Mittwoch, 19. August 2020

Was Adipositas und Billigklamotten gemeinsam haben

Mein Gewicht heute morgen nach dem gestrigen Fastentag: 98,2 Kilogramm. Nach den eher frustrierenden 101,4 Kilogramm gestern früh war das eine angenehme Überraschung. Mehr als 3 Kilogramm runter nach 36 Stunden Fasten, das habe ich in dreieinhalb Jahren höchstens zwei bis drei Mal erlebt. Da kamen wohl mehrere Faktoren zusammen, erstens die Abkühlung und zweitens war der ärgerlich hohe Wert 101,4 wohl überwiegend wasserbedingt. Komisch an ihm ist, daß ich ihn nach der Abkühlung noch hatte. Aber jetzt ist er ja wieder weg.

Daß meine Waage heute freundlich zu mir sein würde, habe ich schon gestern abend geahnt, weil ich im Vergleich zum Morgen unglaubliche 1,5 Kilogramm weniger wog, was ziemlich untypisch ist, weil der Großteil der Abnahme normalerweise über Nacht geschieht. Manchmal wiege ich mich auch abends, deshalb weiß ich, daß am Abend eines Fastentags ein Gewicht zu erwarten ist, das durchschnittlich 400 bis 500 Gramm unter dem morgendlichen Gewicht liegt. Sind es mehr als 500 Gramm, kann ich normalerweise* für den nächsten Morgen mit einer Gesamtabnahme rechnen, die höher als 2 Kilogramm liegt. 

* Aber keine Regel, bei der es nicht auch schon die eine oder andere, meist ärgerliche Ausnahme gegeben hätte ... 👹

Diesmal habe ich keinen Grund zum Ärger. Daß über Nacht weitere 1,7 Kilogramm sich verflüchtigen würden, hätte ich freilich gestern gar nicht erwartet. Ich hätte auf irgendwas zwischen 2,5 und 2,8 Kilo Gesamtabnahme getippt.

Zur Feier des Tages gab es heute bei uns eine Birnentorte* zum Nachmittagskaffee, mit einem Schoko-Biskuitboden, Schokopudding, Zartbitterkuvertüre und natürlich Birnen, das gleiche Rezept, das ich am Wochenende mit Mirabellen gemacht hatte. Ich habe diesmal ein bißchen variiert. Weil der Pudding erst am zweiten Tag richtig fest war und ich Probleme hatte, die Kuchenstücke heil herunterzuschneiden, stellte ich die Torte erst mal für eine Stunde in den Gefrierschrank, holte sie dann heraus und trug einen Teil der Kuvertüre erst dann an der Seite auf. Die brauchte nämlich auch bis zum zweiten Tag, bis sie richtig hart war, aber dann war sie dermaßen steinhart, daß man den Kuchen erst recht nicht mehr schneiden konnte, ohne daß der weichere Teil zermatscht wurde. Meine jetzige Methode hat sich als sinnvoll erwiesen - der Kuchen sah aus wie vom Konditor. Allerdings fand ich, der Birnengeschmack war nicht intensiv genug für dieses Rezept, er ging im Schokogeschmack ein bißchen unter. Bei den Mirabellen war das anders gewesen, deren Eigengeschmack kam sehr gut zur Geltung. Geschmeckt hat es uns natürlich trotzdem. 

* Update: Die Birnentorte, das hatte ich gestern gar nicht erwähnt, ist zwischen meinem Mann und mir eine Art Running Gag, obwohl ich gestern zum ersten Mal tatsächlich eine gebacken habe. Das ist ein Zitat aus dem dänischen Film "Adams Äpfel", siehe den Trailer. Wer schwarzen Humor mag, sollte bei diesem Film voll auf seine Kosten kommen. Wer zusätzlich noch bibelfest ist, wird unter dem Humor einen durchaus ernsthaften Kern entdecken. Vielschichtig und abgründig. Ich sollte ihn mir vielleicht mal wieder anschauen, nun da ich die verdammte Birnentorte wirklich gebacken habe.

Die Birnenschalen und -kerngehäuse habe ich den Wespen auf ihrem Tischchen hingestellt und, wenn ich mir das Gewusel so anschaue, sie damit offenbar glücklich gemacht.

Heute abend schlemmen wir weiter, es gibt Penne Carbonara (Spaghetti habe ich gerade nicht im Haus).

Alles nicht das, was mir die freundliche Ernährungsberaterin eine Straße weiter empfehlen würde, und ebenso würden auch die Vertreter der Low-Carb-Ernährung und sogar Dr. Fung die Stirn darüber runzeln. Aber diese Sorte Ernährung begleitet mich schon seit Beginn des Intervallfastens vor mehr als drei Jahren, und sie hat mich nicht daran gehindert, SEHR VIEL abzunehmen. Vielleicht wäre es noch mehr gewesen, wenn ich Low-Carb-Elemente in meine Ernährung mit eingebaut hätte, aber das würde nicht nur das von mir angestrebte Ergebnis verfälschen - immerhin will ich wissen, ob bzw. mit welcher Strategie es wirklich möglich ist, 73,5 Kilogramm nur mit Intervallfasten abzunehmen, und wenn ja, in welchem Zeitraum -, sondern es wäre auch mit einer Verzichtslogik verbunden, die mich viel zu sehr anöden würde, um das dauerhaft durchzuziehen. 

Neuerdings gibt es einen Trend, Adipositas vor allem als ein psychisches Leiden zu behandeln, und dabei wird der letztgenannte Umstand pathologisiert, daß nämlich das Einhalten einer Verzichtslogik so unangenehm ist, daß es von praktisch niemandem dauerhaft durchgehalten werden kann. Daran ist natürlich so viel richtig, daß die zermürbenden Diätkarrieren, mit denen sich Übergewichtige abkämpfen, natürlich in der Psyche ihre Spuren hinterlassen. Aber dabei werden Ursache und Wirkung verwechselt. Es ist nicht so, daß man nicht abnimmt, weil man psychisch gestört ist. Die Ursache der psychischen Störungen - von Depressionen über Schuld- und Schamgefühle bis zu Eßstörungen - ist vielmehr umgekehrt das ständige Scheitern der Abnehmbemühungen. Ich war auch deprimiert, wenn einer meiner früheren Versuche nach anfänglichen Erfolgen plötzlich nicht mehr klappte und ich am Ende sogar mit einem höheren Gewicht als zuvor dastand.

Die Diät-und-Bewegung-Methode beim Abnehmen scheitert nicht in erster Linie, weil die Leute nach einiger Zeit schlappmachen, sondern deshalb, weil sie offenbar in den meisten Fällen von vorherein nicht funktionieren kann. Ebenso bin ich der Meinung, daß auch das Schlappmachen selbst häufig nicht zu den Ursachen, sondern zu den Wirkungen einer gescheiterten Diät gehört, und einer der Gründe, warum ich beim Intervallfasten auch nach dreieinhalb Jahren noch nicht schlappmache, besteht darin, daß ich fast nach jedem Fastentag irgendein Erfolgserlebnis verbuchen kann. Auch wenn das nicht immer auf der Waage ist, sondern manchmal nur vor dem Spiegel, bei bestimmten Bewegungsabläufen oder bei der Kleideranprobe.  

Ich halte es keineswegs für pathologisch, wenn jemand, dessen Bemühungen ständig ins Leere laufen, dadurch psychisch in Mitleidenschaft gezogen wird. Das ist im Gegenteil eine völlig normale Reaktion auf eine unnormale Situation, vergleichbar dem typischen Ergebnis in einer Versuchsanordnung, in der Ratten nach dem Zufallsprinzip Stromschläge bekommen, ohne eine Chance, dies durch eine Verhaltensanpassung zu verhindern. Wenn der Betroffene glauben muß, daß es nur an seinen eigenen psychischen Defiziten liege, wenn er immer wieder scheitert, macht das die Sache natürlich keineswegs besser, sondern nur noch schlimmer. 

Diese neue Mode, Übergewicht als dauerhaft behandlungsbedürftige chronische Krankheit zu betrachten, ist meiner Meinung nach keine Verbesserung, sondern eine Verschlimmerung einer bereits sehr unbefriedigenden Situation. Ich bin außerdem überzeugt davon, den meisten, die hier zu Dauerpatienten gemacht werden sollen, um noch mehr Ernährungsfachleuten, neuerdings wohl bevorzugt mit psychologischer Zusatzausbildung, ihren Lebensunterhalt zu sichern, fehlt nichts weiter als eine funktionierende Methode, um sowohl beim Abnehmen erfolgreich als auch psychisch stabil zu werden. Daneben bin ich davon überzeugt, daß Intervallfasten - möglicherweise nicht für jeden, aber für sehr viele - eine solche Methode ist.

Von Paul Watzlawick stammt die Geschichte von dem Mann, der seinen verlorenen Schlüssel unter der Straßenlaterne sucht, obwohl er ihn ganz woanders verloren hatte, nur weil dort das Licht besser ist. Genau so kommt mir die Ernährungswissenschaft auch vor. Eigentlich müßte es doch für jeden Experten auf der Hand liegen, daß an den Grundlagen ihrer Herangehensweise irgendetwas nicht stimmen kann. 

Das alles kommt mir immer dann in den Sinn, wenn ich dazu aufgefordert werde, der Wissenschaft und ihren angeblich gesicherten Erkenntnissen sowie deren Vermittlung durch die selbsternannten Qualitätsmedien doch gefälligst zu vertrauen. Wenn ich den "gesicherten Erkenntnissen" über Adipositas, die ich ständig in der Zeitung lese, aber nicht vertrauen kann, warum sollte ich dann annehmen, daß ich in anderen Bereichen besser informiert werde?

Es sind ja nicht nur die Ernährungswissenschaftler, die mir viel zu gute Gründe bieten, ihnen nicht zu vertrauen. Weder beim Dieselskandal noch jetzt bei Corona hatte und habe ich allzu viel Grund, mich auf die Ergebnisse der Wissenschaft zu verlassen, wie mir das immer gepredigt wird - wobei die jeweilige Gegenseite allerdings auch nicht vertrauenswürdiger ist, weshalb ich auch nicht in Gefahr bin, mich in Verschwörungstheorien zu verstricken.

Bei Corona gestehe ich jedem Wissenschaftler bereitwillig zu, daß die Krankheit immer noch zu neu ist, um sie zu durchschauen. Was ich allerdings der globalen Expertenschaft - von der WHO bis zum RKI - mittlerweile ziemlich übel vermerke, ist, daß sie es verschweigen, daß quer durch alle Studien hinweg ausgerechnet die Raucher auffallend seltener an Corona erkranken. Inzwischen, ein halbes Jahr nach Beginn der Pandemie, reden wir von mehreren hundert Studien aus der ganzen Welt, bei denen  fast ausnahmslos immer ungefähr dasselbe Ergebnis herausgekommen ist. Der Effekt ist so groß und die Beweislage so umfangreich, daß es rational betrachtet, keinen Grund mehr gibt, ihn zu bezweifeln, ob er einem nun gefällt oder nicht. 

Daß es der WHO und dem RKI nicht gefällt, verstehe ich durchaus. Aber berichten müßten sie es dennoch. Andernfalls kann ich nur davon ausgehen, daß sie mir neben dieser einen Sache, die ich weiß, noch einen Haufen anderer Dinge verschweigen, die ich eigentlich ebenfalls wissen sollte und nur deshalb nicht erfahre, weil sie ihnen aus welchen Gründen auch immer ebenfalls nicht gefallen. Vertrauenswürdigkeit funktioniert anders, also vertraue ich ihnen natürlich nicht.

Die Beweggründe, die bei so etwas meiner Meinung nach zum Tragen kommen, bewegen sich in dem religiösen Denkmuster von Sünde, Strafe, Buße und Erlösung, das in der Wissenschaft gar nichts zu suchen hat. Ich habe sogar den Verdacht, man ist in den einschlägigen Kreisen aus diesem moralisch unterfütterten Denken heraus insgeheim etwas enttäuscht darüber, daß Raucher - die nach innerer Logik der Krankheit ja theoretisch stärker gefährdet sein müssen - in Wirklichkeit sogar seltener als Nichtraucher sterben, weil man irgendwie empfindet, sie hätten das höhere Sterberisiko doch eigentlich auch verdient. Wissenschaftlich gedacht ist das natürlich ebensowenig, wie es ethisch akzeptabel sein sollte. Als Wissenschaftler müßte man sich eigentlich dafür interessieren, was an dieser inneren Logik man falsch gedeutet hat, wenn das Ergebnis so anders ausfällt als erwartet.

Ein weiteres Beispiel, das mir zu dieser moralisch unterfütterten Denkweise einfällt, ist Billigkleidung, ein Thema, über das ich mich regelmäßig mit Freunden streite. Daß in Bangladesh die Textilarbeiterinnen ausgebeutet werden, ist mir dabei keineswegs egal. Mich irritiert aber, daß alle Welt glaubt, dieses Problem ließe sich lösen, wenn wir nur alle so tugendhaft wären, keine billige Kleidung mehr zu kaufen. 

Das halte ich in mehrfacher Hinsicht für einen Trugschluß.

Erstens produzieren praktisch alle Textilketten in asiatischen und neuerdings auch afrikanischen Billiglohnländern, nur kalkulieren die Billiganbieter nach dem Ikea-Prinzip eine niedrigere Gewinnspanne als die teuren und verdienen ihr Geld durch die größere Menge verkaufter Teile. Zweitens blieben einem deshalb, wenn man Bangladesh und vergleichbare Länder beim Textilienkauf unbedingt vermeiden wollte, nur noch ein paar Nischenanbieter wie Trigema. Aber drittens, und das finde ich am allerwichtigsten, bezweifle ich ernstlich, daß die Textilarbeiterinnen von Bangladesh glücklich darüber wären, wenn solche Kampagnen erfolgreich wären, weil sie dann ihren Job verlieren würden. Die Massenentlassungen dort, als wegen Corona plötzlich die meisten Textilketten Aufträge in Bangladesh stornierten, wurden in den Medien, die sonst immer Wortführer der Kampagnen gegen Kleidung aus Bangladesh waren, plötzlich auch nicht mehr für gut gehalten. 

Nüchtern betrachtet, sind die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse in der Textilindustrie für die Arbeiterinnen in Bangladesh eben immer noch eine Verbesserung im Vergleich zu ihrer vorherigen Situation. Wäre es anders, würden die Textilfirmen dort keine Mitarbeiter finden. Und es führt dazu, daß ein Boykott solcher Kleidung für sie eine Verschlechterung bedeutet. Das bedeutet nicht, daß die aktuellen Verhältnisse achselzuckend akzeptiert werden sollten, nur führt der Weg, den die meisten, durch einschlägige Medienberichte beeinflußt, für den moralisch gebotenen halten, für die betroffenen Arbeiter nur zu einer Verschlechterung ihrer Situation.

Ich begreife es einfach nicht, wieso die moralische Verantwortung für das vorhandene Angebot immer der Nachfrageseite aufgebürdet wird, wie das ja auch bei billigen Lebensmitteln ist. Richtig ist es natürlich, daß jeder Händler, der hier verkauft, dafür verantwortlich sein muß, daß seine Lieferanten, egal, wo auf der Welt sie produzieren, die definierten Minimalstandards gegenüber ihren Beschäftigten einhalten. Das ist die Stelle, wo man ansetzen muß und wo man Druck auf die Politik ausüben kann und sollte. Diese Standards so zu definieren und sie durchzusetzen, so daß man sich als Käufer darauf verlassen kann, daß sie eingehalten werden, ist nämlich eine staatliche Aufgabe. Als Käuferin weigere ich mich aber, dafür verantwortlich gemacht zu werden, wenn der Staat dieser Aufgabe nicht nachkommt. Wenn ich etwas zum Anziehen kaufe, dann erwarte ich, daß solche Fragen bereits im Vorfeld geklärt wurden.

Was ich besonders ärgerlich finde, ist, daß so viele Leute mit wenig Geld sich unter moralischem Druck gesetzt fühlen, teurere Kleidung zu kaufen, als sie sich eigentlich leisten können. Daß diese Sachen oft in der gleichen Fabrik hergestellt wurden als die Billigklamotten, ist den wenigsten von ihnen bewußt. 

Ich selbst hatte noch nie Bedenken, bei Billiganbietern wie Bon Prix meine Kleidung zu kaufen. Gerade jetzt sehe ich es außerdem noch weniger ein, viel Geld für Klamotten auszugeben, wo ich ohnehin ständig auf kleinere Größen wechseln muß. Andererseits habe ich aber auch kein Problem damit, einmal mehr Geld auszugeben, wenn es um etwas Besonderes geht. Ich besitze etwa eine handgehäkelte Weste, für die alleine das Material 50 Euro gekostet hat. Dafür habe ich ein ganz individuelles Stück bekommen, das einfach perfekt ist. Zu den vielen Hobbys, die ich wohl für den Ruhestand aufschieben muß, zählt es, auch einmal zu versuchen, mir meine Kleidung selbst zu nähen. Wahrscheinlich würde ich es lernen, wenn ich mir dafür die nötige Zeit nehmen würde. Brot backen habe ich ja auch problemlos gelernt. Das Problem dabei ist nur, daß bei mir so viele Interessengebiete um so wenig Zeit konkurrieren.

Wenn ich mein Zielgewicht einmal erreicht habe und davon ausgehen kann, daß sich meine Figur nicht mehr stärker verändert, kann ich mir durchaus vorstellen, mir meine Kleidung auch maßschneidern zu lassen und dafür entsprechend Geld auszugeben. Ich bin kein Shopaholic, mir ist es immer am liebsten, wenn meine Sachen von solider Qualität sind und lange getragen werden können. Bei Kleidung von der Stange ist das meiner Erfahrung nach reine Glückssache, und zwar völlig unabhängig vom Kaufpreis und der Marke. Es ist also nicht so, daß es bei mir unbedingt Kleidung made in Bangladesh sein muß. Was ich aber gar nicht einsehe, ist dieses hochmoralische Getue, das meines Erachtens einfach keine Faktengrundlage hat. Genauso wie beim "ungesunden" Essen.


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