Freitag, 5. August 2022

Die Alle-oder-keiner-Logik der Ernährungsgurus

Mein Gewicht heute früh zu Beginn von Fastentag 2 in dieser Woche: 87,1 Kilogramm. Weniger, als ich nach zwei Eßtagen erwartet hatte, aber das hat bestimmt etwas mit der Hitze zu tun und damit, daß ich letzte Nacht eine Menge Schweiß vergossen habe. Es würde mich überraschen - natürlich angenehm überraschen -, falls mein morgiges Gewicht mehr als 1,5 Kilogramm unter dem heutigen liegen sollte.

Das Sichten der neuesten Posts meiner Twitter-Bubble erinnerte mich daran, daß meine Ernährungsgewohnheiten sowohl die Kalorien- als auch die Low-Carb-Fraktion dazu bringen würde, die Hände zu ringen. Gestern habe ich zum (späten) Urlaubs-Frühstück Pfannenbrötchen, natürlich aus Weizenmehl, gemacht, die ich immer mehr zu schätzen lerne, weil sie so schön schnell gehen und wirklich gut schmecken, und als Nachtisch habe ich erstens Baisers aus dem Schnee von zwei Eiweißen und hundert Gramm Puderzucker gebacken, und weil ich die zugehörigen Eigelbe ebenfalls verbrauchen wollte, machte ich noch von einem dritten Eiweiß Eischnee und fabrizierte aus Mascarpone, dreimal Eigelb und diesem dritten Eischnee sowie natürlich ebenfalls reichlich Zucker eine dank des Eischnees wunderbar lockere Creme, in die ich Orangensirup und etwas Blutorangenmarmelade gab. 

Das alles haben wir auch restlos aufgegessen.

Danach war ich volle neun Stunden lang satt und wäre überhaupt nicht auf die Idee gekommen, mir zwischendurch ein Eis oder einen Snack zu gönnen. Ich war gestern ohne meinen Mann unterwegs in privaten Angelegenheiten, abends haben wir uns dann bei unserem Lieblingschinesen getroffen. Ich war mal wieder fasziniert davon, wie preiswert das Essen dort immer noch ist, auch wenn sie natürlich wie alle anderen aufschlagen mußten. Aber so niedrig wie dort fiel in letzter Zeit keine unserer Rechnungen beim Essengehen aus, und das Essen ist einfach köstlich.

Was mich ebenfalls fasziniert, ist die Logik - oder deren Fehlen -, aus der die Twitter-Ernährungs-Gurus im Arztkittel so ihre Schlußfolgerungen aus den Erlebnissen in ihrem Sprechzimmer ziehen. Beispielsweise dies hier

"My patient this morning had lost 50-100 pounds FOUR TIMES in the past 10 years using keto and fasting. He was losing and regaining the same 50-100 pounds. Low carb diets will never solve the obesity epidemic. Nor will any diet for that matter."

Ein Arzt, der so einen Stuß daherschwafelt, wird jedenfalls unter gar keinen Umständen imstande sein, eine Lösung für die Adipositas-Epidemie finden. Denn daß dieser Patient mit Keto und Fasten seit zehn Jahren herumjojot, widerlegt ja nicht die Erfahrung anderer Patienten, die mit Keto und Fasten abgenommen und ihr Gewicht gehalten haben. Warum es bei diesem Patienten nicht funktioniert hat, wäre herauszufinden, aber nicht von mir, sondern von diesem Arzt, der ja die zugehörige Vorgeschichte kennt. 

Nur, welche Hilfe kann man von einem Arzt erwarten, der so offensichtlich nur nach Bestätigungen für das sucht, was er schon die ganze Zeit angenommen hatte, und dabei unverdrossen daran glaubt, daß es eine Lösung geben müsse, die bei allen funktionieren muß, andernfalls zähle sie nicht? Ärzte wie dieser sind der Grund, warum ich Ärzten generell nicht vertraue. Mich interessiert nicht, bei wie vielen Patienten eine Methode funktioniert - sie muß bei mir funktionieren, und sei es auch so, daß ich die einzige Patientin auf der ganzen Welt sein sollte, bei der es diese Wirkung hat. 

Ein guter Arzt sucht für jeden seiner Patienten die Therapie, die ihn gesund macht oder zumindest sein Leiden bestmöglich lindert. Dieses verbiesterte "Wenn es bei ihm nicht gewirkt hat, empfehle ich es gar niemandem, weil alle, die behaupten, bei ihnen hat es gewirkt, Lügner sein müssen" halte ich für fahrlässige Körperverletzung.

Unter den vielen möglichen Gründen, warum der Patient erfolglos blieb, befinden sich auch drei, die mir spontan einfallen (was aber nicht bedeutet, daß sie in diesem Fall zutreffen müssen, mehr als diesen Tweet weiß ich ja nicht über ihn):

- Da Dr. Nadolsky erklärtermaßen der Kalorienlogik huldigt, hat sein Patient womöglich Fasten und Keto auch noch mit Kalorienreduktion kombiniert und damit den Erfolg selbst sabotiert.

- Vielleicht hat dieser Patient aber auch schlicht keinen "Junkers"- sondern einen "Vaillant"-Thermostat in seinem Stoffwechsel und Low Carb ist für ihn von vornherein die falsche Methode. 

- Last, but not least: Da alle Methoden, auch Fasten und Low Carb, in ihrer Wirkung nach relativ kurzer Zeit (6 bis 12 Monate) fast bei jedem nachlassen, verlor dieser Patient angesichts ausbleibender weiterer Erfolge vielleicht auch einfach seine Motivation und "fiel in alte Verhaltensmuster" in seiner Ernährung zurück. 

Wer ganz aufhört mit dem Fasten, nimmt natürlich wieder zu. Ebenso, wer mit Low Carb ganz aufhört. Und natürlich auch, wer mit beidem aufhört. Je radikaler dabei das Abnehmprogramm war, desto höher die Wahrscheinlichkeit, nach dem Ende ebenso schnell wieder zuzunehmen. Das gilt auch für das Fasten. Das populäre 10in2 (die "Morgen darf ich essen, was ich will"-Diät) würde ich nach meinen eigenen Erfahrungen sowie dem, was ich bei anderen beobachtet habe, nur für relativ kurze Anwendung empfehlen, ein bis zwei Monate oder so, und das auch nur dann, wenn man sein Gewichtsziel in diesem Zeitraum realistischerweise auf diese Weise erreichen kann. Daß man mit 10in2 bis zu 30 Kilogramm in einem halben Jahr abschütteln kann, ist auch nicht so viel besser wie meine 20 Kilogramm im gleichen Zeitraum mit "Schmalspur"-Intervallfasten, und im Gegensatz zu mir hat man mit dieser Herangehensweise nach dem halben Jahr sein Pulver praktisch schon komplett verschossen und hat keine Chance, die nachlassende Wirkung zu kompensieren, indem man nochmal eine Schippe drauflegt.

***

Gleichzeitig stieß ich auf einen Bericht zu einer wissenschaftlichen Studie, die ein Paradebeispiel dafür ist, warum man der Wissenschaft genausowenig trauen kann wie den Ärzten. Untersucht wurde in ihr, welche Wirkung der Verzicht auf Werbung für Junk Food im System der Londoner öffentlichen Verkehrsmittel angeblich gehabt haben soll. Die Zahlenakrobaten verstiegen sich nicht nur zu der Behauptung, dies habe dazu geführt, daß pro Haushalt 1000 Kalorien weniger gegessen worden wären, sondern außerdem, damit hätte man beinahe hunderttausend Fälle von Adipositas verhindern können und dem Gesundheitssystem Ausgaben von 200 Millionen Pfund erspart. 

Und das alles keineswegs auf Basis "harter" Daten, sondern basierend auf reinen Mutmaßungen und Schätzungen als Grundlage ihrer Kalkulationen, die aber quer zu der tatsächlichen Entwicklung der Adipositas jedenfalls von Kindern in London zu stehen scheinen (ob die hier angegebene Grafik auf korrekten Daten beruht, habe ich allerdings nicht überprüft).

Eines steht fest: Mit dieser Wissenschaft und diesen Medizinern wird sich das Adipositasproblem nicht lösen lassen. Sie haben in Wirklichkeit keinerlei Interesse daran, es zu lösen, sie sind nur am Rechthaben und Rechtbehalten interessiert. 

Erfolgversprechender ist da schon der Ansatz von David Ludwig, der in letzter Zeit ziemlich aktiv gewesen ist, um seine eigene These, das "Carbohydrate/Insulin model", zu promoten - auch wenn ich ihm nicht bis ins letzte Detail zustimmen kann. Ludwig ist der Meinung, Übergewicht sei nicht die Folge, sondern die Ursache von "Overeating". Ich wiederum bin der Meinung, das "Overeating", also den Konsum von zu vielen Kalorien als Grundlage des Übergewichts wird maßlos überschätzt. Ich "overeate" andauernd, wenn man die üblichen Merkmale dessen zugrundelegt: Ich esse aus Appetit, ich esse über das Stillen des Hungers hinaus, ich esse nach dem Lustprinzip, ich esse so viel und so lange, bis ich nicht mehr mag, und ich esse echtes "Teufelszeug", das mich dicker machen müßte, egal welche Theorie man zugrunde legt - Stichwort Baisers und Mascarponecreme. Trotzdem habe ich fünf Jahre lang jedes Jahr Gewicht verloren. Klar, mit Intervallfasten gelingt das jedem, egal was er nebenbei ißt ... allerdings nur für 6 bis 12 Monate. Danach geht die Suche nach den Schuldigen dafür los, warum die Abnahme nicht mehr weitergeht, und dann werden all die Sünden angeprangert, die ich ebenfalls begehe, ohne daß sie bei mir diese Wirkung haben.

Was Ludwig von vielen anderen unterscheidet: Er ist offen für eine wissenschaftliche Debatte und für Einwände, deren Bedeutung für sein Modell er ernst nimmt. Mit ihrer Hilfe will er sein Modell verbessern - wie ein echter Wissenschaftler natürlich auch vorgehen sollte. Es ist ein trauriges Zeichen unserer Zeiten, daß man dies nicht einfach als normales Vorgehen bewertet, sondern angenehm darüber überrascht ist.

Dem verlinkten Artikel entnahm ich den Link zu dieser interessanten Grafik aus einer anderen Studie:

Die Grafik zeigt die Entwicklung der in den USA durchschnittlich konsumierten Kalorien und setzt sie in Relation zur Entwicklung der Adipositas. Der Autor der Studie merkt an, daß diese Kalorienmenge zwischen 1961 und 1999 tatsächlich angestiegen sei, seitdem aber ein Plateau erreicht habe. Dennoch ist der Anteil der Adipösen im gleichen Zeitraum aber ständig weiter gestiegen. 

Der Kalorienlogik gehen also neuerdings die Ausreden aus, warum sie nicht an anderer Stelle als bei den Kalorien nach Erklärungen suchen wollen. Die Zeit scheint damit reif zu sein für Dr. Ludwigs Fragen. Vielleicht finden sich ja Leute, die Antworten finden wollen, anstatt irrtümlich zu glauben, sie wüßten längst alles, was sie wissen müssen, schuld an allem seien wahlweise entweder die doofen Patienten oder ein unabänderlich nicht in die heutige Zeit passender Stoffwechsel oder, vielleicht der häufigste Popanz, die böse Lebensmittelindustrie.

Währenddessen entwickelt sich auf dem Markt für Abnehmpillen und -spritzen eine Art Goldgräberstimmung, da ja mittlerweile mehrere gut wirksame Mittel zur Verfügung stehen, deren Nachteil "nur" darin besteht, daß ihre Wirkung nur so lange aufrechterhalten werden kann, wie man diese Mittel weiter nimmt. Daß das Interesse der Patienten anstelle der Gewinnmaximierung dabei im Mittelpunkt steht, darf genauso wie seinerzeit bei den opioidhaltigen Schmerzmitteln bezweifelt werden. 

Dabei bin ich dennoch davon überzeugt, daß auch diese Medikamente wichtig sind. Was mich aber frustriert, ist, daß sie ja auch nur Zufallstreffer gewesen sind und nicht etwa gezielt zur Erzeugung einer bestimmten Wirkung auf den Stoffwechsel entwickelt wurden. Letztlich haben die Leute, die sich gerade so sehr für den flächendeckenden Einsatz dieser Mittelchen stark machen, selbst keine Ahnung, warum sie die Leute abnehmen lassen, und so lange sich daran nichts ändert, sind sie eine Sackgasse anstelle eines Wegs zu wichtigen neuen Erkenntnissen, die dazu beitragen könnten, den jahrzehntelangen Trend zu ständig steigenden durchschnittlichen BMIs wieder umzukehren.



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