Dienstag, 7. Februar 2023

Problemlösungskompetenz und "Käfigverblödung"

Mein Gewicht heute früh, nach einem Fastentag und vor Beginn des zweiten THCP-Chemotherapie-Zyklus, eine Sitzung, die ich nunmehr hinter mir habe: 87,3 Kilogramm. Gestern vor dem Fasten waren es 89,3, und obwohl das zwei Kilo weniger waren als vor drei Wochen zu Beginn des langen Fastenintervalls, war ich doch ein wenig enttäuscht, weil es noch am Sonntagabend so aussah, als würde zu Fastenbeginn irgendwas mit 88 rauskommen. So wird man anspruchsvoller, wenn es gut läuft! Aber vielleicht habe ich ja das Glück, daß ich diesmal wieder einen größeren Satz nach unten mache, sich also die anfängliche wasserbedingte Abnahme auf zwei lange Fastenintervalle verteilt. Beim letzten langen Fastenintervall hatte ich zuvor schon eine knappe Woche lang Low Carb gegessen, allerdings zwei Tage vor Beginn des Fastens für einen Abend unterbrochen, an dem ich auswärts verabredet war. Das Gewicht ging dann prompt nicht runter, sondern sogar ein klein wenig rauf, also nehme ich an, daß auch der Low-Carb-typische Wasserverlust nicht geschehen ist. 

Wie auch immer, ich habe Grund zu der Annahme, daß ich immerhin nach diesem langen Fastenintervall in jedem Fall ein ordentliches Stück unter der 89 bleiben werde.

Mir stehen jetzt nur noch zwei THCP-Chemo-Sitzungen bevor. Die Termine stehen noch nicht fest, aber wenn alles optimal läuft mit der Terminierung, wäre in sechs Wochen die letzte. Ich habe sie wieder problemlos vertragen, aber die lange Dauer (diesmal aber etwas kürzer als beim letzten Mal, von kurz nach 8 bis kurz nach 14 Uhr) nervt doch ein bißchen. Wahrscheinlich werde ich im Anschluß noch zwei weitere Wochen Low Carb essen und dann wieder umstellen, aber gleichzeitig auch ein paar Wochen lang jede Spätschichtwoche meines Mannes für lange Fastenintervalle nutzen, um die damit verbundene wasserbedingte Zunahme möglichst schnell wieder vom Hals zu haben. 

Übermorgen habe ich den verschobenen Termin bei meinem neuen Onkologen, nächste Woche den verschobenen Termin beim Kardiologen, und übernächste Woche beim Radiologen für die nächste Mammographie, hoffentlich nicht wieder bei dem Schnösel mit der Philosophenoptik und der Halbgott-in-Weiß-Attitüde. Soll ich nun darauf hoffen, daß die Antikörper sich genauso anstrengen wie bei der letzten Gabe und meinen Tumor bis dahin so weit auflösen, daß er im Ultraschall nicht mehr sichtbar ist, oder lieber nicht, weil dann der Clip nicht gesetzt werden kann? 

Für unmöglich halte ich das nicht, jedenfalls habe ich in einem Podcast schon von einem solchen Fall gehört (der zugehörige Radiologe war total entsetzt, seinen Clip nicht mehr anbringen zu können, die Patientin aber ziemlich entzückt darüber, keinen Tumor mehr zu haben). Allerdings spüre ich den Tumor - in einer deutlich kleineren Form und merkwürdigerweise etwas weiter links als vorher - jetzt wieder, zeitweise war er nicht mehr richtig zu ertasten, sondern nur noch zu erahnen, das änderte sich aber von Tag zu Tag. Ich nehme an, das liegt daran, daß sich der durch den Abbau der Tumorzellenleichen frei gewordene Raum nur nach und nach mit gesundem Gewebe füllt und dann der Tumor ein wenig nach unten oder oben (oder rechts oder links) verschoben wird, was die Tastbarkeit natürlich beeinflußt. Kurios ist es ja schon, daß dieses Ding um seinen ursprünglichen Standort ein wenig herumzuspazieren scheint. In den letzten Tagen vor der Chemo (so vier, fünf Tage herum, würde ich schätzen) ist mir aber keine weitere Veränderung beim Tasten mehr aufgefallen, also nehme ich an, es wurde Zeit, durch eine neue Antikörperladung wieder mehr Schwung in das Vernichtungswerk zu bringen. Ich bin schon gespannt, ob die Wirkung wieder so deutlich beim morgendlichen Abtasten spürbar sein wird.

Zum Stichwort Gewichtszunahme bei Chemotherapie gegen Brustkrebs stieß ich auf eine Studie, die bei mir heftiges Kopfschütteln ausgelöst hat, weil sie mir so sinnbefreit und, ja, sogar ziemlich unwissenschaftlich erschien - das scheint mir wieder mal eine dieser Studien zu sein, bei der es die Autoren für ausreichend erachteten, daß sie wie eine "richtige" Studie aussieht. Da wurden in Australien nämlich knapp 300 Patientinnen nach Gewichtsveränderungen bei der Chemo sowie zahlreichen weiteren Faktoren befragt. Anschließend wurde der bunte Blumenstrauß nicht im Entferntesten zusammenpassender Einzelfaktoren mit jeweils einzelnen Lösungsvorschlägen versehen, anstatt wenigstens mal zu versuchen, sich vorher noch einen Reim auf die Sache zu machen. 

Clinically significant weight gain was associated with tamoxifen use (OR 2.7), being less physically active than at diagnosis (OR 3.1), and lower eating self-efficacy when watching television or using a computer (OR 0.82) (Chi-square 64.94, df = 16, p < .001). Weight gain was not associated with chemotherapy, radiotherapy, aromatase inhibitor use, number of lymph nodes removed, or body mass index at diagnosis.

sowie

Interventions to prevent weight gain after breast cancer, particularly aiming to maintain physical activity, should be targeted at women receiving tamoxifen. The role of eating self-efficacy, especially attentive eating, in managing weight after breast cancer should be explored.

Dieser Lösungsvorschlag, das sehe ich auf den ersten Blick, KANN gar nicht funktionieren. Die Wahrscheinlichkeit, zuzunehmen, dürfte bei zwei (einander überschneidenden) Gruppen am höchsten sein, die auch ohne Chemotherapie eine hohe Zunahmewahrscheinlichkeit haben: Diejenigen, die vor der Krebsdiagnose am stärksten auf ihr Gewicht bedacht waren, ob nun erfolgreich oder erfolglos. Denn ein großer Teil von ihnen verändert sein diesbezügliches Verhalten, und auch wenn mein Abnahmeweg unorthodox ausfällt, habe ich dies ja auch getan und im Dezember prompt die Quittung dafür bekommen. Dasselbe gilt aber bestimmt auch für einen großen Teil derjenigen, die eine konventionelle Diät halten oder einfach nur gewohnheitsmäßig "auf ihr Gewicht achten", also ihre Ernährung mit oder ohne Kalorienzählen entsprechend auf ein unter ihrem eigentlichen Energiebedarf liegenden Wert einschränken, ohne deshalb übergewichtig gewesen zu sein. 

Gehe ich nach dieser Studie hier, wäre die letztere Gruppe im Beobachtungsverlauf von acht Jahren sogar stärker zunahmegefährdet als die der Übergewichtigen. Fast gleich bedeutsam bei den dort beobachteten Gewichtszunahmen ist allerdings auch ein niedrigeres Alter (unter 55), und da der Anteil der Übergewichtigen mit zunehmendem Alter steigt, überschneiden sich diese beiden Faktoren. Unter den drei Lebensstilfaktoren, die abgefragt wurden, sind "Rauchen" und "Alkoholkonsum" wegen der geringen Zahl derjenigen, die dabei "Ja" angegeben haben, nicht sonderlich aussagekräftig und der Faktor "nicht ausreichende Bewegung" hatte die geringste Wirkung von allen - gescheiter wäre es aber gewesen, hätte man nicht den absoluten Umfang, sondern die Veränderung des Bewegungsverhaltens im Vergleich vor der Diagnose untersucht.

Ich habe in den letzten Monaten aber viele Interviews und Podcasts angehört, in dem das gerade von jüngeren Erkrankten immer wieder erwähnt wurde, daß sie vor der Diagnose eine Menge Sport getrieben hätten, was dann aber aus Zeitgründen und/oder wegen Nebenwirkungen gar nicht mehr oder nur noch in geringerem Umfang möglich war. Ähnlich die Ernährung: Es wird ja, wenn man Ärzte oder Ernährungsfachkräfte nach einer Krebserkrankung fragt, schon signalisiert, man solle essen, was einem guttue - das kann in solchen Fällen bedeuten, daß viele vorher bewußt eingehalten Restriktion mit heimlicher Erleichterung fallen gelassen werden. (Manchmal passiert es sogar, daß gerade die Krebsdiagnose dazu führt, daß jemand den Sinn dieser Restriktionen, um seine Bikinifigur nicht zu verlieren, einfach nicht mehr einsieht. Falls der Energiebedarf trotz Restriktionen vorher erreicht wurde, sollte das meines Erachten aber nicht zu einer Zunahme führen.)

Es wäre für mich sehr überraschend, wenn diejenigen, die während einer Chemotherapie ein vorheriges Energiedefizit aufgeben, egal ob durch den Faktor "Mehr essen" oder den Faktor "Weniger bewegen" oder beides mit dem Ziel, ihr Gewicht zu kontrollieren, nicht zunehmen würden. Da es aber in den Podcasts gerade für die schon vorher sehr aktiven und sportlichen Frauen ein Riesenthema war, was sie jetzt immer noch oder stattdessen machen, legen wohl gerade diejenigen, die am stärksten betroffen sind, selbst schon so viel Wert auf Sport als ihren Lifestyle, daß ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, daß es viel helfen kann, diese Zielgruppe noch eigens zu ermuntern.

Was zur angeblich nicht gewichtszunahmeverdächtigen Chemo allgemein sowie zum Wirkstoff Tamoxifen, für den ausweislich dieser Studie das Gegenteil gelten soll, außerdem zu ergänzen wäre: Ich habe starke Zweifel daran, ob das wirklich so stimmt. Tamoxifen wird bei hormonpositiven Brustkrebs NACH Chemo, OP und Bestrahlung noch volle fünf Jahre lang gegeben, und als ich recherchierte, stellte ich fest, daß dieser Faktor wohl ignoriert wurde. Mit anderen Worten, da sind für die Chemotherapie Zeiträume von typischerweise sechs Monaten plusminus ein bißchen was eingeflossen - die Antikörpertherapie läuft im Anschluß zusätzlich noch maximal weitere neun Monate -, aber bei der Anwendung von Tamoxifen bis zu fünf Jahre. So stark voneinander abweichende Zeiträume miteinander zu vergleichen und das Ergebnis für wissenschaftlich gesichert zu halten, finde ich ziemlich ... sagen wir: verwegen. Das gilt noch mehr, weil die Tamoxifen-Gabe wohl sehr nebenwirkungsträchtig ist, also unangenehm stark ausgeprägte Nebenwirkungen das Verhalten vieler Patientinnen die ganzen fünf Jahre beeinflussen.

In der Gelben Liste wird für Tamoxifen Gewichtszunahme übrigens nicht in den Nebenwirkungen aufgeführt, was aber nichts heißen will. Die angegebenen Nebenwirkungen "Anstieg der Bluttriglyceride" und "Fettleber" halte ich schon für gewichtszunahmeverdächtig. Es könnte also sein, daß, wären hier vergleichbare Zeiträume verglichen worden, eine wenn auch entsprechend geringere Zunahmewirkung verzeichnet worden wäre.

Durch die Verzerrung, die sich aus den ungleichen Zeiträumen zwangsläufig ergibt, ist wohl zum Teil auch zu erklären, warum dieses Teilergebnis der Studie in Widerspruch zu einer früheren, viel umfangreicheren Studie steht, in der exakt das Gegenteil festgestellt wurde. In dieser anderen Studie (bei der ich leider nur auf den Abstract Zugriff habe) wurde außerdem das Gewicht zu Beginn zwar erfragt, aber zwischen dem Ende von Jahr 1 bis 6 gemessen. (Die beiden Studien sind allerdings nur bedingt vergleichbar: Bei der alten Studie sind absichtliche und versehentliche Schätzfehler nicht, wie in der neuen Studie, bei allen Werten, sondern nur beim ersten Wert eingeflossen - weshalb die errechnete Gewichtszunahme wegen der zu erwartenden Schätzfehler beim ersten Wert natürlich zwischen "Vor Diagnose" und "Nach Jahr 1) höher als tatsächlich geschehen ausfallen kann. Ab dem nächsten Wert ist die weitere Gewichtsentwicklung Jahr für Jahr dann aber zuverlässig.)

Meine eigene Gewichtszunahme würde übrigens tatsächlich überall, wo mein Gewicht erfaßt wurde, falsch wiedergegeben werden, sollten sie in solche Auswertungen einfließen. Die meisten Termine, bei denen ich mein Gewicht angeben mußte, hatte ich in der Phase, als ich noch lange Fastenintervalle machte, und ich erinnere mich, daß ich mindestens zweimal mein tatsächlich tagesaktuelles Gewicht mit 83,x angegeben hatte - durchaus der Wert, den mir die Waage am fraglichen Tag angezeigt hatte, allerdings nach drei Fastentagen. Hätte ich ein wenig mitgedacht, hätte ich das Gewicht vom Montag vor Beginn des Fastens eingetragen; das wären 86,x gewesen. Zum Ausgleich hat mich die Chemo-Schwester zwei Tage vor dem ersten Zyklus mit Klamotten auf die Waage gestellt und - nach einem Nicht-Fastentag - prompt mehr als ein Kilo zu viel eingetragen, denn ich war ja komplett angezogen und in Schuhen.

Angenommen, Schlag heute würde der letztere Wert mit meinem aktuellen Gewicht verglichen, würde bei mir aber wohl - ebenfalls unrichtig - ein stabiles Gewicht festgestellt werden. Tatsächlich liege ich mit einem Vor-Fasten-Gewicht von 89,x aber drei Kilo über meinem letzten Vorher-Gewicht vor Beginn der Chemo. Noch! Ich bin mittlerweile ganz optimistisch, daß ich zum OP-Zeitpunkt wieder ungefähr dort angekommen sein werde, wo ich Anfang Oktober war, und anschließend den Faden an dieser Stelle wieder aufnehmen kann.

***

Zu den Angeboten für Patienten, die im Rahmen einer neu diagnostizierten Krebserkrankung auch für mich wahrnehmbar wären, die ich aber spontan unter "Brauch ich nicht" eingeordnet hatte, zählte eine psychoonkologische Begleitung. Das hat natürlich auch etwas mit meinem generellen Mißtrauen gegenüber Fachleuten zu tun, zumal dann, wenn es um Themen geht, in denen ich grundsätzlich auch ohne ihre Hilfe zurechtkommen kann, oder, noch schlimmer, in denen ich meine Kompetenz von vornherein höher einschätze, wie das bei Ernährungmedizinern oder Diätassistenten der Fall wäre. Das Prinzip, nur dann einen Arzt aufzusuchen, wenn ich annehme, ohne seine Hilfe gar nicht auszukommen, hat aber auch etwas damit zu tun, daß ich glaube, mit dem reflexartigen sofortigen Fragen von Fachleuten, ohne vorher einen eigenen Versuch der Problemlösung zu machen, verliert man im Lauf der Zeit seine eigenen Problemlösungsfähigkeiten. Und die möchte ich mir gerne erhalten bzw. bei neu auftretenden Problematiken noch weiter ausbauen.

Gerade lese ich einige frühe Abhandlungen von Konrad Lorenz, der für ein ähnliches Phänomen bei in Käfigen - auch großen - gehaltenen Wildvögeln den Begriff "Käfigverblödung" verwendete, der ziemlich gut umschreibt, was ich damit meine. Diese Vögel nutzen einen Teil ihrer physischen Fähigkeiten nicht mehr, auch dann, wenn ihre Nutzung, etwa in einem großen Käfig, möglich wäre. Interessanterweise wachsen ihnen diese Fähigkeiten aber rasch wieder zu, wenn man sie in Freiheit entläßt - und noch interessanterweise schadet es ihnen massiv, falls sie, nachdem sie ihre Freiheit mal gekostet haben, wieder in den Käfig eingesperrt werden. Sie verlieren dann nicht nur die neu gewonnenen Fähigkeiten, sondern auch einen Teil derjenigen, die sie vorher hatten, als sie nur den Käfig, aber nicht die Freiheit kannten. 

Vögel sind keine Menschen, aber trotzdem ... Auch ich habe das Gefühl, daß die gut gemeinte Risikominimierung auf dem Gesetzesweg oder durch gesellschaftlichen Druck - als Beispiel für das  zweite nenne ich hier mal den schon in der Kindheit meines Sohnes extrem geschrumpften Radius, in dem Kinder sich im Vergleich zu meiner eigenen Kindheit frei bewegen durften, und das ist seither kaum besser geworden - immer auch eine Art Käfig bedeuten, in dem Kompetenzen verloren gehen oder gar nicht entwickelt werden. Das ist immer eine zweischneidige Sache, entscheiden zu müssen, ob die Vorteile nun die Nachteile überwiegen oder umgekehrt, aber natürlich verändert es das, was sozial für akzeptiert gehalten wird. Mir ging schon damals, als mein Sohn im Grundschulalter war, durch den Kopf, daß ich vermutlich ein Riesenproblem mit dem Jugendamt bekommen werde, falls meinem Kind doch einmal bei seinen unbeaufsichtigten, aber von mir erlaubten Streifzügen durch die Hinterhöfe unseres "Kiezes" etwas passieren sollte, und ich vermutlich beschuldigt würde, es zu vernachlässigen. 

Zum Glück ist ihm nie etwas Ernsthaftes passiert, und ich war vor allem in den Jahren direkt nach seiner Volljährigkeit eigentlich schon der Meinung, daß er sich von den Altersgenossen seiner Generation vor allem im Alter seines Studiums positiv unterschieden hat, vor allem, was Entscheidungsfindung und Verantwortungsbewußtsein betrifft. Aber natürlich bin ich in diesem Punkt nicht ganz unvoreingenommen. Mindestens kann ich mich aber zu Recht darüber freuen, daß mein Sohn mir meine gechillte Herangehensweise bis heute hoch anrechnet. ;-)

Ich nutze also so lange keinen Psychoonkologen, solange ich überzeugt davon bin, ohne ihn auszukommen, weil ich nicht unter "Käfigverblödung" leide. Aus demselben Grund werde ich die von vielen Krebspatienten sehr gelobte Reha im Anschluß an die Therapie höchstwahrscheinlich nicht in Anspruch nehmen, weil die Therapie meinen Alltag ja sowieso nicht dominiert, sondern ich außerhalb der damit verbundenen Termine alles genauso mache wie sonst auch. Ich glaube deshalb nicht, daß ich in ein Nach-Behandlungs-Loch fallen werde.

Trotzdem gehe ich davon aus, daß Psychoonkologen durchaus ein wichtiges Angebot darstellen. Viele Krebspatienten fallen ja nach der Diagnose ins Bodenlose, und andere bekommen so massive Probleme mit dem Umgang mit ihrem Umfeld, daß es nützlich sein kann, dafür Strategien zu erarbeiten. Ich bin ganz froh, daß ich in beiden Bereichen gut alleine klarkomme, aber falls das nicht so wäre, könnte ich mir schon vorstellen, daß ich fachlichen Rat suchen würde - wobei mich das schon Überwindung kosten würde, denn man kann natürlich auch an jemanden geraten, mit dem die Chemie nicht stimmt oder der einfach fachlich nicht gut ist. Dazu müßte es bei mir also schon ziemlich dicke kommen. 

Vielleicht wäre das der Fall gewesen, wenn sich bei mir ergeben hätte, daß ich längst von oben bis unten voller Metastasen stecke, was ja die Situation dramatisch verschlechtert hätte. So gut ich meine Krebsdiagnose psychisch weggesteckt habe, der eigentliche Härtetest trifft einen ja dann, wenn man plötzlich Grund hat, seine weitere Lebenserwartung nur noch in Monaten zu rechnen - was aber heutzutage auch bei fortgeschrittem Krebs in Wirklichkeit immer seltener zu erwarten ist, nur hinkt bei einem das Vorwissen natürlich um Jahre bis Jahrzehnte hinter den jüngeren Entwicklungen her, die da vieles verändert haben. Tatsächlich kann man meistens mit Jahren rechnen, allerdings realistischerweise mit weniger Jahren, als man in meinem Alter eigentlich auf dem inneren Zettel hatte, und somit verändert sich die psychische Wirkung nur marginal.

Das ist aber nicht geschehen, meine Prognose ist gut, und ich bin auch gar nicht scharf darauf, daß sich daran etwas ändert, nur um diesen Härtetest jetzt auch noch zu bestehen. Dennoch habe ich ein Interview mit einer Psychoonkologin mit Interesse gelesen, in dem ich dann über diese bemerkenswerte Äußerung gestolpert bin: 

Wie sieht es mit Schuldgefühlen aus: Hat zum Beispiel jemand, der raucht und Lungenkrebs bekommt, ein schlechtes Gewissen?

Beim Rauchen handelt es sich ja um ein recht bewusst gewähltes Risiko. Meiner Erfahrung nach führt das bei Betroffenen eher selten zu starken Schuldgefühlen, da sie wissen, worauf sie sich eingelassen haben. Ich bekomme allerdings häufig mit, dass andere Patientinnen und Patienten nach einer Krebsdiagnose ihre Lebensweise in Frage stellen und sich fragen: Habe ich mich nicht genug um mich gekümmert? Habe ich zu viel gearbeitet? Habe ich mir zu viel Stress gemacht?

Das finde ich so interessant, daß ich es ein wenig schade finde, daß die Frage, ob das wirklich ein typisches Reaktionsmuster ist oder andere Psychonkologen das nicht bestätigen können, wahrscheinlich niemals näher erforscht werden wird.

  • Erstens ist es das Gegenteil dessen, was nicht nur die meisten Leute glauben, sondern auch fixer Bestandteil der Kampagnen der letzten zehn, zwanzig Jahre gewesen ist, mit denen man versucht hat, Raucher vom Rauchen abzubringen: Falls es dich erwischt mit dem Krebs, wirst du dich in den letzten Monaten deines Lebens selbst dafür verfluchen, aber dann ist es zu spät. 
  • Ich hätte aber auch deshalb damit nicht gerechnet, weil mir in so vielen anderen Bereichen ziemlich oft auffällt, daß Leute mit ihren (wirklichen oder vermeintlichen) Fehlentscheidungen sehr ausgiebig und oft ziemlich verbittert herumhadern, anstatt sie einfach als gegeben hinnehmen zu können und von diesem Ausgangspunkt aus darüber nachzudenken, wie sie auf Basis der Tatsachen am besten weitermachen sollten. So gehe ich normalerweise vor, wenn ich mit den Folgen von Fehlentscheidungen konfrontiert bin. Was geschehen ist, ist geschehen, es ist ja sinnlos, sich emotional in ein "Hätte ich nur" oder "Was wäre, wenn ..." hineinzusteigern, weil es einem nicht weiterhilft.
  • Drittens ist man als rauchender Lungenkrebskranker natürlich noch stärker stigmatisiert als nichtrauchende Lungenkrebskranke (und bis zu einem gewissen Grad Krebskranke überhaupt), die sich aber über diese Stigmatisierung häufig und bitter beklagen und das zweifellos nicht ohne Grund.
  • Viertens sprang mir die Formel vom "bewußt gewählten Risiko", mit der sich die Psychoonkologin die ausbleibende gebührende Zerknirschung erklärt, geradezu ins Gesicht, weil auch sie das Gegenteil der üblichen Annahmen enthält: Rauchern wird gerne Verdrängung des Risikos unterstellt, was wiederum exakt das Gegenteil eines bewußt gewählten Risikos wäre.

Sorry, dafür suche ich jetzt keine Quellen. Bestimmt erinnert sich jeder daran, es auch schon mal gehört oder gelesen zu haben zu haben. 

Falls also die Beobachtung der Psychoonkologin Anja Lindig korrekt wäre, ticken Raucher gar nicht so, wie das Präventionsexperten immer für selbstverständlich zu halten scheinen. Ironischerweise sind es bei ihr im Gegenteil offenbar gerade diejenigen, die sich besonders stark bemüht hatten, sich risikoreduzierend zu verhalten, die nach einer Krebsdiagnose am ehesten vermuten, selbst irgendetwas falsch gemacht und damit an ihrer Krankheit selbst schuld zu sein. Falls das zutreffend sein sollte, trügen also gerade die verstockten Sünder, die sich also absichtlich riskanter verhalten, eine geringere psychische Belastung als Heiligenscheinanwärter. 

Das erinnert mich ein bißchen an die Vorstellung vom Jenseits in Terry Pratchetts Scheibenwelt-Romanen. Wer dort stirbt, bekommt das Jenseits, an das er zu Lebzeiten glaubte, was ebenfalls bedeutet, die ängstlich auf das "richtige Leben" Bedachten, die jeden Verstoß gegen die Verhaltensvorschriften ihres Glaubens für einen Grund halten, sie zu bestrafen, und sich nie sündenfrei genug finden, um in ihr vorgestelltes Paradies zu kommen, werden im Jenseits tatsächlich bestraft, während fröhliche Sünder ohne schlechtes Gewissen tatsächlich belohnt werden, falls sie finden, sie hätten ein Belohnung selbstverständlich dennoch verdient. 

Aber natürlich haben die fröhlichen Sünder in meinem Beispielfall trotzdem Krebs bekommen, also hinkt dieser Vergleich heftig. Es könnte aber dennoch sein, daß sie über ein besseres psychisches Rüstzeug verfügen, um mit dieser Situation umgehen zu können. Dies alles natürlich, wie erwähnt, unter dem Vorbehalt, daß es sich um die einzelne Beobachtung einer einzelnen Therapeutin handelt, die sich möglicherweise bei anderen Therapeuten gar nicht bestätigen würde. Aber ganz unlogisch kommt mir die Sache nicht vor. 

Wer alles getan hat, um bloß keinen Krebs zu bekommen, sich also mit diesem Ziel selbst ständig diszipliniert und auf manches verzichtet hat, fühlt sich zweifellos ungerecht behandelt, wenn er dann doch eine Krebsdiagnose erhält. "Gesund zu leben" dient ja auch dazu, das Sicherheitsgefühl zu erhöhen, also leuchtet es auch ein, wenn der jähe Verlust des Sicherheitsgefühls einem dann besonders heftig den Boden unter den Füßen wegzieht. Das gilt noch viel stärker, wenn man dann auch noch das außergewöhnliche Pech hat, zu der kleinen Minderheit derjenigen zu zählen, die schon in einem Alter damit konfrontiert wird, in dem es überhaupt nicht nahezuliegen scheint, sich mit dem früher oder später natürlich immer unvermeidlichen eigenen Tod näher zu befassen.

Umgekehrt lebt jemand, der auf Gesundheitsratschläge einfach pfeift und bewußt oder unbewußt dabei den Genuß jetzt auf der Stelle einfach für bedeutsamer hält als sein Wohlergehen Jahrzehnte später, eindeutig mehr im "Hier und Jetzt" als jemand, der für eine Zeit in zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahre umfangreiche Vorkehrungen trifft, und das ist sicherlich psychisch ein Vorteil, wenn diese langen Zeiträume sowieso nur noch mit einem extradicken Fragezeichen gedacht werden können.

Ob es auch ein Aspekt dieser "Käfigverblödung" beim Menschen ist, wenn man sich zu exzessiv mit seiner persönlichen Vergangenheit und seiner persönlichen Zukunft befaßt und dabei das Hier und Jetzt vernachlässigt? 




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