Mittwoch, 20. Mai 2020

Zahlen als Zauberformeln: Warum Wissenschaft unwissenschaftlich sein kann (und oft genug auch ist)

Mein Gewicht heute morgen zu Beginn des zweiten Fastentags dieser Zweier-Serie: 99,9 Kilogramm. Minus knapp über zwei Kilogramm im Vergleich zu gestern, das ist okay. Morgen werde ich wohl wieder knapp über der 98 herumkrebsen. Das macht aber nichts, denn ich habe schon am Samstag endlich diese gläserne Decke durchbrochen und bin mit 97,3 Kilogramm endlich unter 98 gelandet. Irgendwie sind meine Wochenenden in letzter Zeit so voll mit anderen Aufgaben, daß ich es nicht geschafft habe, aus diesem Anlaß sofort einen Blogartikel zu schreiben.

Und eigentlich habe ich heute auch keine Zeit dafür, aber irgendwie stoße ich schon den ganzen Tag immer wieder mit der Nase darauf, daß Zahlen, von denen man ja eigentlich meinen sollte, sie seien klar, eindeutig und verläßlich, von vielen Menschen auf eine - finde ich - ganz merkwürdige Art verstanden werden, und ich muß mal versuchen, in Worte zu fassen, was ich daran so irritierend finde. Auch wenn das nun ein weiterer Corona-Post wird. Grundsätzlich sehe ich dasselbe Problem auch in anderen Bereichen. Auch die Zahl auf der Waage ist ja ein abstrakter Wert, der ideologisch genug aufgeladen ist, um auch mich emotionale Höhenflüge und depressive Anwandlungen erleben zu lassen. Und das, obwohl ich zu der Minderheit derer gehöre, die im Prinzip ganz genau wissen, daß das ein Riesenquatsch ist. 

In meiner Abnehmhistorie waren es immer die "runden" Zahlen, die emotionale Bedeutung hatten. Zehn Kilo Abnahme, zwanzig, dreißig ... und daß ich jetzt kurz vor der fünfzig stehe, natürlich auch. Mir ist es wichtig genug, diesen Wert möglichst rasch zu erreichen, daß ich nächste Woche eine weitere Zwei-mal-zwei-Woche geplant habe. Ebenso verdrießt es mich in letzter Zeit, seit ich regelmäßig von der Waage ein Gewicht unter 100 Kilogramm angezeigt bekomme, wenn ich wieder über 100 bin, und es ist für mich jetzt auch zum dringenden Teilziel aufgerückt, das möglichst rasch nicht mehr zu erleben. Dabei ist es eigentlich totaler Blödsinn, sich so auf einen abstrakten Wert zu fixieren, den mir die Waage anzeigt und dessen alltägliche Schwankungen ja nicht nur von Zu- und Abnahme des Speicherfetts künden können, sondern auch von Wassereinlagerungen oder vom Füllungsgrad von Magen und Darm. Daneben kann parallel zum abgebauten Fett auch Muskelmasse aufgebaut worden sein.

Fitnessfanatiker werden es nicht glauben, daß Muskelmasse auch ohne Sport aufgebaut werden kann, aber da beim Fasten mehr Wachstumshormone ausgeschüttet werden (und gerade bei mehrtägigen Fastenintervallen noch stärker), ist das durchaus nicht ausgeschlossen. Körperliche Veränderungen wie mein über Winter um sechs Zentimeter geschrumpfter Brustumfang trotz ausbleibender Gewichtsabnahme zeigen ja deutlich, daß eine Veränderung stattgefunden haben muß.

Eigentlich ist meine Kleidung ein viel präziserer Indikator dafür, ob das Fasten die gewünschte Wirkung hatte oder nicht. Wenn die Hose plötzlich schwerer zugehen würde, wäre das (sofern ich mich nicht gerade bis zum Platzen vollgegessen habe und es einfach am vollen Bauch liegt) ein schlechtes Zeichen, daß ich meine im Januar noch deutlich zu knappe und beim Anziehen unmöglich an mir aussehende rote Kunstlederjacke jetzt trage und mich in ihr wohlfühle und mein Spiegelbild dann auch erfreulich finde, ist ein gutes Zeichen.

Auch Corona hat bei mir den Eindruck hervorgerufen, daß Zahlen - auch wenn sie nicht lügen - von Fachleuten wie Laien häufig nicht richtig verstanden werden, und meiner Meinung nach hat das etwas damit zu tun, daß alle zu glauben scheinen, wenn man nur die echte, akkurate absolut bis auf die letzte Nachkommastelle zutreffende Zahl herausgefunden hätte, dann könnte man gleichzeitig auch die Lösung für das zu lösende Problem finden. Immer mehr komme ich - auch in anderen Bereichen - aber zu der Auffassung, daß diese Detailfixiertheit eher ein Hindernis bei der Gewinnung von Erkenntnissen ist. Diese Erkenntnisse sollen ja dafür gut sein, nicht in einer abstrakten Berechnung, sondern in einer mit unzähligen und größtenteils von vornherein auf keine Weise zu klärenden Variablen versehenen Realität bestimmte erhoffte Wirkungen erreichen. Was als Grundlage für jede denkbare praktische Anwendung benötigt wird, ist eigentlich nur die Gewißheit, daß die grobe Richtung stimmt, und dies ist in Wirklichkeit alles, was sich durch epidemiologische Erkenntnisse bestimmten lassen kann, und auch das nur, wenn bei der Forschungsarbeit auch wirklich die richtigen Fragen gestellt wurden (ist das nicht der Fall, mögen die Antworten zwar korrekt sein, aber sie sind nicht relevant).

Alles Weitere wäre dann nicht mehr Sache einer Wissenschaft wie der Epidemiologie, bei der es per se immer um Durchschnittswerte aus vielen Fällen geht, sondern das müßte dann auf Basis der jeweils einzelnen Person herausgefunden werden.

Bei Corona gibt es in keinem Bereich eine exakt ermittelbare Zahl. Die Zahl der Infizierten versteht sich zusätzlich einer Dunkelziffer, die per se nicht exakt bestimmbar ist, und die auch in jedem Land und möglicherweise sogar in jeder Region, Stadt oder jedem Dorf wahrscheinlich besonders stark davon abhängt, wieviele Tests durchgeführt wurden, und das ist ganz unterschiedlich.

Die Zahl der Todesfälle enthält möglicherweise nicht nur "Todesfälle durch Corona", sondern auch Todesfälle von Infizierten, die aber an etwas anderem gestorben sind. Umgekehrt ist aber auch mit Todesfällen zu rechnen, bei denen die Coronainfektion gar nicht erkannt wurde, und die Statistiken der Todesfälle (aus allen Todesursachen) zeigt in praktisch jedem Land der Welt, daß während der Corona-Epidemie eine deutlich höhere Übersterblichkeit (also: mehr Todesfälle, als in den Vorjahreswochen oder -monaten durchschnittlich verzeichnet wurden), als sich alleine durch die Zahl der Coronatoten ergeben würde. Vorhin las ich, daß sich aus der Todesfallstatistik in Schweden für den Monat April eine Differenz von immerhin 1000 zusätzlichen Todesfällen ergibt. Aber das ist kein spezifisch schwedisches Problem, es ist überall so.

Die Fixiertheit auf bestimmte als exakt verstandene Einzelwerte, etwa auch den berüchtigten "R-Wert" ergibt alleine deshalb schon keinen richtigen Sinn. Der R-Wert ist, wie auch das RKI klar sagt, eine Schätzung. Es spielt deshalb in Wirklichkeit gar keine Rolle, ob er heute bei 0,99 und morgen bei 1,03 liegt, worüber in den Medien manchmal überflüssigerweise ganz aufgeregt seitenlang berichtet wurde.

Der R-Wert bekommt seine Bedeutung nicht als exakte Zahl mit zwei Nachkommastellen, sondern in Zusammenhang mit zwei anderen Werten:

1) der Zahl der aktuell (bekannten) Infizierten. Je höher diese Zahl, desto gefährlicher ein R-Wert über 1. (Und je weniger getestet wird, desto bedenklicher eventuell die unbekannte Zahl der tatsächlich Infizierten)
2) dem Zeitverlauf der letzten Tage (mindestens drei oder vier).

Was man daran erkennt, sind nur die Tendenzen, ob die Richtung, in die sich die Sache bewegt, gut oder schlecht ist. Und auch dann darf man seinen gesunden Menschenverstand nicht einfach abschalten und nur auf die Zahlen starren.

Je länger und je deutlicher der R-Wert über 1 liegt, desto eher besteht ein Grund zur Sorge. Schwankt der R-Wert über längere Zeit hinweg um den Wert 1 herum, ist das kein Grund zum Jubeln, aber auch kein Grund, sich große Sorgen zu machen: Die Zahl der momentan Infizierten bleibt ungefähr gleich, weil immer ungefähr genauso viele Neuinfektionen dazukommen, wie von der Krankheit genesen oder gestorben sind. Liegt der R-Wert längere Zeit deutlich unter 1, bedeutet das, daß die Zahl der Genesenen und Verstorbenen höher liegt als die Zahl der Neuinfektionen. Die Zahl der aktuell Infizierten geht also zurück. Je weniger Infizierte, desto weniger schwere Erkrankungen und desto weniger Todesfälle sind zu erwarten.

Aber je niedriger die Zahl der Infizierten, desto stärker können die Ausschläge von Tag zu Tag sein, und umso wichtiger wird es, die Gründe für einen Ausreißer nach oben zu kennen, anstatt sich nur über die nackte Zahl zu entsetzen. Ist die Anzahl der Neuinfektionen über das ganze Land verteilt, oder gab es einen bestimmten Ausbruchspunkt, wo sich viele Menschen auf einmal angesteckt haben, wie zum Beispiel die jüngst schwerpunktmäßig getesteten Mitarbeiter von Schlachthäusern? Und wie weit hat sich das Virus über diesen Ausbruchspunkt anderswohin verbreiten können? Ich habe das in den letzten Tagen nicht verfolgt, aber angesichts der immer noch bestehenden Beschränkungen könnte ich mir vorstellen, daß speziell diese Infektionen - die einen großen Teil der Neuinfektionen ausmachen - eine so geringe Verbreitungswirkung über den betroffenen Betrieb hinaus haben, daß der R-Wert, in dem sie mit einbezogen wurden, in Wirklichkeit ein gutes Stück niedriger ausfallen könnte, wenn er das Ansteckungsrisiko für die Allgemeinheit möglichst genau abbilden sollte.

Nur, Zahlen umfassen nun einmal nie die ganze Realität, und umgekehrt halte ich es für sinnlos, die komplette Wahrheit in Zahlen hineinquetschen zu wollen, denn sie paßt da beim besten Willen nicht rein.

Zahlen fand ich schon immer faszinierend. Ich lese gerne Statistiken und finde sie manchmal spannender als jeden Krimi. Sie erzählen mir ganze Geschichten. Aber dafür muß ich sie in die Realität zurückübersetzen, ich muß sehen, was in der Realität wirklich ist, und die Zahlen dazu in einen Zusammenhang bringen. Das wiederum bedeutet, daß die nachkommastellengenaue Zahl zu etwas plötzlich merkwürdig Vagem, Verschwommenem werden kann, etwas, das von verschiedenen Blickwinkeln her betrachtet ganz unterschiedlich aussehen kann. Das macht für mich einen Teil des Reizes von Zahlen aus. Ich finde es furchtbar irritierend, daß Anhänger und Gegner der Coronabekämpfungsmaßnahmen, darunter nicht nur Laien, sondern auch Fachleute, oft auf genau die gleiche Weise falsch argumentieren, indem sie Zahlen kurzerhand wie Zauberformeln verwenden. Wir leben nun einmal in keiner mathematischen Formel, und ich bin auch keine Nachkommastelle in einer Statistik.

Das ist, wie gesagt, kein spezielles Corona-Problem, und es beschränkt sich auch nicht auf medizinische Fragen, aber ich empfinde es im medizinischen Bereich als besonders störend, weil ich es nicht ausstehen kann, wie eine Nummer behandelt zu werden. Wahrscheinlich war das einer der Gründe dafür, daß ich so lange keine Waage besessen habe. Aber jetzt, wo ich sie habe, beeinflussen mich die Zahlen, die ich von ihr erfahre. Und ich bin bekennender Groschenromanleser: Die Geschichte, die mir diese Zahl erzählt, gefällt mir immer viel besser, wenn sie ein Happy End hat.









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