Donnerstag, 7. Mai 2020

Neue Normalitäten, ethische Grundsätze und kritisches Hinterfragen der Kritiker

Mein Gewicht heute früh zum Start des zweiten zweitägigen Fastenintervalls aus einer Serie von fünfmal zwei aufeinanderfolgenden Fastentagen: 100,5 Kilogramm. Begonnen hatte ich am Montag mit 103,2 Kilogramm, gestern früh waren es 98,7. Die Folgen der "Fastenferien" in Tateinheit mit den Covid-19-Ausgangsbeschränkungen habe ich also wieder eingefangen. Da ich erst die erste in einer Serie von fünf zweitägigen Fastenintervallen abgeschlossen habe, bin ich guten Mutes, daß ich bis spätestens nächste Woche wirklich endlich mal wieder einen neuen Tiefststand feiern kann.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, übernächste Woche das letzte Zwei-Tages-Intervall der aktuellen Serie auch gleich am Montag und Dienstag anzuschließen, aber es zeichnet sich ab, daß bei uns die Außengastronomie wohl ausgerechnet an diesem Montag öffnen wird. Deshalb werde ich es auf Dienstag/Mittwoch verschieben. Für den ersten Öffnungstag der Außengastro stehe ich bei meinem Lieblingslokal schon im Wort, bei dem ich in letzter Zeit auch regelmäßig Essen bestelle. Dann will ich zusammen mit meinem Mann dort essen und dazu ein, zwei Bier genießen. Vielleicht frage ich auch meinen Sohn, ob er mitkommen will.

Zwei sehr unterschiedliche Arten von Unternehmen müssen offenbar bis auf weiteres weiter noch geschlossen bleiben, nämlich die Kneipen und Bars, also reine Schanklokale ohne Speisenangebot und ohne Außenbereich (ich hoffe doch mal, auch Kneipen dürfen, sofern vorhanden, ihre Außenbereiche nutzen), aber auch die Fitnessstudios. Die Inbegriffe von Laster und Tugend nach heute üblicher Auffassung sind damit ironischerweise vereint in einer gemeinsamen neuen Rolle als potentiell besonders bedenkliche Infektionsschleudern.

Natürlich kann man diese Unternehmen nicht einfach kollektiv den Bach runtergehen lassen. Ich nehme an, für sie wie für alle anderen Branchen, die weiter ausharren müssen, wird es noch weitere Hilfen geben. Ich hoffe es jedenfalls, denn kein Unternehmen dürfte es überstehen, wenn es ein halbes oder gar ganzes Jahr lang gar kein Geld verdienen kann, wie das unter Umständen den Schaustellern oder Konzertveranstaltern droht.

Klar ist aber auch, daß die Gastronomie durch die jetzigen Lockerungen noch lange nicht auf ihre vorherigen Umsätze zurückkommen wird. Erstens wird sie qua Hygieneregeln nur ca. die Hälfte der vorhandenen Plätze besetzen können, und zweitens wird es mindestens in Bayern bis auf weiteres eine ziemlich frühe "Polizeistunde" um 20 Uhr geben. (Wie das anderswo wird, habe ich noch nirgends gelesen.) Deswegen - und auch, weil sich das bei uns wegen der Frühschicht meines Mannes anbietet - werden wir uns am Montag, dem 18.5., ein untypisch frühes "Abendessen" zu unserer eigentlichen Kaffeestunde um 15 Uhr gönnen, und sicherheitshalber werde ich dafür wohl reservieren. Am ersten Tag ist das bestimmt nötig, um einen Platz zu bekommen, falls das Wetter gut sein sollte. (Aber wenn nicht, kommen wir halt in der Regenjacke. Schirme sind dort ja vorhanden.)

Ich muß gestehen, ich kann nur sehr schwer einschätzen, wie schlimm die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie - weltweit gesehen und insgesamt - sein werden. Grundsätzlich glaube ich nicht, daß wir als Gesellschaft arm werden, denn der Bedarf an Gütern und Dienstleistungen verringert sich ja nicht. Allzu viele Arbeitslose sind bislang nicht dazugekommen, und die Kurzarbeit, prophezeie ich hier einmal, wird schon im Juni wieder auf Märzniveau sein und bis zum Herbst wieder normal, jedenfalls dann, wenn uns keine große zweite Infektionswelle trifft. Damit sollten die meisten Leute auch ebensoviel Geld wie zuvor ausgeben können, und da der Urlaub im Ausland dieses Jahr wohl ausfallen wird, sogar zusätzliche Ausgaben im Heimatland tätigen, durch die hoffentlich auch die ausbleibenden Urlauber aus dem Ausland zum Teil ersetzt werden. Je nach Branche, in der man tätig ist, wird es wohl schon noch längere Zeit finanziell spürbar sein. Was das betrifft, können wir uns glücklich schätzen: Bei meinem Mann wurde zwar zunächst Kurzarbeit angemeldet, aber dann nicht in Anspruch genommen, und mittlerweile ist die Auftragslage so gut geworden, daß sogar darüber nachgedacht wird, den Betriebsurlaub im Sommer zu streichen. Und bei mir ist auch nur eine kleine Delle bei den Aufträgen zu verzeichnen gewesen, mittlerweile läuft alles fast wieder wie normal.

So ähnlich wie bei uns sollte es auch in anderen EU-Ländern laufen; je nachdem, wie gut die Epidemie in den Griff bekommen wurde, in Tschechien einen Tick besser, in Italien eher schlechter, aber katastrophal werden die Auswirkungen in Europa wohl nirgends. Das unguteste Bauchgefühl habe ich für die USA, deren sozialpolitische Schwachstellen die Corona-Epidemie gnadenlos aufgedeckt hat und die noch dazu gerade so schlecht regiert werden, daß die Sache schlimmer als nötig wurde.

Das ist ganz interessant, denn wie die USA haben wir in Deutschland ja auch eine föderale Struktur, aber während sich das für die Amerikaner als problematisch erweist, habe ich bei uns eher das Gefühl, es ist eine Stärke. Künftig liegt die Verantwortung dafür, daß die Epidemie nicht aus dem Ruder läuft, ja bei den Ländern, aber mit vom Bund vorgegebenen Richtwerten: Wenn in einem Landkreis innerhalb von 7 Tagen mehr als 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner erfolgen, müssen sie gegensteuern, notfalls mit lokalen oder regionalen Shutdowns. (Falls sich diese Infektionen auf einen einzelnen Ausbruchsherd - etwa ein Pflegeheim - zurückführen lassen und die Sache keine weiteren Kreise gezogen hat, die eine Zurückverfolgung problematisch machen, darf aber auch, so hörte ich das gestern in der Pressekonferenz, davon abgesehen werden.) Das klingt für mich sehr vernünftig: Wenn einzelne Bundesländer zu "forsch" mit den Lockerungen waren, merken sie das als Erste und sind dann in der Pflicht, wieder gegenzusteuern. Gleichzeitig können sie das aber auf die Regionen beschränken, in denen die Probleme aufgetreten sind.

Mein genereller Optimismus, was die wirtschaftliche Frage betrifft, macht mich nicht blind dafür, daß manche Betriebe aufgrund ihres spezifischen Geschäftsmodells, wackeliger Finanzierung oder schieren Pechs und außerdem auch bestimmte Branchen als Ganzes wirklich die A****karte gezogen haben: Konzerte, Feste, aber auch Kongresse und Messen, Großveranstaltungen werden bis auf weiteres nicht stattfinden können, Flugreisen werden wohl noch lange sehr viel weniger unternommen werden, und wann man wieder eine Kneipe oder ein Fitnessstudio besuchen kann, steht momentan auch noch in den Sternen. Ich hatte ja kurioserweise meinen EMS-Vertrag zu Jahresbeginn gekündigt, und es hat nicht viel gefehlt, und ich hätte meine letzten Termine noch vor Corona hinter mich gebracht. Ich habe die zwei letzten Termine meines auslaufenden Vertrags noch bezahlt und mit dem Studio vereinbart, daß wir sie nachholen, sobald es wieder geht, wann auch immer das sein mag. Im Moment bin ich sogar am Überlegen, ob ich nicht als Geste der Solidarität wenigstens bis zum Jahresende - ohne einen Dauervertrag, sondern allenfalls mit einem automatisch auslaufenden Halbjahresmodell - weitertrainieren sollte. Immerhin bin ich dort acht Jahre lang gut betreut worden.

Und natürlich trifft es auch manche Einzelpersonen härter als andere, nicht nur die Inhaber und Angestellten solcher besonders hart getroffener Betriebe. Mir ist klar, was für ein Riesenglück ich habe, weil sich bei mir so wenig im Alltag verändert hat und ich nur über Klopapier, Mehl und Hefe zu schimpfen hatte, und auch das nur zeitweilig. Dabei denke ich nicht nur an die Partner und/oder Kinder von suchtkranken oder aggressiven Menschen oder an vereinsamte Pflegeheim-Bewohner, sondern auch an Eltern, die mit ihren Kindern quasi in der Wohnung eingesperrt sind und unter diesen Bedingungen im Homeoffice arbeiten und Homeschooling betreiben sollen. Aber auch beim Abnehmen kann der Shutdown einem die Pläne durchkreuzen, und auch in diesem Bereich habe ich unter dem Strich noch großes Glück gehabt, denn die kleine Zunahme zu Ostern war jetzt kein Drama für mich, obwohl ich sie nicht vorhergesehen hatte. Wer abnehmen will und dabei ein Fitnessstudio fest eingeplant hatte, traut sich möglicherweise mittlerweile gar nicht mehr auf die Waage, und auch wer vor Corona noch nicht ans Abnehmen dachte, stellt nach sieben Wochen "Quasi-Ausgangssperre" möglicherweise fest, daß er seine Hosen nicht mehr zukriegt. Aber auch wer wie ich fastet und damit vor Corona kein sonderliches Problem hatte, ist womöglich mit einer veränderten Alltagsroutine schlechter klargekommen als sonst.

In Summe werden die unzähligen kleinen, mittleren und großen Schäden, die dadurch entstanden sind, schon etwas ausmachen. Im Prinzip leuchtet es mir deshalb ein, wenn immer wieder die Frage aufpoppt, ob nicht vielleicht mit der Bekämpfung von Corona in anderen Bereichen mehr Schaden angerichtet wird, als durch Vermeidung von Krankheitsfällen vermieden wird. Diese Frage ist nicht nur berechtigt, ich habe sie in früheren Debatten sogar viel zu wenig vernommen, etwa als wegen des statistisch belegbaren Todes von weniger als einer einzelnen Person pro Jahr innerhalb der letzten 18 Jahre die Masernimpfung verpflichtend wurde oder in der Stickoxiddebatte eine fragwürdige Zahl von angeblich diesem Luftschadstoff zuzurechnender Todesfälle dazu genutzt wurde, um Stimmung für Fahrverbote zu machen. Die Heuchelei dabei habe ich in früheren Beiträgen schon angesprochen und gehe zu Ende des Beitrags noch einmal darauf ein.

Das Problem im vorliegenden Fall ist aber ein anderes: Solche kritischen Fragen laufen meistens auf die Milchmädchenrechnung hinaus, die bisher gezählten Todesfälle einer eventuell möglichen Zahl von Todesfällen gegenüberzustellen, die als Kollateralschaden der Corona-Bekämpfung entstehen, und das ist auf mehreren Ebenen falsch.

Falsch ist es zum einen deshalb, weil es weder auf der einen noch auf der anderen Seite nur um Todesfälle geht. Laut Robert Koch-Institut wurden 17 % aller Infizierten stationär behandelt, hatten also so schwerwiegende Krankheitssymptome, daß eine Selbstbehandlung zu Hause zu riskant schien. Das waren somit fast 30.000 Krankenhausbehandlungen. Mehr als ein Drittel der stationär Behandelten, nach aktuellem Stand über 12.000, mußten in die Intensivstation, und fast 3000, also jeder vierte Intensivpatient und jeder zehnte Krankenhauspatient mit Corona, ist dort verstorben. (Man beachte: Im Umkehrschluß bedeutet das, daß deutlich mehr als die Hälfte der aktuell knapp über 7200 Corona-Toten NICHT in einem Krankenhaus gestorben ist.)

Aber die bisher gezählten schwerwiegenden Krankheits- und Todesfälle - auch wenn jeder einzelne Corona-Tod eine persönliche Tragödie für den Verstorbenen, seine Freunde und Angehörigen war - sind ja genau wegen der als überdimensioniert kritisierten Maßnahmen so wenige geblieben. Ich bin zwar überzeugt davon, daß wir rückblickend erkennen werden, daß manche der Maßnahmen nur wenig Einfluß auf die Infektionsverbreitung hatten, aber welche das sein werden, kristallisiert sich erst jetzt langsam heraus.

Für jede nach heutigem Kenntnisstand wirksame Maßnahme, die nach Meinung der Kritiker hätte unterbleiben sollen, müßten sie deshalb auch eine entsprechend höhere Zahl Verstorbener UND schwerwiegend Erkrankter einschätzen, und das tun sie nicht, das zweite fällt sogar ganz regelmäßig unter den Tisch. Das mag nicht in allen Fällen bewußte Desinformation sein, denn wie schwierig es ist, von der Betrachtung statistischer Daten in die Realität und wieder zurück zu switchen, fiel mir erst heute morgen bei der Pressekonferenz des RKI wieder einmal auf, als eine Journalistin wahrhaftig behauptete, die Zahl der Infektionen in Deutschland steige gerade wieder an. Jeder, der Augen im Kopf hat, kann aber bei den Infektionszahlen eine deutliche Kurve im Wochenverlauf erkennen, die als Ursache hat, daß am Wochenende nicht von überall Zahlen gemeldet werden. Der höchste Wert innerhalb einer Woche wird meistens am Mittwoch vorgelegt, der niedrigste am Montag. Das ist in den meisten Ländern so ähnlich, deshalb ist es hochgradig irritierend, daß sogar die FAZ in ihrem Newsblog regelmäßig von irgendwelchen Ländern Anstiege meldet, die in Wirklichkeit gar keine sind.

Was ebenfalls von Kritikern gerne unterschlagen wird, sind die Kollateralschäden eines durch unterlassene Maßnahmen aus dem Ruder laufenden Infektionsgeschehens. Krebs-, Herz- und Schlaganfallpatienten, die momentan wegen Corona zögern, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen und vielleicht dadurch Schaden erleiden, würden sich ja nicht anders verhalten, wenn mehr Corona-Infektionen für akzeptabel gehalten und die Maßnahmen entsprechend gelockert würden. In Wirklichkeit würde dann genau dasselbe passieren, nur wäre die Behandlung derer, die wegen anderer Leiden als Corona doch ins Krankenhaus kommen, schlechter, als sie im Moment ist. Der Schaden würde sich also in diesem Bereich eindeutig vergrößern.

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, ein großer Polemiker vor dem Herrn, blickte bei der Schadenskalkulaton noch weiter über den nationalen Tellerrand, denn er meinte sinngemäß, man könne Vorerkrankte, deren weitere Lebenserwartung vielleicht nur noch ein halbes Jahr sei, eigentlich auch über die Klinge springen lassen, um "die Wirtschaft" nicht den Bach runtergehen zu lassen, wodurch dann in Entwicklungsländern Kinder sterben könnten. Da auf einen groben Klotz auch ein grober Keil gehört, bezeichne ich das jetzt mal nicht weniger polemisch als einen Vorschlag für "Euthanasie durch Unterlassen".

Palmer tut damit nicht nur "der Wirtschaft" zu viel der Ehre an, er unterliegt dabei auch neben dem oben beschriebenen noch einer ganzen Reihe weiterer Irrtümer: 
  • Erstens ist es nur ein Teil der Wirtschaft, auf deren Schicksal wir auf nationaler Ebene überhaupt so viel Einfluß haben. Shutdowns gibt es ja überall auf der Welt, in etlichen Nachbarländern sogar schärfer als bei uns, und die Folgen für die "Großen" in der Wirtschaft, ob nun bei uns oder in anderen Ländern, hängen nicht davon ab, ob speziell in Deutschland die Autohäuser eine Woche früher oder später öffnen. Damit hängt auch das Schicksal der Kinder in Entwicklungsländern davon nicht ab.
  • Zweitens bin ich der Meinung, unter den "Kleinen" in der Wirtschaft, vom Friseur über den Einzelhandel bis zur Gastronomie, müßte ein zuvor gesundes Unternehmen, das Zugriff auf die Soforthilfe und die weiteren Unterstützungen bekommen hat und das für seine Mitarbeiter Kurzarbeit in Anspruch nehmen konnte, zwei Monate Shutdown überstehen können. Analog zu Boris Palmers Aufrechnung von Menschenleben könnte man auch in den Raum stellen, daß die Unternehmen, die als Folge des Shutdowns ganz zumachen müssen, ebenfalls schon "Vorerkrankungen" gehabt haben müssen und mit jeder anderen unerwartet auftauchenden Schwierigkeit auch nicht mehr fertiggeworden wären. (Es mag nicht für jeden Einzelfall zutreffen, im Großen und Ganzen sollte das aber richtig sein.) Man darf getrost davon ausgehen, daß jedes dieser Unternehmen, dessen Angebot auf grundsätzlich ausreichende Nachfrage trifft, durch eine Neugründung ersetzt wird, die diesen Bedarf befriedigt. So tragisch es für die Inhaber der pleitegegangenen Unternehmen sein mag, "die Wirtschaft" trägt durch ihre Tragödie keinen Schaden davon und sie selbst haben in der Regel irgendwelche Optionen, um weiterzuleben, während ein toter Coronapatient weiterhin tot bleiben würde.
  • Drittens wird man an der wirtschaftlichen Entwicklung in denjenigen Ländern, die zu lange gezögert haben, bis sie auf Corona reagierten (Italien, Spanien, UK ...), ablesen können, daß die wirtschaftlichen Folgen - auf nationaler Ebene betrachtet - um einiges übler ausfallen werden als bei uns. Unser Shutdown war ja noch vergleichsweise moderat. Ein spannender Fall ist Schweden, das noch lockerer war und wo ja noch längst nicht sicher ist, ob die dortige Handhabung in den nächsten Monaten dazu führen wird, daß die dortigen Unternehmen in einem halben Jahr neidisch auf andere Länder schauen werden, die zu Beginn schärfere Maßnahmen beschlossen hatten, anschließend aber auch wieder stärker hochfahren konnten.  
  • Viertens sind auch bei einem durchschnittlichen Alter von mehr als achtzig Jahren bei den Corona-Toten ca. ein Drittel unter 70 (während andererseits auch schon über Hundertjährige eine Infektion ausgeheilt haben). Soll man dieses Drittel "junger" Corona-Opfer - und wir reden hier immerhin von ca. 2000 Menschen - großzügig mit hoppsgehen lassen, während man andererseits im Falle der Masern weniger als einen einzigen Todesfall pro Jahr schon zu viel findet? 
  • Damit zusammen hängt fünftens, daß der Grund oder die Gründe warum so eine Infektion manchmal so schwer verläuft, obwohl sie bei den meisten relativ harmlos ist, nicht einfach ignoriert werden kann, nur weil Menschen über 80 den größten Teil der Todesfälle stellen. Offensichtlich handelt es sich um etwas, das umso häufiger vorkommt, je älter man ist. Was es ist, muß dringend herausgefunden werden, um die Risikogruppen besser eingrenzen zu können, zu denen natürlich auch Jüngere gehören, nur ist im Moment noch nicht so richtig klar, welche. (Alle durch die Fach- und Publikumsmedien geisternden Risikofaktoren richten sich im Moment noch nach statistischen Faktoren, ohne aber den dabei eintretenden biologischen Wirkmechanismus zu durchschauen.)
  • Und zu guter Letzt und sechstens würde Boris Palmers gedanklicher Ansatz nur dann einen Sinn ergeben, wenn damit die Forderung verknüpft wäre, eine Intensivbehandlung nur noch einer "Positivauswahl" an Erkrankten, also Menschen mit einer Prognose von mehr als einem halben Jahr weitere Lebenserwartung, zukommen zu lassen. Wenn die Rettung von Menschenleben nicht gewollt ist, denen damit nur noch ein halbes Jahr weitere Lebenszeit verschafft würde, dann muß man schon auch sagen, was das konkret bedeutet.
Palmers Partei, die Grünen, hyperventilierte nach seiner Äußerung natürlich im Kollektiv, aber mir scheint, aus den falschen Gründen und schon auch mit einer Prise Heuchelei. Sie reagierte genauso reflexartig wie im Falle der Masern und der Stickoxide: Menschenleben müssen aus Prinzip immer erhalten werden, egal für wie lange oder kurz.

Das Problem dabei ist, den Tod als solchen als unweigerliches Ende des Lebens können die Grünen nicht per Parteitagsbeschluß abschaffen. Das Quentchen unangenehme Wahrheit in Palmers häßlichem und falschem Satz besteht darin, daß, je länger man einen Kranken, den man nicht mehr gesund machen kann, am Leben erhält, desto mehr Folgekrankheiten kommen hinzu und machen ihm das Leben immer stärker zur Qual, so daß der Tod irgendwann doch als eine Erlösung kommt. Blinder Aktionismus, um in so einem Fall doch noch den einen oder anderen Lebenstag herauszuschinden, ist in Wirklichkeit gar nicht im Interesse des Patienten, sondern dient nur der psychischen Erleichterung der Angehörigen eines medizinischen Apparats, der strukturell darauf geeicht ist, jeden Toten als um jeden Preis zu vermeidendes Versagen zu betrachten. Nur, damit versagt er natürlich über kurz oder lang bei jedem einzelnen Menschen, denn auch bei maximaler Anstrengung der Medizin stirbt unweigerlich jeder irgendwann.

Wolfgang Schäubles Äußerung, die oft mit der von Palmer in einem Atemzug zitiert wird, enthielt im Gegensatz zu letzterem aber weder die obigen falschen Prämissen noch einen falschen Ton:

Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.

Es ist die Würde derjenigen, denen die Medizin noch ca. ein halbes Jahr Lebenserwartung zuspricht, die Palmer angegriffen hat, denn welchen Wert für einen Betroffenen die begrenzte Zeitspanne Leben hat, mit der er noch rechnen kann, kann nur er selbst beurteilen. Die Würde des Menschen verbietet es gleichzeitig auch, daß der Staat anfängt, zu kalkulieren, auf welche Menschenleben er eigentlich auch verzichten könnte. Auch aus diesem Grund ist es so dramatisch, wenn eine Situation entsteht, in der so viele Menschen gleichzeitig schwerkrank werden, daß nicht mehr alle angemessen behandelt werden können. Die Last, zu entscheiden, wer in so einem Fall behandelt wird und wer nicht, kann ein Boris Palmer dann denen nicht abnehmen, die in der Realität mit dieser Situation konfrontiert sind, nämlich den Behandlern im Krankenhaus. Es dient dem Schutz auch ihrer Würde, so gut wie möglich zu vermeiden, daß sie in diese Situation kommen.






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