es zwar ebenfalls, aber das, was ich bekomme, heißt "Carboplatin". Das muß ein Freudscher gewesen sein. Carboplatin, ausgerechnet während ich Low Carb esse, hat meinem Hirn wohl nicht so recht eingeleuchtet, und so wurde der Begriff bei mir falsch abgespeichert. 👀

Weil auch der nächste Zyklus an einem Dienstag startet, riskiere ich mit meiner experimentellen Veränderung allenfalls ein noch ungemütlicheres Wochenende, als es das vergangene gewesen ist. Dafür kann ich mich diesmal aber darauf vorbereiten, daß es unangenehm werden wird, und es mir so gemütlich machen, wie es die Umstände eben zulassen. Ich habe beispielsweise die feste Absicht, bei meinem Mann für das bewußte Abendessen an diesem Wochenende sowohl am Samstag als auch am Sonntag seine berühmte Hühnersuppe vorzubestellen, statt mich selbst in die Küche zu stellen. Hühnersuppe hilft ja außerdem gegen so gut wie alles, vielleicht dann auch gegen Chemo-Nebenwirkungen.

Bei der Blutabnahme habe ich heute übrigens tatsächlich die Chemo-Schwester auf die Sache mit dem Titan-Clip angesprochen und gefragt, ob sie meint, ich solle etwas zeitnäher als geplant beim Doc vorsprechen, damit da nichts schiefgeht. Sie schaut sich den Radiologiebefund jetzt mal an, spricht mit dem Doc, und wir unterhalten uns nächste Woche beim Anzapfen nochmal darüber, wie wir weiter vorgehen. Ich habe sie außerdem gefragt, ob es bei ihren Patientinnen jemals schon vorgekommen sei, daß der Tumor sich bereits rückstandslos verploppt hatte, noch bevor der Clip gesetzt wurde, und sie versicherte mir, das sei noch nie passiert. 

Dann hoffe ich mal, daß ich nicht ihr historischer Fall Nr. 1 werde (und womöglich wegen eines durch Fasten besonders aggressiv gemachten Immunsystems dann auch noch selbst daran schuld bin ...). - Aber ein Tumor, den ich erstmals nicht mehr ertasten kann, sollte ja eigentlich trotzdem immer noch für ein Weilchen im Mammogramm auffindbar sein. Im Moment finde ich ihn ja außerdem noch, wenn ich ernsthaft nach ihm suche. Aber er ist heute morgen im Vergleich zu gestern tatsächlich schon wieder schwerer aufzuspüren gewesen. Mir fehlt übrigens tatsächlich in der Brust ein wenig "Masse", es ist nicht gerade ein Loch, aber irgendwie fühlt es sich beim Abtasten an, als wäre an der betreffenden Stelle weniger Substanz enthalten: Es gibt stärker nach. Das erinnert mich daran: Es gab ja zum "Haupt-Tumor" auch noch diesen deutlich kleineren Satelliten. Was in der letzten Woche aus dem geworden ist, frage ich mich natürlich auch, und hier machen mich Abtastversuche nicht im mindesten schlauer. Bei der letzten Mammographie existierte er offenbar noch, aber im Gegensatz zum vorigen Mal bekam ich kein Bild von ihm zu sehen und konnte nur dem Bericht entnehmen, daß auch er kleiner geworden sei, aber ohne nähere Angaben. 

Ich frage mich ja schon, wie die Krebszellenleichen wohl abtransportiert werden, denn offenbar bleiben sie nicht einfach tot auf dem Schlachtfeld liegen. Ob das ähnlich abläuft wie beim Prozeß der Autophagie? Krebszellen sind ja letztlich auch körpereigene Zellen, jedenfalls sind sie das mal gewesen, bevor sie in etwas Gräßliches mutierten - was der Vorstellung, daß recycelte Krebszellen in mir vielleicht wirklich wiederaufbereitet werden und für den Rest meines Lebens weiter als Untote in meinen normalen Körperfunktionen herumspuken, etwas entschieden Unheimliches verleiht. Ich hoffe, mein interner Hausmeisterservice verfügt für allfällige Notfälle wenigstens über spitze Holzpflöcke (am besten aus Eibenholz wegen des Taxols). Knoblauch sollte er über meine Ernährung ja genug bekommen. 

Apropos Ernährung. Gestern abend spulte mein kulinarisches Kopfkino nonstop Rahmchampignons ab, und wäre mir nicht so kalt gewesen, wer weiß, ob ich nicht meinen allerersten Fastentags-Abbruch zu verbuchen gehabt hätte. Das hatte zur Folge, daß ich heute prompt frische Champignons gekauft habe, obwohl meine Gelüste da längst in eine andere Richtung gingen. Ich hatte nämlich schon morgens beim Kaffee intensive Visionen von einer Fleischsuppe, in der kleingeschnittene Karotten, Kohlrabi und Kartoffeln schwammen. Das war es dann auch, was ich heute tatsächlich gemacht habe, als ich vom Blutabzapfen kam. Komisch, eigentlich mag ich Karotten und Kohlrabi sonst viel lieber roh und knackig, aber heute hatte ich einen echten Jieper auf die weichgekochte Version. Ich nehme an, mein Körper hat seine chemospezifischen Bedürfnisse zum Ausdruck damit gebracht, wie auch immer Biochemiker und Ernährungsgurus sich das erklären würden. Daß es mich dabei auch nach Suppe lüstete, finde ich besonders einfach zu erklären, da ich schon seit einer Woche einen so auffallend hohen Drang nach Flüssigem habe.

***

Heute las ich, daß die Wissenschaft glaubt, eine Verbindung zwischen Virusinfektionen und Demenz erkannt zu haben. Sonderlich überraschend fände ich das nicht, eher überrascht es mich, daß die Wissenschaft das überraschend zu finden scheint. Virusinfektionen spielen bei einigen Krebsarten nachweislich eine Rolle und ich vermute, bei einer Reihe von anderen ebenfalls, auch wenn es dafür bislang keine Nachweise gibt. Krebs verhält sich außerdem opportunistisch: Er scheint sich vielfach und in praktisch jedem Menschen in großer Zahl niedrigschwellig anzusiedeln, ohne einen zunächst zu stören, und bleibt lange Zeit (oft sicher auch dauerhaft) inaktiv. Aber wehe, es ergibt sich eine aus seiner Sicht günstige Gelegenheit, dann startet er sein Programm zur feindlichen Übernahme. So eine günstige Gelegenheit bieten unter anderem Virusinfektionen, die das Immunsystem anderweitig beschäftigen und dem Tumor in spe dadurch mehr Gestaltungsspielräume erlauben. 999 Mal ist die Infektion dann beseitigt, noch bevor die "kritische Masse" erreicht ist und das Immunsystem unseren inneren Putin doch wieder zum Wegducken zwingt. Das Problem ist das tausendste Mal. 

Was mir bei meinem eigenen "tausendsten Mal" immer wieder zu denken gab, waren die neulich geposteten Daten zur Entwicklung der Zahl der Brustkrebsfälle seit Einführung des Screenings, und zwar die Tatsache, daß sich das Screening ausgerechnet auf die Zahlen des vor dem Screening häufigsten Stadiums 2 überhaupt nicht ausgewirkt hat, auch nicht in der Altersgruppe, in der gescreent wird (die gelbe Linie in der Abbildung):

 

Mit der Vorstellung einer schleichenden Vergrößerung eines Tumors - und somit der realistischen Chance, durch das Screening diesen Prozeß deutlich früher als andernfalls zu entdecken - bringe ich das beim besten Willen nicht unter einen Hut. Meines Erachtens müßte es vielmehr bedeuten, daß Brustkrebs (und möglicherweise ja auch andere Krebsarten) sich - jedenfalls beim Übergang vom unauffälligen ins erkennbare Stadium - in Sprüngen entwickelt. Nur dann ergibt es einen Sinn, daß Stadium 2 unter den Treffern genauso häufig ist wie vor zwanzig Jahren. Vor dem Screening war das meistens die Größe, ab der die Patientin den Knoten irgendwann selbst entdecken konnte, und ein solcher Fund dürfte damals auch der häufigste Grund der Untersuchung gewesen sein, die dann in die Krebsdiagnose mündete. Aber wie kann dieses Stadium bei Frauen im Screening-Alter auch weiterhin genauso so häufig sein, da doch knapp drei Viertel von ihnen das Screening in Anspruch nehmen? Würde der Tumor sich schleichend vergrößern, dann hätte gerade Stadium 2 doch in diesem Fall noch viel stärker als die Spätstadien 3 und 4 zurückgehen müssen. 

Eine Entwicklung in Sprüngen würde bedeuten, der Krebs nutzt günstige Gelegenheiten, und das mindestens vorübergehend in ordentlichem Tempo. Warum sollten neurodegenerative Erkrankungen wie Demenz nicht nach ähnlichen Prinzipien zum Ausbruch kommen? Mir leuchtet das spontan ein. Vermutlich ist auch Demenz eine opportunistische Erkrankung, und vielleicht lauert sie genau wie Krebs jahrzehntelang auf den richtigen Moment. Was ich nicht weiß, ist, auf welche Weise man dem Ausbruch der Krankheit mit dieser Erkenntnis gegensteuern sollte, aber vielleicht ergäbe sich ja etwas, würde man diesen Prozeß genauer durchschauen. 






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