Freitag, 23. August 2024

Epistemisches Mißtrauen oder: "Meinten Sie: Döner?"

Mein Gewicht heute früh am zweiten Tag nach dem dreitägigen Fastenintervall: 76,8 Kilogramm. Immerhin, das liegt niedriger als vor zwei Wochen, wenn auch nur marginal. Freilich, vor zwei Wochen war auch meine Verdauung etwas in Unordnung. In dieser Woche fühlte sich das alles erfreulich normal an. 

Überhaupt frage ich mich, ob das immer noch eine Antikörpertherapie-Folge sein könnte, daß ich mich die meiste Zeit etwas und zuweilen auch unangenehm verstopft fühle. Im letzteren Fall ist das auch mit einem leicht säuerlichen Geschmack im Mund verbunden, etwas, das ich vor der Chemo nie erlebt habe und im Falle einer Erkältung oder sonstigen Infektion sogar ziemlich intensiv werden kann. Das vor allem weckt in mir den Verdacht, daß dies tatsächlich unter Chemo- oder Trastuzumab/Pertuzumab-Langzeitfolgen zu verbuchen sein könnte. 

Das Ende meiner Antikörpertherapie ist erst knapp über ein halbes Jahr her, also hoffe ich zuversichtlich, daß mich dies nicht bis an mein Lebensende begleiten wird. Zumal es im Moment wieder ganz weg ist.

Gespannt bin ich außerdem, welche Wirkung mein Umzug mit all den kleineren und größeren Veränderungen in meinen Alltagsroutinen sowohl auf mein Körpergewicht als auch auf meine sonstige Gesundheit haben wird. Bislang wohne ich im Stadtzentrum, künftig außerhalb der Stadtgrenzen in einem viel lockerer besiedelten Gebiet mit viel Wald, Wiesen und Feldern in der Nähe. Alleine schon, daß ich mich künftig um einen Garten zu kümmern habe, garantiert schon, daß ich mehr Zeit als bislang im Freien verbringen werde. Möglicherweise werde ich mir ein Fahrrad zulegen, aber da lege ich mich noch nicht fest. Im Stadtverkehr Fahrrad zu fahren, das wollte ich mir nicht antun, aber vielleicht macht mir die neue Umgebung ja Lust darauf, zumal es einen sehr interessant aussehenden Hofladen mit einem ziemlich großen Angebotsspektrum gibt, der ein bißchen außerhalb des Orts ist - zu Fuß ist man zu ihm ein Weilchen unterwegs, aber mit dem Fahrrad wäre es ein Katzensprung.

Einstweilen sind es aber noch ein paar Wochen, bis es ernst wird mit dem Umzug.

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Es ist ungefähr 15 Jahre her - ich muß damals Mitte vierzig gewesen sein -, als meine damalige Hausärztin, mit der ich vergeblich nach dem Casus knacksus eines vergleichsweise harmlosen Zipperleins suchte, nach meinen üblichen Spruch, daß das wohl unter "Altwerden ist halt scheiße" verbucht werden müsse, erwähnte, daß ihrem Eindruck nach die ersten Alterszipperlein tatsächlich bei vielen kurz nach dem 40. Geburtstag einsetzen. Daran mußte ich denken, als ich bei der Tagesschau einen Bericht über eine Studie las, nach der der Alterungsprozeß nicht linear, sondern vor allem in zwei ausgeprägten Schüben verläuft. Der erste Schub erfolgt durchschnittlich Mitte vierzig, der zweite um die sechzig, meßbar durch entsprechende molekulare Veränderungen.

Der erste Schub molekularer Veränderungen ab Mitte 40 hat zur Folge, dass sich die Alkohol- und Fettabbauprozesse verschlechtern. Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden häufiger und der Muskelabbau wird schneller. Bei dem zweiten Schub um die 60 Jahre kippt dann vor allem unser Zuckerstoffwechsel und die Immunregulation, die Nierenfunktion wird instabiler und es gibt nochmal einen Schub hin zum Abbau von Muskeln.

Mir fehlt gerade die Zeit, um die zugehörige Studie durchzulesen, was ein Jammer ist, da sie im Volltext online verfügbar ist. Ich hoffe, ich finde noch die nötige Zeit dafür. Aber grundsätzlich ergibt das Altern in Schüben, wie hier skizziert, aus meiner Sicht schon einen Sinn. Es würde zu dem, was man im richtigen Leben bei den Leuten im einschlägigen Alter beobachtet, gut passen, und es würde auch erklären, warum bis dahin schlanke Leute als Mittvierziger anfangen, zuzunehmen - und warum das auch schon vor hunderten von Jahren geschehen ist, jedenfalls in Zeiten, an Orten und dort in Milieus, in denen die Nahrung nicht knapp war. Eine offene Frage muß bleiben, ob das wirklich erst, wie Professor Seyfried meint, mit der neolithischen Revolution begonnen hat, also als sich die Ackerbauer-Lebensweise gegenüber der von Jägern und Sammlern durchsetzte. Ich fände es hochinteressant, in den geforderten Folgestudien auch diese Alterungsprozesse auf molekularer Ebene bei Menschen mit verschiedenen Ernährungsweisen miteinander zu vergleichen. Sollte Seyfried recht haben, dürften diese Prozesse bei Low-Carb-Ernährung entweder gar nicht oder jedenfalls sehr viel weniger ausgeprägt stattfinden.

Ich weiß nicht, was ihr gefehlt hat, aber es ist jetzt ein knappes Jahr her, daß ich die Todesanzeige meiner damaligen Ärztin sah. Sie war erst Mitte sechzig, als sie starb. Ihre Praxis bei mir um die Ecke hatte sie aber schon vor mehr als zehn Jahren aufgegeben, und so weiß ich nicht, wie es ihr danach ergangen ist. Aber doch, es schlug mir schon aufs Gemüt.

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Ich stolperte neulich über den Begriff des "epistemischen Vertrauens", den ich bis dahin nicht gekannt hatte. Das "epistemische" Vertrauen ist abgeleitet von der Epistemologie, der Erkenntnistheorie. Gemeint damit ist die (angemessene!) Einschätzung eines Laien gegenüber einem Fachmann, ob die von ihm gebotenen Informationen vertrauenswürdig sind oder nicht, was natürlich einen erheblichen Einfluß darauf hat, ob er ihrem Rat folgen wird oder nicht. Im Fall, von dem ich las, ging es um Psychotherapeuten, aber die Problematik ist eine generelle. Fehlendes epistemisches Vertrauen ist meines Erachtens die Ursache der vielbeklagten Wissenschaftsfeindlichkeit, deren Gründe meines Erachtens notorisch an falschen Stellen gesucht werden. 

Das gilt auch für die Psycho-Docs, die den Begriff des epistemischen Vertrauens erfunden haben, weil sie dies primär mit irgendwelchen frühkindlichen Erfahrungen erklären wollen. Das halte ich für abwegig. Ich habe dieses Vertrauen schließlich auch nicht. Aber das war nicht immer so. Bei mir waren es meine Erfahrungen im Erwachsenenalter mit Expertenrat, der sich unter dem Strich enttäuschenderweise meistens meiner eigenen laienhaften Herangehensweise als unterlegen erwiesen hat, mir nämlich im Vergleich zu Fällen, in denen ich auf Expertenrat verzichtet oder ihn in den Wind geschlagen hatte, seltener die Hilfe brachte, die ich damit gesucht hatte.

Einen Schlüsselfaktor, der entscheidend ist für die Frage, ob man einem Experten vertrauen wird oder nicht (oder nach entsprechend vielen einschlägigen Erfahrungen Experten überhaupt nicht mehr vertrauen will)  habe ich im gleichen Text entdeckt, nämlich in dem Satz: "Wenn ich das Gefühl habe, verstanden zu werden, bin ich gewillt, von der Person zu lernen, die mich verstanden hat." Genau das ist es nämlich. Was speziell bei mir die Bereitschaft, von jemandem zu lernen, extrem schnell auf Null bringen kann, ist ein Gesprächspartner, der mir in der Umkehrung dieses Satzes das Gefühl gibt, mich erstens nicht zu verstehen und zweitens weder bereit ist noch dazu gebracht werden kann, dies zu ändern. 

Ein eindrucksvolles Erlebnis dieser Art bot mein erster gynäkologischer Onkologe. Ich erinnere mich aber auch noch an das erste Mal, als ich bewußt wahrgenommen habe, daß ich von einem Experten ungeachtet seiner fachlichen Qualifikation keinen guten Rat erwarten konnte. Das war irgendwann in den Neunzigern bei einer Beraterin des Jugendamts, die ich wegen Sorgen, die mein Sohn mir machte, aufgesucht hatte. Aus eigenem Antrieb, denn ich war durchaus bereit, mir Hilfe von außen zu suchen, wenn ich selbst nicht mehr so recht weiterwußte. Aber dieser Frau habe ich nach dem ersten Gespräch nicht mehr zugetraut, mir helfen zu können. Und zwar deshalb, weil sie mich daran gehindert hat, ihr den Sachverhalt zu beschreiben. Sie stellte mir zwar eine Menge Fragen, aber unterbrach mich jedes einzelne Mal, wenn sie glaubte, genug zu wissen. Ich war allerdings anderer Meinung, denn der Teil, den sie erfahren hatte, ergab meistens ein ganz anderes Bild als wenn sie mich hätte ausreden lassen. Sicherlich hätte sie aus den Informationsbruchstücken ein vollständig wirkendes Bild zusammensetzen können, nur hatte das höchstwahrscheinlich nichts mit mir und meinem Sohn und meinen Schwierigkeiten mit ihm zu tun.

In MS-Word kam der kurioseste Änderungsvorschlag, den ich je erlebte, in einem Text zur gehobenen französischen Küche vor. Immer, wenn von einem "Dîner" die Rede war, kam der Änderungsvorschlag "Meinten Sie: Döner"? Das war lange nach dem Erlebnis mit der Sozialpädagogin, also kann ich das, was ich von ihren Ratschlägen befürchtete, erst in der Rückschau damit vergleichen. Aber daß da nichts Gescheites herauskommen konnte, und zwar deshalb, weil es allzu deutlich erkennbar war, daß die Frau mir Döner statt Dîner als Lösung vorschlagen würde, weil sie den Kontext nicht verstand und offenbar auch gar nicht verstehen wollte, war mir natürlich klar genug. Also habe ich davon Abstand genommen, ihren Rat zu erfragen, sondern den Kontakt zu ihr wieder abgebrochen. Mit dem, was meine Eltern getan oder unterlassen haben, hatte meine Skepsis also gar nichts zu tun, sondern mit dem Verhalten dieser Expertin. 

Falls meine frühe Kindheit aber doch irgendetwas damit zu tun haben sollte, müssen meine Eltern und sonstigen Bezugspersöninnen aber etwas richtiger als viele andere gemacht haben. Denn mich machte damals - und in der Folge auch später immer wieder bei begründeten Zweifeln am Sinn, fachlichen Rat zu suchen - außerdem stutzig, daß es bei manchen Leuten schier unmöglich war, die Gründe für mein fehlendes Vertrauen in die Fachfrau so zu vermitteln, daß sie meine Bedenken und Einwände für berechtigt hielten. Verblüffend häufig wurde mir im damaligen oder auch in späteren vergleichbaren Fällen offen oder subtil unterstellt, daß ich eine Wahrheit, die unangenehm sei, offenbar einfach nicht akzeptieren wolle. Daß ich von dem jeweiligen Experten die Wahrheit in Großbuchstaben erfahren haben müsse, setzten sie also voraus.

Fehlendes epistemisches Vertrauen kann solchen Leuten sicherlich niemand nachsagen. Verschwörungstheoretiker verhalten sich aber meistens exakt genauso, nur richten sie ihr epistemisches Vertrauen auf diejenigen, die genau das Gegenteil der etablierten Experten behaupten. Was beide Arten von Menschen gemeinsam haben, ist, daß sie die vermutete Vertrauenswürdigkeit von Personen (bzw. manchmal Institutionen) als Maßstab nehmen, nicht die von ihnen vertretenen Inhalte. Diese Inhalte werden dann einfach nachgeplappert. 

Ehrlich gesagt, das Buch zum epistemischen Vertrauen, über das ich gestolpert war, habe ich gar nicht gelesen. Mich beschäftigt lediglich die Frage, ob ich es nun löblich finden soll, daß die Psychotherapeutenzunft erkannt hat, daß sie keine erfolgreiche Therapie durchführen kann, wenn der Patient ihnen nicht vertraut, weshalb ggf. auf Therapeutenseite dieses Vertrauen geschaffen werden sollte. Denn bei anderen Arten von Fachleuten gibt es diese Einsicht ja überhaupt nicht, daß man selbst vielleicht ungewollt mit Ursache zum Mißtrauen gegeben und damit die heute so gerne diagnostizierte Wissenschaftsfeindlichkeit mitausgelöst hat. 

Es wäre ja immerhin ein Fortschritt, wenn die sich angefeindet fühlenden Wissenschaftler einmal die Frage, ob sie selbst vielleicht - meinetwegen ganz ungewollt - bei den Anfeindern epistemisches Mißtrauen ausgelöst haben, denn das wäre die Grundlage dafür, dies künftig nicht mehr zu tun und dann vielleicht wieder weniger angefeindet zu werden. Aber andererseits behagt mir die Vorstellung gar nicht, wenn Experten, die nur so tun, als ob sie die richtigen Ratschläge geben könnten, das bei einem größeren Teil der Menschen als bislang vortäuschen können, weil sie gelernt haben, wie man gegenüber ratsuchenden Laien möglichst vertrauenswürdig und überzeugend wirkt. Dann bekommen die Leute nämlich dieselben untauglichen Ratschläge wie schon seither, nur auf eine vertrauenswürdiger wirkende Weise. 

Also, mir ist es ja völlig banane, ob ein Ratgeber nun vertrauenswürdig wirkt oder nicht, sofern sich nur nachweisen läßt, daß sein Rat gut und vernünftig ist. Mir kann sicherlich auch mal eine kluge Empfehlung durch die Lappen gehen, aber dafür bricht mir auch keine Verzierung ab, wenn ich sie am Ende doch aufgreife, nachdem sich gezeigt hat, daß sie nachweisbar vernünftiger ist, als es das Gebaren des Ratgebers annehmen ließ. Aber natürlich kann man auch mich einfacher überzeugen, indem man sich nicht zu vornehm dazu ist, mir plausibel zu machen, was ich spontan anzweifelte. Dafür braucht man keine Autoritäten und man muß mich auch nicht bauchpinseln. Mir reicht es, wenn ich eine Möglichkeit habe, auszuprobieren, ob die Sache Hand und Fuß hat.





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