Montag, 15. Juni 2020

Warum Vorurteile unvermeidlich sind

Mein Gewicht heute morgen: 101,5 Kilogramm. Hört sich besser an, als es eigentlich ist, denn normalerweise hätte ich erst morgen meinen ersten Fastentag der Woche gehabt, aber weil die letzte Woche recht enttäuschend verlaufen ist, habe ich mich entschieden, bis auf weiteres auch in den Frühschichtwochen meines Mannes drei Tage zu fasten, bis ich endlich stabil und dauerhaft unter die 100 Kilo gekommen bin. Ich spiele gerade außerdem mit dem Gedanken, nächste Woche wirklich einmal die ganze Woche durchzufasten, also von Montag bis Freitag, wobei ich aber am Freitag vermutlich schon abends eine Kleinigkeit essen werde, um am Samstag vernünftig frühstücken zu können, ohne daß meine Verdauung sofort einen Salto schlägt.

Aber ob ich das wirklich machen werde, habe ich noch nicht definitiv entschieden.

Ansonsten beschäftigt mich gedanklich gerade vor allem die aktuelle Rassismus-Debatte, in der meinem Gefühl nach einiges aus dem Ruder gelaufen ist.

Die Proteste in den USA finde ich dabei durchaus einleuchtend, auch wenn ich mich frage, wie sehr sie die dortige bedenkliche Corona-Situation verschlimmern könnten. Die "Black Lives Matter"-Bewegung, unter deren Namen das läuft, hat dabei allerdings das wahrscheinlich unverdiente Pech, daß sie mir zum ersten Mal bei einer Gelegenheit richtig aufgefallen war, in der sich manche ihrer Aktivisten nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben. Die hatten nämlich irgendeine Online-Kampagne just zu der Zeit, als die Terroranschläge von Paris die Welt erschütterten. Während Twitter überlief vor Trauerbekundungen und Entsetzen sah ich auch Tweets von BLM-Aktivisten, die sich in ziemlich weinerlichem Ton darüber beschwert haben, daß nun ihr Anliegen zu wenig Aufmerksamkeit erlangte. Das schien mir bemerkenswert unempathisch für jemanden, der von anderen für die eigenen Anliegen Empathie verlangt.

Im Kopf weiß ich genau, daß diese Tweets die BLM-Bewegung nicht ausmachen, aber das ändert nichts daran, daß sie bis heute das erste sind, was mir einfällt, wenn ich höre oder lese "Black Lives Matter". Es ist ein Ausdruck meiner Vorurteile, allerdings dennoch kein Rassismus, denn diese Vorurteile hängen nicht mit Hautfarbe, sondern mit meiner generell eher reservierten Haltung gegenüber Massenbewegungen zusammen. In allen weltanschaulichen Bewegungen gibt es meiner Beobachtung nach einen Hang dazu, daß die radikalsten Ansichten und die skrupellosesten Akteure sich mittelfristig durchsetzen, weshalb ich zum Beispiel auch gar nicht unglücklich darüber bin, daß man mittlerweile nicht mehr allzu viel von Fridays for Future hört.

Besonders irritierend finde ich aber, was für Diskussionen über Rassismus in Deutschland ausgelöst wurden.

Wir haben beim Thema Rassismus ein Definitionsproblem, das mir erst vor ein paar Jahren bewußt wurde, als ich in einer Diskussion erkannte, daß mein Kontrahent und ich von völlig verschiedenen Definitionen von Rassismus ausgegangen waren und deshalb total aneinander vorbeiargumentiert hatten. Rassismus, das habe ich damals gelernt, drückt jedes Vorurteil gegenüber Menschen anderer ethnischer Herkunft aus, unabhängig von den Absichten, mit denen sie geäußert werden, und sogar unabhängig von der Frage, ob sie überhaupt irgendeine Wirkung erzielen. Theoretisch könnte es sogar ein "positives Vorurteil" sein, also indem man einer bestimmten Ethnie unterschiebt, sie unterscheide sich positiv von Menschen anderer Herkunft.

Das Problem ist, diese Art von Rassismus - wenn man dies als die korrekte Definition von "Rassismus" akzeptiert - kann man gar nicht sinnvoll bekämpfen, und deshalb sind entsprechende Forderungen von vornherein sinnlos. Vorurteile sind eine notwendige Vorstufe von Urteilen, sozusagen die Arbeitshypothese der Einzelperson über alles, was sie nicht aus eigener Erfahrung kennt, worüber sie aber schon gehört oder gelesen hat. Erst die persönliche Erfahrung verändert das Vorurteil zu einem echten Urteil.

Wenn also ein in Deutschland geborener Schwarzer ständig gefragt wird, wo er herkomme, hängt das damit zusammen, daß in Deutschland geborene Schwarze seltener zum Repertoire der persönlichen Erfahrungen gehören als Schwarze, die aus anderen Ländern eingewandert sind. Bekommt der Frager die Antwort, man sei in Deutschland geboren, hat man sein Erfahrungswissen also verändert.

So gut ich verstehen kann, daß diese Frage die Betroffenen nervt, die Dramatisierung solcher Erfahrungen leuchtet mir nicht ein. Vergleichbare Dinge passieren ja auch Weißen, die auf irgendeine andere Weise "anders" sind, von Rollstuhlfahrern über Kleinwüchsigen bis hin zu stark Übergewichtigen. In meiner Kindheit ging mir das auch als Brillenträgerin noch so. Ich bin kurzsichtig und bekam meine erste Brille schon in Klasse 1, als sich herausstellte, daß ich Wörter auf der Tafel nicht entziffern konnte. Bis zum Ende meiner Schulzeit war ich immerhin nicht mehr die einzige Brillenträgerin in der Klasse, aber blöde Sprüche mußte ich mir noch mit 16, 17 Jahren anhören. Ein paar Jahre später war die Sache dann gekippt, Brillen wurden von einem medizinischen Hilfsmittel zu einem modischen Accessoire, und manche Leute trugen sogar Brillen mit Fensterglas, weil sie auf das Accessoire Brille nicht verzichten wollten.

Eine Nachbarin, die ca. zehn Jahre älter ist als ich, hat mir überzeugend und glaubwürdig davon erzählt, wie sie als Kind darunter gelitten hat, daß sie rothaarig war, weil sie gnadenlos deswegen gehänselt wurde. Das war mir selbst schon ganz fremd; irgendwann in der Hippiezeit war Henna ja in Mode gekommen und damit hörten rote Haare auf, aus dem Rahmen des Üblichen zu fallen. Andererseits hätte sie auch einen noch viel schlechteren historischen Zeitpunkt erwischen können, um rothaarig geboren zu werden, denn im Zeitalter der Hexenverfolgung wäre sie mit roten Haaren wohl ein paar Grade gefährdeter als andere Frauen gewesen, ins Fadenkreuz der Inquisition zu geraten.

Was man ganz bestimmt nicht abschaffen kann, ist, daß das auffallend andere als anders auffällt. Ein Deutscher schwarzer Hautfarbe fällt als "anders" auf, weil die Mehrheit weiß ist. Wo Schwarze ein vergleichsweise seltener und deshalb ungewohnter Anblick sind - also in Großstädten mittlerweile eher nicht mehr so sehr, aber je ländlicher die Gegend, desto wahrscheinlicher -, ziehen sie auch neugierige Blicke auf sich und bekommen Fragen gestellt, die ihnen dumm vorkommen können. Genau dasselbe passiert auch Weißen in Asien oder Afrika in Gegenden, die keine Tourismushochburgen sind, das kann man jeden x-beliebigen Rucksacktouristen oder Expat fragen. Und solange Schwarze typischerweise aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind, wird auch die Frage nach der Herkunft nicht auszurotten sein, egal wie lästig sie den Betroffenen fällt.

Es ist auch nicht möglich, zu verhindern, daß dies – was sicherlich keine Seltenheit ist, und ich begreife auch, daß das unangenehm ist – auf dümmliche Weise geschieht. Die Bevölkerungsmehrheit ist meiner Erfahrung nach von vornherein außerstande, außerhalb ihres gewohnten Bezugsrahmens besonders intelligent zu reagieren, und davon betroffen sind auch nicht exklusiv Schwarze. Fragen Sie dazu gerne jeden x-beliebigen Rollstuhlfahrer – oder einen stark Übergewichtigen. Deswegen halte ich solche Leute weder für dumm noch für böse; in dem Rahmen, mit dem sie vertraut sind, sind die meisten der Leute, die ich hier meine, weder das eine noch das andere. Schwierigkeiten entstehen nur außerhalb dieses Rahmens. Das ist eine Gegebenheit, die man einfach als vorhanden anerkennen und sie aushalten muß; sie vergeht nämlich nicht, nur weil im Chor ultimativ verlangt wird, daß sie auf der Stelle aufhören müsse.

Ich fände es besser, die heute als verbindliche geltende Definition von "Rassismus" so zu verändern, daß sie nicht dazu führt, daß im hohen moralischen Ton ständig unerfüllbare Forderungen wie die gerade beschriebenen damit verknüpft werden. Denn weder offener oder versteckter Rassenhaß noch strukturelle Benachteiligungen sind etwas, was wir als Gesellschaft einfach hinnehmen sollten. Mir fehlt hier ein Sinn für Prioritäten, wenn sich die Leute ausufernd über läppischen Kram wie die Frage nach der Herkunft beschweren, die lästig, aber unter dem Strich harmlos sind. 

Ich oute mich hiermit selbst in einer weniger harmlosen Frage als einen Rassisten, nämlich in meiner Eigenschaft als Vermieterin. Um das zu erklären, muß ich ein bißchen weiter ausholen:

Als Vermieterin bin ich „vom alten Schlag“: Mit mir kann man nicht nur per Handschlag Vereinbarungen treffen, ich verlange auch weder Verdienstnachweis noch Schufa-Auskunft und noch nicht einmal eine Kaution, ich gehe nämlich davon aus, daß die Zahlungsfähigkeit gegenüber der Zahlungswilligkeit eine nachrangige Frage ist, also interessiere ich mich vor allem für letztere.

Wenn ich eine Wohnung vermiete, entscheide ich – neben meinem „Näschen“ für den richtigen Bewerber – normalerweise nach dem Kriterium, welcher der Bewerber den größten Vorteil davon hat, speziell diese Wohnung mieten zu können, weil ich davon ausgehe, daß genau dieser Mieter im Zweifelsfall alle Hebel in Bewegung setzen wird, um irgendwie das Geld für die Miete aufzutreiben, wenn es bei ihm finanziell einmal klemmt. Damit bin ich jetzt auch zwanzig Jahre lang gut gefahren, obwohl mir klar ist, daß ich irgendwann auch mal den berühmten Griff ins Klo machen kann. Denn natürlich gibt es Leute, die mit Großzügigkeit und Entgegenkommen nicht umgehen können und sich einbilden, dies sei eine Einladung, mit einem Schlitten zu fahren. (Bislang hatte ich noch nie einen solchen Mieter, aber sollte sich das ändern, wird er rasch merken, daß ich auch ganz anders kann, und er wird es ziemlich schnell bereuen, mich unterschätzt zu haben.)

Mein strukturelles Rassismusproblem als Vermieter lautet: Ich fühle mich außerstande, Menschen sicher genug einzuschätzen, deren kultureller Background meinem nicht ähnelt, und selbstverständlich ist das für ausländische Bewerber ein erheblicher Nachteil. Nur, diesen Nachteil kann ich nicht ändern.

Bei allem Respekt, ich vermiete nicht, weil ich anderen damit möglichst viel Gutes tun will, sondern diese Wohnungen sind Bestandteil meiner Altersvorsorge; noch habe ich einen Haufen Schulden, für die ich pünktlich Zins und Tilgung leisten muß, und wenn alles so läuft, wie ich das geplant habe, stehen mir, wenn ich mich zur Ruhe setze, die Mieteinnahmen für meinen Lebensunterhalt zur Verfügung. Sollten die damit verbundenen moralischen Ansprüche gegen mich - die ich, siehe oben, grundsätzlich berechtigt finde - mich meinem Empfinden nach über Gebühr benachteiligen, würde ich meine Wohnungen verkaufen und meine Altersvorsorge irgendwie anders regeln.

Das heißt, die berechtigten Interessen des Mieters und meine berechtigten Interessen müssen unter einen Hut gebracht werden können, damit ich bereit bin, mit ihm ein Vertragsverhältnis einzugehen. Dabei ist mein zentrales Kriterium, daß ich die Sache am liebsten so unkompliziert wie möglich haben möchte. Ich vermiete nicht zu Wucherpreisen, sondern bleibe innerhalb des Rahmens, den der Mietspiegel gibt, aber mir ist ein Mieter dann natürlich auch am liebsten, der nicht wegen jedes tropfenden Wasserhahns bei mir auf der Matte steht, sondern sich - in einem vertretbaren Rahmen - auch ein bißchen selbst zu helfen weiß. Daneben möchte ich natürlich meine Miete regelmäßig und pünktlich haben, und ich möchte auch keine ständigen Beschwerden der Nachbarn über meinen Mieter.

Komme ich zu dem Schluß, daß jemand diese Kriterien erfüllt, sind mir Hautfarbe, Herkunft, Alter und Geschlecht egal. Allerdings vermitteln Männer deutscher Herkunft diesen Eindruck häufiger überzeugend als andere Mietinteressenten. Das ist einfach so, ich kann's nicht ändern, und meine bislang einzige weibliche Mieterin hat meine Vorurteile durch komplette handwerkliche Hilflosigkeit eher noch verschlimmert. Daß ich ihr manchmal keinen Handwerker bestelle, sondern ihr ein YouTube-Video mit einer Anleitung für Anfänger schicke, wenn bei ihr in der Wohnung irgendeine harmlose Kleinigkeit nicht funktioniert, hat sie inzwischen gelernt.

Das alles hat mich aber nicht daran gehindert, vor einigen Jahren eine Wohnung an einen afghanischen Flüchtling zu vermieten, der bis dahin im Flüchtlingswohnheim gelebt hatte. Diesen Mieter hatte mir mein Mann empfohlen, der von ihm als neuen Arbeitskollegen rasch eine hohe Meinung bekommen hatte. Nach mehreren Jahren kann ich ein Zwischenfazit ziehen: Es gibt im Umgang mit ihm schon so ein gewisses kulturelles Dingens, das ein paar Reibungsflächen bietet. Aber im Großen und Ganzen funktioniert die Sache gut, also will ich nicht meckern. Was Vermieter in Deutschland anders haben wollen als in Afghanistan, lernt man am besten nach der Methode Learning by doing, und dafür braucht man erst einmal einen ersten Vermieter. Der bin jetzt halt ich. Den Mehraufwand, den mich das im Vergleich zu meinen sonstigen Mietverhältnissen gekostet hat, schenke ich unserer Gesellschaft, denn für die ist mein Mieter meiner Meinung nach ein Gewinn.

Was lernen wir daraus über strukturellen Rassismus? Persönliche Beziehungen schlagen die Strukturen, genauso, wie sie auch Vorurteile in Urteile verändern können. Strukturen wie Vorurteile verändern sich, aber nicht von alleine und auch nicht, indem man sich möglichst laut über sie beschwert, sondern dadurch, daß ihre Anpassung sich als sinnvoll herausstellt. Wenn genügend Leute die persönliche Erfahrung gemacht haben, daß ihnen bislang unbekannte Schwarze häufig fließend Deutsch sprechen, in Deutschland geboren und/oder deutsche Staatsbürger sind, liegt die Frage nach Herkunft einfach nicht mehr nahe; bis dahin müssen die davon Betroffenen solche Fragen meiner Meinung nach aushalten. Wer keine gravierenderen Beschwerden über selbst erlebten Rassismus vorzubringen hat, der hat nur ein Luxusproblem, das er meiner Meinung nach genauso aushalten kann wie ich die Reibungsverluste in meinem Mietverhältnis.


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