Donnerstag, 16. Juni 2022

"Food Addiction", "Overeating", die Lust am Essen und ein Stück ausgleichende Gerechtigkeit

Mein Gewicht heute früh vor dem zweiten von zwei (nicht zusammenhängenden) Fastentagen diese Woche: 86,4 Kilogramm. Damit liegt mein Gewicht in diesem Stadium des "normalen" Zwei-Wochen-Zyklus (eine Woche mit zwei, eine mit vier Fastentagen) 2,4 Kilogramm niedriger als vor zwei Wochen und 1,5 Kilogramm niedriger als bei meinem bisher niedrigsten Gewicht vor dem zweiten Fastentag in einer zweitägigen Fastenwoche. Endlich mal wieder eine Überraschung der positiven Art, denn eigentlich hatte ich mit 87,5 Kilogramm oder so gerechnet und wäre damit auch - auf Basis der Entwicklung der letzten Wochen - völlig zufrieden gewesen, es wäre ja ein Kilo weniger als vor zwei Wochen gewesen. Aber diesen Gewichtsrutsch nehme ich doch gerne mit, zumal ich mich ja in letzter Zeit so häufig mit unerwarteten Pluskilos abfinden mußte.

Was mag der Grund dafür sein? Am Wochenende und sogar noch am Montagvormittag haben wir Low Carb gegessen, aber eigentlich nur, weil ich letzte Woche bis Freitag gefastet und deshalb am Samstag kohlenhydratarm essen wollte. Die Brötchen (sehr lecker übrigens, aus Leinmehl) waren halt für zwei Tage, und am Montagfrüh war noch eines übrig, also gab es das natürlich zum Frühstück. Auch die Low-Carb-"Big-Mac-Rolle" war so viel, daß es für zwei Tage reichte. Am Montagabend gab es panierten Blumenkohl (ganz normal mit Semmelbröseln) und Kartoffelbrei (nicht *völlig* normal, weil ich neben der obligatorischen Karotte für die schöne Farbe auch noch ein Kohlrabi, das verbraucht werden mußte, mit hineingegeben habe - man hat es übrigens überhaupt nicht herausgeschmeckt). Und schon am Samstag tranken wir dazu trotzdem ein Bier und es gab ein normales, gekauftes Eis zum Abendessen. - Kein Low Carb der orthodoxen Art also. Und gestern gab es für mich mittags zwei normale Laugenbrötchen, zum Kaffee Erdbeeren mit Schlagsahne und abends neue Kartoffeln mit Kräuter-Creme-fraiche, also gar kein Low Carb mehr, egal wie man diese Ernährungsweise nun auslegt.

Kann das also wirklich für diesen Gewichtsrutsch verantwortlich sein? Wahrscheinlicher kommt es mir eigentlich vor, daß die Pluskilos vor zwei Wochen, über die ich so frustriert war, auf irgendeinem verzerrenden Sondereffekt beruhten, der sich jetzt wieder ausgeglichen hat. Eine Art ausgleichende Gerechtigkeit, was ja auch etwas Nettes ist. Frage mich aber niemand, was das war und wie es funktioniert hat, denn ich weiß es nicht. 

Gut möglich ist es allerdings zusätzlich, daß ich wegen der Hitze über Nacht mehr Flüssigkeit als sonst verloren habe und deshalb damit rechnen sollte, daß ich am heutigen Fastentag weniger Gewicht als sonst verlieren werde. Aber wie auch immer, ich werde morgen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weniger als 86 Kilogramm wiegen. Das ist auch bei ungünstiger Wiederzunahme übers Wochenende eine sehr gute Voraussetzung, um nächste Woche dann endlich mit dem neuen Niedrigstgewicht am Freitag rechnen zu dürfen, auf das ich nun schon seit zwei Monaten warte.

Heute faste ich, obwohl Feiertag ist. Das hatte ich ursprünglich nicht so geplant, aber mein Mann hat morgen den Brückentag freinehmen müssen, und dann finde ich es besser, wenn wir drei aufeinanderfolgende Tage zusammen essen können. Außerdem gehen mir die vielen Verschiebungen in so kurzer Zeit langsam echt auf die Nerven. Ist ja kein Wunder, daß es meine Waage ständig so spannend macht, wenn die Zeiträume von Fasten und Essen so stark schwanken. Ich bin echt nicht unglücklich darüber, daß es mit den Feiertagen jetzt endlich mal wieder für ein paar Monate vorbei ist. ;-)

Wie ich mich heute beschäftigt halten werde, ist auch schon klar: Ich werde meine Steuererklärung vorbereiten. An Feiertagen wird man dabei weniger unterbrochen, also ist ein Tag, an dem ich - außer dem Nachmittagskaffee - keine gemeinsamen Mahlzeiten einplanen muß, genau das Richtige dafür. 

Eigentlich habe ich keinen vernünftigen Grund, diese Steuererklärung schon so früh einzureichen, denn es ist wegen der Corona-Delle im Herbst 2020 und der gewaltig anschwellenden Auftragswelle ab Beginn 2021 schon jetzt klar, daß ich nachzahlen werden muß. Aber da meine Vermietungs-Unterlagen, an denen es in den letzten Jahren immer bis zum frühen Herbst geklemmt hat, zu meiner Überraschung jetzt bereits vollständig sind, ist es gescheiter, ich kümmere mich jetzt gleich darum. Ob ich die Steuererklärung dann auch gleich abschicke, lasse ich mal offen, aber so spät wie letztes Jahr - als ich sie erst kurz vor Ultimo fertig hatte, weil eine Hausverwalterabrechnung erst ewig auf sich warten ließ und dann ausgerechnet in einer geschäftlichen Großkampfphase bei mir eintraf - soll es dieses Jahr definitiv nicht werden, denn der Bescheid kam dann erst nach dem Jahreswechsel. So was finde ich auch wieder lästig. 

***

Den Diet Doctor Podcast von Bret Scher höre ich gerne und meistens auch mit Gewinn. Diese Folge hier war so ziemlich die erste, bei der ich seiner Gesprächspartnerin ständig hätte widersprechen wollen und am Ende so sauer wurde, daß ich sie sogar vorzeitig abgebrochen habe. Es handelte sich um ein Gespräch mit Dr. Vera Tarman, und das Thema war "Food Addiction", sinngemäß "Eßsucht", ihr Spezialgebiet, auf dem sie arbeitet und worüber sie auch ein Buch geschrieben hat. Sie hat offenbar auch sich selbst erfolgreich auf Zuckersucht behandelt, oder jedenfalls ist sie der Meinung, es sei so.

Ob es so etwas wie "Food Addiction" aber wirklich gibt? Ich will es zwar nicht vollständig ausschließen, ziemlich sicher bin ich mir mittlerweile aber, daß wenn, dann nur ein vergleichsweise kleiner Teil derjenigen, die glauben, eßsüchtig (zuckersüchtig, carb-süchtig, "hochverarbeitete-Produkte-süchtig" ...) zu sein, es wirklich ist, und ganz bestimmt nicht die ca. 40 Prozent aller Menschen mit Adipositas, die Dr. Tarman auf Basis der wissenschaftlichen Literatur und deren Meßwerten, etwa bei Dopamin, identifiziert zu haben glaubt. 

Die Meßwerte zweifle ich übrigens nicht an, die Frage ist nur, ob sie eine Ursache bezeichnen oder eine Wirkung. In der Epidemiologie steckt der Teufel meinem Eindruck nach oft in den Details der Interpretation. Dr. Tarmans wichtigstes erwähntes Indiz besteht darin, daß die von ihr als eßsüchtig Betrachteten beim Dopamin auf Essen vergleichbar reagieren wie andere Süchtige auf ihren jeweiligen Suchtstoff. 

Ehrlich gesagt, mich brachte das jetzt eher darüber ins Grübeln, ob dann vielleicht auch andere vermeintlich Süchtige falsch diagnostiziert werden.

Der Begriff der Sucht ist ja in den letzten Jahrzehnten ja im Vergleich zu vorher weit ausgedehnt und meiner Meinung nach dabei ein wenig überdehnt worden. Früher wurde nämlich noch unterschieden zwischen "Sucht" und "Abhängigkeit"; Rauchen etwa galt als Abhängigkeit, nicht als Sucht, bis es aus gesundheitspolitischen Erwägungen opportuner schien, Raucher lieber mit dem angsterzeugenderen Begriff der Sucht zu etikettieren. Sachgründe gab es dafür eigentlich aber nicht, denn beim Rauchen fehlt eine ganze Reihe von Merkmalen, die die "klassischen" Süchte kennzeichnen, etwa der ständige Drang, immer noch mehr vom Suchtstoff zu kombinieren, wie das bei Alkohol- und Heroin/Opiatesüchtigen der Fall ist. 

Die meisten regelmäßigen (Zigaretten-)Raucher pendeln sich dagegen auf einer bestimmten Zahl von Zigaretten pro Tag ein, die hauptsächlich von ihren alltäglichen Gewohnheiten abhängt, und bleiben dann jahre- oder jahrzehntelang dabei, sofern sie nicht daran gehindert werden oder aus Besorgnis um ihre Gesundheit oder damit Druck aus ihrer Umgebung nachgebend aktiv deren Zahl zu reduzieren versuchen. Daneben kann ich aus persönlicher Erfahrung bestätigen, daß ich beispielsweise, wenn ich bei meiner Mutter bin, nur ungefähr halb so viel rauche wie im Alltag, und zwar ohne deshalb irgendwelche Entzugserscheinungen zu entwickeln, wie das im Fall einer substanzgebundenen Sucht (Nikotin) anzunehmen wäre. Ich finde das weder positiv noch negativ, es ist halt so. Würde ich versuchen, in meinem Alltag die Zahl meiner Zigaretten zu halbieren, wäre das eine andere Situation, weil ich dazu aktiv Gewohnheiten verändern müßte. Versuchungen widerstehen zu wollen, obwohl man es nicht muß, und es dann nicht zuwege zu bringen, weil es halt netter ist, sich sein Vergnügen zu gönnen als auf es zu verzichten, wird gerne als Sucht fehlinterpretiert.

Wie wenig Nichtraucher mittlerweile von Rauchern wissen, zeigte sich auch in diesem Podcast, als Bret Scher in einer Randbemerkung tatsächlich von einer suchtartigen ständigen Steigerung der Dosis beim Rauchen ausging. Das ist vermutlich eine Folge der "Denormalisierung" des Rauchens, die ja in den USA noch viel weiter fortgeschritten ist als bei uns. Sie hat zur Folge, daß die zunehmend fehlende persönliche Anschauung unter Nichtrauchern allerhand Märchen und Mythen über das Rauchen aufkommen läßt, und das gefällt mir nicht besonders. Es wäre nämlich damit vermutlich bald nicht mehr sonderlich schwierig, den Leuten alle möglichen abstrusen Horrorgeschichten über Raucher glaubhaft zu machen, sagen wir, daß sie Brunnen vergiften oder kleine Kinder fressen. 

Warum jemand solche Märchen in die Welt setzen sollte? Nun, ich würde sagen, aus dem gleichen Grund, aus dem etwa die angebliche, aber in Wirklichkeit kaum belegbare gesundheitliche Segenswirkung von Rauchverboten für Nichtraucher in der PR für deren erforderlichen Schutz so maßlos übertrieben wurde: Um noch mehr Druck auf die Raucher aufzubauen und damit noch mehr von ihnen dazu zu bewegen, das Rauchen aufzugeben.

Der Kampf gegen das Rauchen hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten merklich von realen gesundheitlichen Zielen entkoppelt. Raucher vom Rauchen abzubringen, ist zu einer Art Wert an sich geworden, weil Rauchen als falsch gilt und Nichtrauchen als richtig. Rauchern absichtlich und wissentlich (zusätzlichen) gesundheitlichen Schaden zuzufügen (etwa, indem Verstöße gegen Rauchverbote in der eigenen Wohnung ausgerechnet Sozialmieter obdachlos machen können, was sehr viel gesundheitsgefährdender als das Rauchen selbst ist), sind in den USA längst gesellschaftlich akzeptiert. Bis zur gezielten Erzeugung von Haß gegen Raucher wegen nunmehr gänzlich frei erfundener Vorwürfe wäre es somit nur noch ein kleiner gedanklicher Schritt. Rechtfertigen ließe er sich genauo, wie schon die Heilige Inquisition das Foltern und Verbrennen von Hexen gerechtfertigt hatte: Wenn das, was verfolgt wird, absolut böse ist, kann alles, was dabei getan wird, nur als das wohlverstandene Beste der Verfolgten betrachtet werden.

Aber ich schweife ab. Back to topic:

Ein interessanter Hinweis auf die eigentliche Wurzel des Übels ergab sich aus einer Bemerkung von Dr. Tarman selbst. Sie erwähnte nämlich, Untergewichtige seien wie Adipöse auffallend häufiger als Normalgewichtige in irgendeiner Form eßsüchtig. Das ist ein Fingerzeig, der in die Richtung deutet, in der ich das eigentliche Problem suchen würde.

Die Probe aufs Exempel, ob das "süchtige" Verhalten wirklich an Essen bzw. einer bestimmten Art von Lebensmitteln liegt oder womöglich doch daran, daß die süchtig erscheinende Person schon zu lange darauf verzichtet hat, sich während ihrer Hauptmahlzeiten richtig satt zu essen (meistens wegen der Bemühungen, ein Kaloriendefizit zu erzielen), könnte man mit einem zeitlich begrenzten Low-Carb-Versuch machen, während dem die Vorgabe lautet: "Drei Low-Carb-Mahlzeiten am Tag. Bei jeder dieser geplanten Mahlzeit so lange essen, bis man richtig satt ist. Zwischenmahlzeiten sind erlaubt, sofern gewünscht, und müssen dann auch nicht Low Carb sein." 

Eigentlich müßte es nicht zwangsläufig Low Carb sein, aber damit funktioniert es wahrscheinlich bei Leuten mit einer längeren Diätvorgeschichte und chronischem Energiedefizit am besten, weil der Sättigungseffekt bei dieser Ernährungsform so besonders durchschlagend ist. Ich kenne das Phänomen aber auch von den tollen Brunchs, die ich zusammen mit meinem Mann ein-, zweimal im Jahr gerne aufsuche und bei denen Kohlenhydrate, auch in Form von Süßem, natürlich ebenfalls mit zum Repertoire gehören. Dabei schlagen wir uns immer hemmungslos den Bauch voll, bis wir wirklich nicht mehr können, aber es bleibt dann auch unsere einzige Mahlzeit des Tages. Ich habe es noch nie erlebt, daß wir bis zum Abend eines solchen Brunch-Tages schon wieder das Bedürfnis nach Essen entwickelt hätten. Und Zwischenmahlzeiten? Gott bewahre. Mit vollem Bauch hat man auf so was doch echt keine Lust.

Für Nichtsüchtige ist es meines Erachtens nahezu unmöglich, sich bei einer Low-Carb-Hauptmahlzeit ernsthaft zu überfressen. Das Verlangen nach Zwischenmahlzeiten haben sie vielleicht anfangs noch aus reflexhaften Gewohnheiten heraus, aber es zu befriedigen ist, wenn man ernsthaft gesättigt ist, so reizlos, daß diejenigen, bei denen das auch nach vier Wochen immer noch reflexhaft versucht wird, wohl wirklich eine Art von Suchtverhalten zeigen - ob das dann eine "substanzgebundene" Sucht ist, sei dahingestellt -, aber falls ich glauben soll, daß das ein größerer Anteil ist, möchte ich vorher erst einmal einen Beweis dafür sehen. Denn ich bin überzeugt davon, das wäre eine möglicherweise sogar ziemlich kleine Minderheit.

Die Vorstellung, Sucht müsse mit im Spiel sein, wenn man ständig ißt, obwohl man eigentlich die feste Absicht hatte, nicht zu essen, ist meiner Meinung nach nur dann plausibel, wenn andere, nämlich physiologisch erklärbare Gründe dafür nicht bestehen. Was für ein irrationales Verlangen nach Essen ein chronifiziertes Energiedefizit auslösen kann, habe ich ja selbst schon erlebt. Es wirkte auch auf mich wie eine Sucht, war es aber nicht. Und es hörte bei mir sofort wieder auf, als ich meinen Fastenrhythmus so veränderte, daß ich kein Energiedefizit mehr aufbaute. Und es kam danach niemals wieder. 

So schnell kann man ein vermeintliches Suchtverhalten loswerden, wenn in Wirklichkeit gar keine Sucht dahintersteckt! Frau Dr. Tarmans Ausführungen enthalten nicht den kleinsten Hinweis darauf, daß sie sich bei ihren Patienten zunächst vergewissert hat, ob die vermeintliche Sucht wirklich eine ist, und deshalb glaube ich nicht daran, daß es sich bei ihnen allen oder auch nur mehrheitlich um eine Sucht handelt.

Das Problem bei vielen vermeintlich Eßsüchtigen besteht meiner Vermutung nach darin, daß "Aufhören, wenn man nicht mehr hungrig ist" - wie das beim Essen meistens empfohlen wird -, nicht dasselbe ist wie "Aufhören, wenn man wirklich satt ist". Das Ende des Magenknurrens bedeutet nämlich nicht zwangsläufig, daß man so viel Energie zu sich genommen hat, wie sie der Körper bis zur nächsten eingeplanten Mahlzeit eigentlich haben möchte. Das Magenknurren ist vielmehr ein höchst unzuverlässiger Hinweis. Der Magen knurrt ja vor allem aus Gewohnheit zu den Zeiten, an denen er Nachschub gewöhnt ist. Beim Fasten habe ich gelernt, daß ich das aussitzen kann, weil es nach ein paar Minuten wieder aufhört. Aber auch bei Diäten gewöhnt der Magen sich meiner Erfahrung nach rasch an zu wenig Input und man hat dann den Eindruck, ihn mit seinem frugalen Mahl zufriedengestellt zu haben, da er erst wieder knurrt, wenn laut Uhrzeit die nächste eingeplante Mahlzeit fällig ist.

Menschen mit langen Diät-und-Jojo-Karrieren kennen das Gefühl, sich satt zu essen, wahrscheinlich häufig schon lange nicht mehr. Sie kalkulieren ihren vermuteten Energiebedarf auf Basis ihrer Zu- und Abnahmehistorie, und deshalb fast zwangsläufig zu niedrig. Da dies physiologisch nicht als Dauerzustand vorgesehen ist und der Körper sich dagegen zur Wehr setzt, führt es zu unkontrollierbaren Heißhungerattacken, die tatsächlich etwas ziemlich Beängstigendes haben können. Sie sind so ziemlich das Gegenteil vom Essen aus Lust, obwohl man keinen wirklichen Hunger hat. 

Aus meiner Sicht spricht überhaupt nichts dagegen, über die nackte Befriedigung der physischen Bedürfnisse hinaus einfach aus Lust weiterzuessen. Ich mache das meistens so: Ich höre dann auf, wenn es mir entweder nicht mehr schmeckt oder ich das unmißverständliche physische Sättigungssignal bekomme, das einem jede Lust am Weiteressen auch der verlockendsten Speise nimmt. Das erfolgt bei jemandem, der sich wie ich gewohnheitsmäßig immer satt ißt, auch nicht erst, wenn es mir fast schon anfängt, schlecht zu werden, sondern es ist von einem normalen, angenehmen Sättigungsgefühl begleitet.

Diese Gewohnheit hat mich jetzt fünf Jahre lang nicht am Abnehmen gehindert. Je nachdem, wie jemand "Overeating" definiert, würde es aber bei vielen Fachleuten wahrscheinlich als "Overeating" gewertet werden und sie würden versuchen, es mir wegzutherapieren.

Meine Arbeitshypothese - und zwar bis zu dem Moment, an dem ich überzeugende Gründe zu sehen bekomme, etwas anderes anzunehmen: Etwaiges Suchtverhalten ist fast immer ein Sekundärproblem, hervorgerufen beispielsweise durch chronische Energiedefizite. Ich glaube deshalb aber auch nicht daran, daß die Lösung für das unbestreitbar reale Adipositasproblem in der Bekämpfung von Eßsucht liegen kann. 

Dafür habe ich auch noch weitere Gründe: 

Zuckersüchtig bin ich, das habe ich ja schon oft genug beschrieben, nie gewesen, weil ich eine sonderbare physische Sperre habe, die mich am Genuß von zu viel Süßem hindert, obwohl ich dieses Zeug eigentlich sehr gerne mag. Das hat mir aber gar nicht dabei geholfen, schlank zu bleiben, im Gegenteil habe ich, ohne in meinem Eßverhalten dafür irgendeinen plausiblen Grund zu finden, erst schleichend und am Ende sogar dramatisch zugenommen. Umgekehrt hatte ich aber auch keinerlei Schwierigkeiten, abzunehmen, obwohl ich zeitweise für meine Verhältnisse ungewöhnlich viele Süßigkeiten gegessen habe, nachdem ich die Methode Intervallfasten entdeckt hatte und damit unerwartet erfolgreich war.

Frau Dr. Tarmans Ansatz ist meiner Meinung nach ein Holzweg. Daß es Patienten gibt, die sich selbst für süchtig halten und sich dagegen therapieren lassen wollen, ist für mich noch kein hinreichender Grund, daran zu glauben, daß sie richtig damit liegen. Die von mir beschriebenen Gründe für unkontrollierbare Eßattacken müßten zuvor erst einmal ausgeschlossen worden sein. Da dies aber bei Dr. Tarman nicht geschieht, therapiert sie mindestens bei einem Teil - und ich vermute: einem großen Teil - ihrer Patienten an Symptomen herum, deren Ursache in Wirklichkeit eine andere ist. Was die Sache so vertrackt macht: Gleichzeitig bietet die Annahme, der Patient leide an Eßsucht, für den Therapeuten den komfortablen Notausgang, jeden Mißerfolg der Therapie nach dem Prinzip der Hexenprobe erklären zu können ("Die Sucht ist schuld"). Das Problem der Patienten kann man auf diese Weise natürlich teils gar nicht, teils nur mit viel mehr Mühe und Verzichtleistung als nötig lösen.

Genau deshalb finde ich aber auch den Fanatismus, mit dem die Ärztin mit den zugehörigen vermeintlichen Suchtstoffen umzugehen empfiehlt, so beunruhigend. Als sie gegen Ende des Podcasts sogar so weit ging, zu fordern, den Zuckergenuß auf dieselbe Weise wie das Rauchen vor die Türen zu verbannen, habe ich den Podcast vor lauter Ärger abgebrochen. Vorher bekam ich aber noch mit, daß Dr. Scher ihr zustimmte. Das führte dazu, daß ich spontan beschloß, daß ich künftig keine seiner Videos mehr ansehen würde. Ich hatte Scher eigentlich für einen vernünftigen, pragmatischen und empathischen Menschen gehalten. Wenn jemand wie er nicht spontan begreift, was an den Forderungen dieser Frau in einer grundlegenden Weise falsch ist, stimmt auch etwas Grundsätzliches nicht mit seinem Mindset - und damit stellt er in meinen Augen den Sinn und Nutzen aller seiner weiteren Empfehlungen gleich mit in Frage. 

Nun gut, vielleicht sollte ich jetzt nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschütten. Immerhin habe ich aus vielen seiner Videos eine Menge gelernt. Das war das erste, das ich inhaltlich so total daneben fand, daß ich mir gewünscht hätte, er hätte dies auch erkannt.

Was ich von Frau Dr. Tarman als Therapeutin wie als Mensch zu halten habe, ergab sich aus einer aufschlußreichen Randbemerkung kurz vor dem Moment, als ich den Podcast abschaltete. In der äußerte sie sich nämlich sehr verächtlich über Raucher, die nicht den Wunsch oder die Absicht haben, das Rauchen aufzugeben. Über "bußfertige" Raucher - auch dann, wenn ihnen der Rauchstopp nicht gelingt - fand sie vergleichsweise auffallend wohlwollende Worte. Das wirft ein bestimmtes und, wie ich finde, besonders negatives Licht auf die Fundamente ihrer Überzeugungen: Sie unterlegt die Sache mit der quasireligiösen Vorstellung, es ging um sündhaftes Verhalten, das angesichts der Versuchung durch einen Teufel (Tabakindustrie hier, Lebensmittelindustrie dort) dem der Versuchung Erlegenen durchaus verziehen werden könne, aber nur, wenn sie bußfertig sind und nach Erlösung streben. Wenn aber jemand absichtlich weitersündigen will, ist das aus ihrer Sicht absolut inakzeptabel. Solchen Menschen kann sie nur Verachtung entgegenbringen.

Das ist erstens ein bißchen viel selbstempfundenes Sendungsbewußtsein für eine meiner Meinung nach von vornherein falsche Grundannahme, auf deren Basis sie herumtherapiert. Zweitens ist es übergriffig. Nicht einmal dann, wenn sie recht hätte - was anzuzweifeln ich, siehe oben, gute Gründe habe -, hätte sie damit auch das Recht erworben, Moralurteile zu fällen. Drittens beweist es die möglicherweise unbewußt einfließenden unwissenschaftlichen Bestandteile in ihre vermeintlich wissenschaftlich begründete Therapie. 

Daß ich eine verstockte Ernährungssünderin bin, hat in Wirklichkeit mehr wissenschaftliche Begründung als ihre Behandlung der bußfertigen und nach Erlösung von ihrer Sünde lechzenden Ernährungssünder. Denn das, was ich mache, funktioniert - jedenfalls für mich - einfacher und besser als das, was sie mit ihren Patienten macht. Auch wenn ich nicht immer durchschaue, wann und warum es wie funktionieren wird, und mit Prognosen oft genug falsch gelegen bin, bin ich doch mental flexibel genug, um jede Theorie kritisch zu hinterfragen, egal wie plausibel sie wirkt, sofern sie in der Praxis doch nicht die Wirkung erbringt, die sie theoretisch hätte haben müssen. 

Worauf es mir ankommt, ist die angestrebte Wirkung, und ich würde bereitwillig auch Dinge tun, von denen ich nicht kapiere, warum sie funktionieren, sofern sie nur funktionieren. Denn irgendeinen Grund wird es dafür dann ja auch geben, und theoretisch müßte es möglich sein, ihn herauszufinden - auch dann, wenn mir die Mittel nicht gegeben sind, ihn selbst herauszufinden. Gibt es aber etwas Wissenschaftlicheres, als in einer Gesundheitsfrage weder an Teufel und Hexen noch an Schuld, Buße und Erlösung zu glauben, sondern an eine Ursache A, die eine Wirkung B nach sich zieht (oder viele Ursachen A bis Z, die dabei zusammenspielen), auch wenn die Gleichung einstweilen noch nicht aufgelöst werden kann?




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen