Dienstag, 22. Dezember 2020

Lebenslügen der Ernährungswissenschaft

Mein Gewicht heute morgen: 98,1 Kilogramm. Gemessen an der Gesamtlage ist das ganz okay, auch wenn ich mir letzte Weihnachten noch vorgenommen hatte, diese Weihnachten weniger als mein Bruder zu wiegen, der damals 90 Kilogramm auf die Waage brachte. Gestern habe ich mit ihm telefoniert und erfahren, daß er nunmehr 87 Kilogramm wiegt. Wie's kommt? Seine Frau fastet jetzt auch, und da fällt das Abendessen öfter mal aus, das, sagt er, ohnehin nie so richtig in seinen Essensrhythmus gepaßt hatte, weil er meistens nachmittags Hunger bekommt. 

Ulkig, daß ich meine Schwägerin inspiriert habe, aber ebenso, daß seine Abnahme ohne echte Bemühungen darum erfolgt ist. Allerdings setzt das die Meßlatte für nächste Weihnachten bei mir beunruhigend hoch, denn natürlich will ich mein Ziel, meinen Bruder gewichtstechnisch zu unterbieten, dann eben nächste Weihnachten erreichen. Der Casus knacksus dürfte dabei der Herbst sein. Für die Monate Oktober und November muß ich mir echt irgendetwas einfallen lassen. Das kann doch einfach nicht sein, daß mich das jedes Jahr aufs Neue wieder ein bis zwei Kilo zurückwirft. Vielleicht probiere ich es in diesen beiden Monaten doch mal mit Low Carb (also, an meinen Eßtagen - fasten werde ich natürlich weiterhin). Wobei ich die Wochenenden und Feste wie den Geburtstag meiner Mutter dabei aber aussparen möchte, falls ich mich dazu entschließen sollte. Noch habe ich ja eine Menge Zeit. 

Ich las heute etwas über Diabulimie, ein Thema, das ich vor längerer Zeit auch schon mal erwähnt hatte, das mir jetzt im Kopf herumgeht. 

Beim Insulin-Purging (engl. purging = abführen, reinigen) handelt es sich nicht um eine klassische Essstörung, sondern vielmehr um eine diabetesspezifische gegenregulatorische Maßnahme im Zusammenhang mit einer realen oder ängstlich antizipierten Gewichtszunahme. Daher tritt das Insulin-Purging (auch „Diabulimie“ genannt) auch bei nichtessgestörten Personen auf.

Der Begriff Insulin-Purging ist geprägt durch die Definition des „Erbrechens über die Niere“. Bei hohen Glukosekonzentrationen wird vermehrt Glukose über die Nieren gefiltert und schließlich über den Urin ausgeschieden. Außerdem kommt es aufgrund des Insulinmangels zu einer verstärkten Fettverbrennung und damit zur Ketonkörperbildung. Aufgrund des vorherrschenden Insulinmangels kann es zu einer Entgleisung und im schlimmsten Fall zu einer Ketoazidose kommen.

Diabulimie gibt es nur bei Diabeteskranken, und relevant ist es praktisch ausschließlich bei Diabetes Typ 1, bei dem der Körper kein oder zu wenig Insulin selbst herstellen kann, weshalb es von außen zugeführt werden muß. Wird es nicht zugeführt, kann die Glukose, in die Kohlehydrate umgewandelt werden, vom Körper nicht verbrannt werden. 

Letztlich wird hier doch indirekt bestätigt, daß Abnehmen funktioniert, indem das Insulin reduziert wird, und außerdem, daß das vor allem unter jugendlichen Diabetikerinnen vom Typ 1 offenbar allgemein bekannt ist. Ist es nicht eigenartig, daß dieser Wirkmechanismus bei Nicht-Diabetikern, aber ebenso bei Diabetes Typ 2, so hartnäckig übersehen wird? Dabei liegt eine solche Wirkung nahe, und zudem ist es gerade bei denen - anders als bei Diabetes Typ 1 - normalerweise ganz ungefährlich, weil der Körper so viel Insulin produziert, wie für das, was man ißt, benötigt wird.

Das Problem bei Diabulimie besteht darin, daß weiter normal gegessen wird. Auch Diabetes-Typ-1-Patienten müßten aber eigentlich das Insulin reduzieren können (ganz darauf verzichten können sie wohl nur in Ausnahmefällen), wenn weniger Glukose aus ihrer Nahrung entsteht, das heißt, wenn sie auf möglichst viele Kohlehydrate verzichten. 

Übrigens war die Medizin in diesem letzten Punkt schon einmal sehr viel weiter: Bevor das Insulin entdeckt und in der Behandlung einsetzbar gemacht wurde, gab es nicht viele Optionen zur Behandlung von Diabetes Typ 1, aber daß es diesen Patienten half, wenn möglichst wenig Kohlenhydrate gegessen wurde, war schon im 19. Jahrhundert bekannt. Auch Fasten wurde erfolgreich eingesetzt, dagegen wurde beobachtet, daß die Anweisung, möglichst viel Zucker zu essen, zu einem rascheren Tod der Patienten führte. "Erfolgreich" ist allerdings relativ, aber eine gewisse Lebensverlängerung für Diabetes-Patienten war damit möglich. Eine der ersten mit injiziertem Insulin behandelten Patientinnen überlebte durch eine anscheinend kohlehydratarme Diät (Einzelheiten zu dieser Ernährung weiß ich allerdings nicht) nach der Diagnose immerhin drei Jahre lang, allerdings verschlechterte sich ihre Gesundheit im Lauf der Zeit doch erheblich. 

Es gibt im Zuge der wachsenden Popularität von Low Carb vereinzelt Experimente von Diabetes-Typ-1-Patienten, durch eine solche Ernährungsweise ganz auf Insulin verzichten zu können (ich las davon mal bei Twitter, allerdings finde ich die Quelle nicht mehr). Das scheint mir ziemlich riskant, aber natürlich müßte es möglich sein, die Dosierung des Insulins durch ketogene Ernährung deutlich verringern zu können. 

Ich bin kein "Früher war alles besser"-Nostalgiker, aber es fällt mir schon auf, daß nützliche medizinische Anwendungen von einst gerne mal ganz unter den Tisch gefallen sind, sobald man die Ursache einer Krankheit herausgefunden und wirksame Medikamente dagegen entwickelt hatte. Dabei ließe sich beides ja oft gut verbinden, genauso, wie es sich beispielsweise seit einigen Jahren wieder herumspricht, daß es die Heilungsprozesse verbessert, wenn Krankenhausbauten von vornherein so geplant werden, dass heilenden Faktoren wie Licht und Luft mitgenutzt werden können.

Im Falle von Diabulimie ist der Faktor, der bislang ignoriert wurde, der immense Druck, unter dem inzwischen nahezu jeder steht, und natürlich auch Diabetiker vom Typ 1, in ihrem Äußeren der von außen als angeblich am gesündesten empfohlenen Norm zu entsprechen. Typ-1-Diabetiker (ich kenne allerdings nur einen) sind typischerweise schlank, aber das muß nicht so sein, und eine Menge Leute, egal ob Diabetiker oder nicht, drehen ja schon durch, wenn sie im mittleren Normalgewichtsbereich sind, anstatt das immer noch in den Köpfen herumgeisternde Idealgewicht aufzuweisen. 

Ich habe noch nie daran geglaubt, daß besonders viele Menschen, die sich mit dem Abnehmen abstrampeln, dabei ernsthaft die bessere Bewahrung ihrer Gesundheit anstreben, wie das fast alle behaupten. Im Falle von Diabulimie ist das nur ein besonders eindeutiger Fall, denn es ist lebensgefährlich. Abnehmenwollen hat - außer bei bereits ernsthaft Erkrankten oder Menschen, die sich generell sehr vor dem Krankwerden fürchten - selten etwas mit Gesundbleibenwollen zu tun. Tatsächlich gab es ja mal eine Studie, in der eine erschreckend große Zahl von Teilnehmern angab, lieber mehrere Jahre kürzer zu leben, als übergewichtig zu sein. Ich habe sie in irgendeinem meiner früheren Beiträge verlinkt, jetzt habe ich aber gerade keine Zeit, danach zu suchen (weil ich gleich das Abendessen aus dem Backofen holen sollte - es gibt gefüllte Wachteln mit Rosmarinkartoffeln). 

Die Ernährungswissenschaft müßte sich wohl von ein paar Lebenslügen befreien, um ihre Schützlinge nicht unabsichtlich noch kranker statt gesund zu machen. Dazu müßte es wohl auch gehören, den Konformitätsdruck und seine Nebenwirkungen nicht zu ignorieren, den sie selbst miterzeugt und der jedenfalls im Falle der Diabulimie Menschen krank macht und schlimmstenfalls umbringt.






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