Montag, 22. Juli 2024

Die Abnehmspritze: vergleichbar mit Aspirin oder mit Fentanyl?

Mein Gewicht heute früh zum Start des langen Fastenintervalls: 79,3 Kilogramm. Damit bin ich gar nicht zufrieden und werde deshalb das Fastenintervall in dieser Woche von drei auf vier Tage verlängern. Da mein Mann ab nächste Woche Urlaub hat, sollte ich das mit dem Gegensteuern besser noch vorher machen. Warum mein Gewicht auf einmal mehr als ein Kilo höher liegt als erwartet, weiß ich nicht so genau, aber vielleicht löst sich die Sache durch eine überdurchschnittliche Abnahme ja wieder in Wohlgefallen auf.

Mittlerweile sieht alles wieder danach aus, als würden wir unser Haus doch bekommen, jedenfalls haben wir nun einen Vorvertrag geschlossen. Aber ich bin vorsichtig geworden: Gejubelt wird frühestens, nachdem wir beim Notar unsere Unterschriften geleistet haben. Das wird voraussichtlich Anfang September der Fall sein, und als nächsten Schritt warten wir darauf, daß uns der Hausbesitzer einen entsprechenden Termin beim Notar seines Vertrauens sowie einen Kaufvertragsentwurf zur Weitergabe an unsere Bank organisiert. Wenn man die Nerven nicht mitrechnet, die uns diese Achterbahnfahrt gekostet hat, kommen wir unter dem Strich sogar ein gutes Stück besser dabei weg, als wir das ursprünglich dachten, jedenfalls finanziell, denn wir haben nicht nur vom Hausbesitzer als Bedingung dafür, daß wir noch einmal von vorne anfangen mit der Finanzierung, einen ordentlichen Preisnachlaß verlangt und auch bekommen, sondern auch die Zinsen erwiesen sich, als wir die Finanzierung neu starteten, um ein paar Zehntelprozentpunkte günstiger als im ersten Anlauf. 

Daß sich unser Zeitplan verschiebt, hat seine guten und seine schlechten Seiten. Was ein bißchen schade ist: Mein Mann muß ab nächste Woche drei Wochen Urlaub verpulvern, die wir zu einer anderen Zeit wirklich nützlicher hätten verwenden können. Wir hoffen, daß wir wenigstens ein paar Umzugs-Vorarbeiten vornehmen können, die wir dann später nicht mehr einplanen müssen. Außerdem wollen wir, sobald der Notartermin steht, gleich den zweiten Wohnungsverkauf in Angriff nehmen, also bei Immoscout inserieren. Der Verkauf dieser vermieteten Wohnung war eigentlich erst später vorgesehen, weil die andere Wohnung größer und freiwerdend ist, also mehr Geld bringt. Aber für diese Wohnung müssen wir keinen Käufer mehr suchen, denn bei der Suche nach einem Käufer für sie war ich ein bißchen vorschnell gewesen - wir hatten bereits einem zugesagt, dem wir, als unser Hausverkäufer uns absprang, ärgerlicherweise wieder absagen mußten. Eine vorsichtige Anfrage ergab: Er will sie immer noch, also muß ich für Wohnung Nummer 1 nicht noch einmal auf Suche gehen. Der Urlaub meines Mannes ein günstiger Zeitpunkt, um Besichtigungen und dergleichen für Wohnung Nummer 2 vorzunehmen. Ich bin ja echt gespannt, wie dieser Verkauf klappen wird. Die Verkaufsaussichten für vermietete Wohnungen kann ich gerade nicht besonders gut einschätzen.

Solange wir diesen verdammten Notartermin nicht haben, sind wir mehr oder weniger in einer Warteschleife, also drücke ich jetzt wenigstens mein Gewicht ein bißchen weiter runter. Wie das in der Großkampfphase im Umzug mit dem Fasten klappen wird, kann ich jetzt ja noch nicht sagen, und ebenso kann es sein, daß ich mit Low Carb diesen Oktober und November später anfangen werde. Ziemlich sicher bin ich mir außerdem, daß ich die Sache mit der GKI-optimierten Ernährung auf die zweite Low-Carb-Phase ab Mitte Januar verschieben werde, denn mitten in einem Umzug bzw. der Eingewöhnung im neuen Heim mache ich mir das Bilden neuer Alltagsgewohnheiten nicht komplizierter als nötig. Low Carb sollte im Herbst eigentlich schon sein, wenn auch vielleicht um ein oder zwei Wochen verkürzt - das hängt davon ab, wann genau wir umziehen und wie stressig das wird -, aber um herauszufinden, wie ich meinen GKI optimiere, ist das vermutlich der falsche Zeitpunkt. Zum Glück ist aber ein besserer Zeitpunkt ja nicht so weit entfernt, also ist das kein Beinbruch.

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Nach längerer Zeit wollte ich mal wieder eine Buchrezension schreiben, und zwar zu Marion Grillparzers: GLYX-Diät. Leider hat sich das Buch aber als so uninteressant erwiesen, daß ich darin wenig Sinn sehe. Die "GLYX-Diät" scheint eine Erfindung von Ende der neunziger Jahre zu sein; mir selbst lag die fünfte Auflage von 2003 vor. Sie muß also einmal relativ populär gewesen sein. Ihr Gimmick bestand im Einsatz eines kleinen Trampolins für den Faktor "Bewegung" - denn natürlich basierte sie auf "Weniger essen, mehr bewegen". Die Idee mit dem Trampolin als eine Möglichkeit, sich zu bewegen, war wohl weniger originell als eher zeitgeistig. Es gab mal eine Phase, in der Trampoline ziemlich in Mode gewesen sein müssen, also für die Bewegung bei allen möglichen Gesundheitszipperlein. Sogar meine Mutter hatte eines, das sicherlich zwei Jahrzehnte lang ihr kleinstes Zimmer blockierte. Ich kann mich freilich nicht erinnern, daß sie es jemals genutzt hätte. Genausowenig habe ich eine Ahnung, wohin es mittlerweile verschwunden ist. Aber meine Mutter wird im Herbst 88, natürlich wäre es für sie wenig ratsam, in einem Alter noch auf Trampolinen herumzuspringen, in dem man sich auch bei einem normalen Sturz schnell alles mögliche brechen kann, wie das in ihrer Nachbarschaft neulich jemand in einem ähnlichen Alter auch ohne Trampolin passiert ist.

Die bei der GLYX-Diät eingesetzten Ernährungsbausteine orientieren sich, wie der Name schon vermuten läßt, am sogenannten glykämischen Index, der sich im Bewußtsein der Abnehmenden wesentlich besser gehalten hat als diese darauf basierende Diät, was vermutlich daran liegt, daß Lebensmittel mit schlechtem glykämischem Index typischerweise extrem carblastig sind, also diese Diät, mit der sie möglichst vermieden werden sollen, eine Art Schmalspur-Low-Carb für Nicht-Low-Carbler ist. Das bürgt eigentlich dafür, daß man tatsächlich mit so einer Ernährung abnehmen können sollte, wenn auch nicht so viel wie mit "echtem" Low Carb.  

Das Konzept von Frau Grillparzer jedenfalls ist am ehesten etwas für Buchhalternaturen oder Leute mit einem überdurchschnittlichen Hang zur Selbstbestrafung. Nur, auch bei denen wird es dauerhaft alleine schon deshalb nicht funktionieren, weil niemand dauerhaft so viele Bälle jonglieren kann, wie man es dabei müßte. Hinzu kommt natürlich das bei allen Abnahmekonzepten zu erwartende Plateau nach ca. einem halben Jahr. Je mühsamer das Abnahmekonzept, umso sicherer geht einem dann die Motivation zur Einhaltung der Regeln flöten - vor allem derjenigen unter den Regeln, die man besonders unangenehm findet. Wenn man schon daran glaubt, es helfe einem beim Abnehmen, komplizierte Regeln einzuhalten, dann ist man höchstwahrscheinlich mit Rainer Klement und sogar noch mit Bas Kast allemal noch besser bedient. Gescheiter fände ich es aber, sich die Sache nicht kompliziert, sondern möglichst einfach zu machen.

Ein anderes Gegenmodell, das man an sich vergleichweise unkompliziert umsetzen können sollte, obwohl sich viele Anwender die Sache eher ein bißchen komplizierter zu machen versuchen, sind die sogenannten Abnehmspritzen mit Wirkstoffen aus dem Bereich der GLP1-Rezeptor-Agonisten. Sie erzielen ihre Wirkung unter anderem dadurch, daß man weniger ißt, weil einem das Bedürfnis nach Essen mehr oder weniger verlorengeht. Das kann mit Nebenwirkungen wie Übelkeit verbunden sein, funktioniert aber auch bei denen, die diese Nebenwirkungen nicht haben. 

Es muß außerdem aber noch mehr als das hinter der Sache stecken. Mir fiel nämlich auf, daß das typische Abnahme-Plateau zwar nicht ganz ausbleibt, aber doch erheblich später als bei anderen Gewichtsreduktionsverfahren eintritt, nämlich im Durchschnitt erst nach ca. einem Jahr. Irgendwas passiert da also auch mit dem Stoffwechsel, das bei anderen Varianten nicht geschieht. Das ist bislang niemandem aufgefallen, weil aus irgendwelchen Gründen auch das sonst übliche Plateau nach einem halben Jahr hartnäckig nicht zur Kenntnis genommen wird. Ist das Muster aber nicht bekannt, sieht man natürlich auch die Abweichung davon nicht. Was könnte die Abweichung aber bedeuten? Es läge nahe, zu vermuten, GLP1-Agonisten haben einen Einfluß auf die sonst übliche Stoffwechselwirkung eines Anstrebens der Homöostase. Für die Anwender ist das erst mal gut, weil es die Abnahme länger als sonst üblich aufrechterhält. Die Frage ist allerdings, ob sich diese Wirkung alleine auf den Ausgleich zwischen Energieaufnahme und Energieverbrauch beschränkt und was das dann für Folgen hat. 

Kurzfristige Folgen der Abnehmspritzen, die Bedenken speziell in Bezug zu dieser Frage aufwerfen könnten, sind wohl bislang nicht bekannt geworden. Da außerdem sowieso niemand imstande wäre, die stürmische Nachfrage nach diesen tatsächlich wirksamen Mitteln aufzuhalten und sie längst zugelassen sind, würde ich sagen: Die Zeit wird es zeigen, ob sich dazu noch etwas herauskristallisieren wird, wenn diese Präparate erst einmal länger in Gebrauch sind.

Der bekannteste dieser Wirkstoffe ist Semaglutid - über ihn habe ich auch schon mehrmals geschrieben -, aber es gibt eine Menge andere, von denen in letzter Zeit auch ein paar neu zugelassen wurden. Tirzepatid steckt hinter dem etwas neueren Produkt Mounjaro, das Ozempic/Wegovy mit dem Wirkstoff Semaglutid in der Wirkung nicht nachsteht. Im Abnehmforum haben Diskussionen über solche Mittel seit einiger Zeit diejenigen zu chirurgischen Lösungen nahezu ganz zum Verstummen gebracht - der neueste Beitrag im einschlägigen Unterforum ist inzwischen fast zwei Monate alt. Der Hype um die Magenverkleinerungen scheint, jedenfalls für den Moment, also vorbei zu sein. Aus meiner Sicht ist keines der beiden Mittel der Weisheit letzter Schluß, aber den Abnehmspritzen kann ich immerhin als Vorteil gegenüber Magenverkleinerungen bescheinigen, daß man mit dem Spritzen einfach wieder aufhören kann, während eine Magenverkleinerung nicht mehr rückgängig zu machen ist und etwaige unangenehme Folgen dauerhaft bestehen bleiben werden. Der Nachteil der Spritzen besteht allerdings darin, daß man nach dem Aufhören voraussichtlich ziemlich schnell wieder zunimmt. Das mag für den einzelnen Anwender unangenehm sein, es deutet immerhin darauf hin, daß neben der Hauptwirkung auch etwaige ungewollte Beeinflussungen des Stoffwechsels nicht dauerhaft bestehen bleiben sollten. 

In letzter Zeit verfolge ich, weiterhin aber nur als unangemeldeter Kiebitz, mit Interesse, wie sehr diese GLP1-Agonisten, vor allem Wegovy und Mounjaro, und deren Anwender das Abnehm-Forum mittlerweile, was die Zahl der Fans und die ihrer Beiträge betrifft, jedenfalls im von außen sichtbaren Bereich dominieren. Parallel dazu sind wesentlich kleinere, aber ebenfalls sehr erfolgreiche Fasten- und Keto-Gemeinden dort am Werk, die natürlich auch gerne und viel über ihre Erfahrungen schreiben. Die Faster und die Ketos scheinen untereinander einen entspannten Umgang zu pflegen, aber mit den Abnehmspritzenverwendern fremdeln beide (obwohl sich unter ihnen auch Leute mit Fasten- und/oder Keto-Erfahrung befinden). Diese vergleichbar erfolgreichen Abnehmergruppen halten sich typischerweise voneinander fern, und wenn sie in Austausch treten, dann gehen sie betont höflich miteinander um, wie man das halt macht, wenn man mit der Methode des anderen nicht viel anfangen kann und seine eigene für viel besser hält, ihn aber auch nicht vor den Kopf stoßen möchte. Manchmal gewittert es trotzdem zwischen ihnen. Kürzlich brach eine von den Abnehmspritzen-Damen - meiner Meinung nach absichtlich - einen Zickenkrieg vom Zaun, als sie, notdürftig verpackt in eine angeblich sachlich gemeinte Frage nach den Gründen, die hinter Abnehmspritzenverweigerung stecken, alle Verweigerer kurzerhand für dumm erklärte. Von Abnehmern aller anderen Fakultäten wurde das selbstredend nicht besonders erfreut aufgenommen. 

Ich wiederum hielt diese Frage samt ihrer Begründung insgesamt für ziemlich dumm. Genauso, also damit, dies für dumm zu erklären, hätte auch ein Schmerzpatient in den USA, dessen Arzt ihm Fentanyl verschrieben hatte - sagen wir mal, damit klar ist, daß zwei Aspirin für ihn nicht ausreichend gewesen wären: jemand, dessen Schmerzlevel deutlich über normale Kopfwehattacken hinausging, beispielsweise als Folge eines Unfalls -, auf Einwände von pharmakritischen Zweiflern reagieren können. Wieso sollte er denn mehr als nötig leiden müssen, da die Opioide doch so gut gegen die Schmerzen halfen? Und der Arzt mußte es doch eigentlich wissen, ob das riskant war oder nicht. Von diesem in der praktischen Anwendung bereits als wirkungsvoll erfahrenen Mittel abraten, das konnten ja eigentlich nur Esoteriker und notorische Berufsbedenkenträger.

Wie die Sache für diesen Patienten vermutlich in längerer Sicht ausgegangen ist, setze ich als bekannt voraus. Manchmal haben die Bedenkenträger halt doch recht. Und zu viel Vertrauen in das, was die Fachleute sagen, muß man als Anwender im Zweifelsfall eben doch selbst ausbaden.

Gründe, gegenüber pharmakologischen Lösungen ein gesundes Mißtrauen zu bewahren, gibt es also schon, wenn auch manche Leute damit maßlos übertreiben. Natürlich ist es legitim, das momentane Leiden pharmakologisch verringern oder ganz beseitigen zu lassen. Ich habe keine Sekunde darüber nachdenken müssen, als ich dahinterkam, daß Aspirin bei mir Kopfschmerzen innerhalb von Minuten restlos beseitigt. Davor hatte ich immer die Erfahrung gemacht, daß Kopfschmerztabletten, etwa Spalt, mir sowieso so gut wie gar nicht helfen, also sah ich natürlich auch keinen Sinn, sie zu nehmen, und stand Kopfschmerzen, wenn ich sie hatte, eben irgendwie durch. Aber für überlegen habe ich diese Herangehensweise nicht gehalten und sie sofort aufgegeben, als ich stattdessen auch einfach zwei Aspirin reinpfeifen konnte und damit keinen halben oder ganzen Tag wegen Siechtum aus meinem Leben streichen mußte. Es kann also durchaus sein, daß ich auf die Fentanyl-Sache ebenfalls reingefallen wäre, also hatte ich Glück, nicht zur falschen Zeit an einem Ort zu sein, an dem Opioide zeitweise wie Lutschbonbons an die Leute verteilt wurden. 

Die Frage ist, welches Urteil die Medizingeschichte eines Tages über die Abnehmspritze fällen wird. Ist das richtige Vergleichsbeispiel nun Aspirin oder Fentanyl? Wenn ich raten darf, würde ich sagen: Keines von beidem, sondern irgendwas zwischendrin. Ein wirklich ungutes Gefühl bei den Abnehmspritzen habe ich aber bei der Freigabe für Kinder und Jugendliche, die in den USA ja ab einem Alter von zwölf Jahren besteht. Das Risiko, damit Schlimmeres auszulösen als das Leiden - Adipositas und/oder Diabetes -, das man damit bekämpfen will, dürfte vor dem körperlichen Erwachsenwerden noch erheblich höher sein. Ich weiß nicht, was die Experten geritten hat, diese Zulassung zu erteilen, aber daß sie es taten, ist für mich kein Grund, ihrem Urteil zu vertrauen. 

Expertengläubigkeit hat viel mit Bereitschaft zur Einordnung in Hierarchien zu tun. Dazu las ich gerade etwas Hochinteressantes, nämlich eine Dokumentation zum berüchtigten Milgram-Experiment, von dem sicherlich jeder schon mal gehört hat. Die Lektüre einer ausführlicheren Beschreibung des Milgram-Experiments hat sich für mich wirklich gelohnt. Milgram untersuchte, wie lange zufällig ausgewählte erwachsene Versuchspersonen auf Anweisung einer Autoritätsperson - des Versuchsleiters - einer vermeintlich anderen Versuchsperson (in Wirklichkeit war es ein Schauspieler) als vermeintlichen Bestandteil eines Lernexperiments Elektroschocks in sich steigernder Intensität weiterzugeben bereit sind. Es zeigte sich, daß die weitaus meisten Teilnehmer bis zur maximalen Stromstärke gingen, sofern der Versuchsleiter darauf bestand, dies sei notwendig für das Experiment. Bis dahin kennt diese Sache vermutlich jeder. Was mir aber teils neu war und ganz neue Aufschlüsse darüber gab, warum neue Erkenntnisse es so schwer haben, sich innerhalb des wissenschaftlichen und medizinischen Apparats durchzusetzen, und wie es kommt, daß die meisten Patienten ihrem Arzt mehr zu vertrauen scheinen als am eigenen Leib erfahrenen körperlichen Reaktionen auf eine Behandlung, waren die Details der mehrfach variierten Versuchsanordnung. 

Nicht gewußt hatte ich beispielsweise, daß der größte Teil auch der "gehorsamen" Versuchspersonen ab einem bestimmten Punkt gerne das Experiment abgebrochen hätte und den Versuchsleiter davon mehr oder weniger nachdrücklich zu überzeugen versuchte, aber sich dessen Anweisung, weiterzumachen, dann doch beugte. Was das Opfer tat, ging den Versuchspersonen an die Nieren, aber es zeigte sich, daß nichts davon (Bitten, Schreien, Röcheln, gar keine Reaktionen mehr ...) einen so hohen Einfluß auf die Frage nach Fortführung oder Abbruch des Experiments hatte wie das Verhalten des Versuchsleiters. War er zum Beispiel nicht physisch anwesend, sondern gab die Anweisungen telefonisch, erhöhte das die Bereitschaft zum Widerstand ganz beträchtlich. Noch stärker war diese Wirkung, wenn es zwei Versuchsleiter oder mehrere Personen gab, die deren Anweisungen umsetzten sollten, und diese untereinander uneinig waren, ob das Experiment fortgeführt oder abgebrochen werden sollte.Kaum eine Versuchsperson schloß sich dann der Ansicht an, weitermachen zu wollen, und zwar auch dann nicht, wenn es keine Autoritätsperson, sondern vermeintlich eine andere Versuchsperson war, die sich weigerte, weiterzumachen. (Auch bei ihr handelte es sich in Wirklichkeit um einen Schauspieler.) 

Das galt allerdings nur dann, wenn die Versuchsperson selbst den Knopf drücken mußte. Hatte jemand anders die Teilaufgabe, die Elektroschocks zu vergeben, waren alle Versuchsperson bereit, mit ihrem Teil der Tätigkeit weiterzumachen. - Diese Teilerkenntnis ist ein guter Grund, "Eichmann in Jerusalem" mal mit diesem Wissen im Hinterkopf zu lesen. (Aber erst nach dem Umzug ...) Noch etwas, das ich aus dem Buch über Milgram mitgenommen habe: Maulen kann man nicht als Akt des Widerstands betrachten, sofern ihm keine entsprechenden Taten folgen - nicht einmal dann, wenn das Maulen einen - wie im Dritten Reich - ebenfalls das Leben kosten konnte. Bei Milgram haben nämlich viele gemault, aber trotzdem den Knopf gedrückt. Damit waren sie Bestandteil des Problems und leisteten keinen Beitrag zur Lösung.

Was Adipositaspatienten im Medizinbetrieb passiert, ist letztlich eine weitere Steigerung des Milgram-Experiments: Die Versuchsperson muß sich dabei im Grunde selbst die Elektroschocks verabreichen und zuvor ihrer Verabreichung zustimmen. Wenn ich richtig interpretiere, was ich bei solchen Patienten beobachten kann, sind sie dazu in erstaunlich hohem Maße bereit. Nicht nur, wenn jemand zum drölfzigsten Mal dieselbe Methode empfohlen bekommt, die schon davor nie das erhoffte Ergebnis gebracht hatte, sondern auch, wenn jemand sich eine Magenverkleinerung aufdrängen läßt, obwohl er sie eigentlich gar nicht will. 

Prinzipiell würde für die Abnehmspritzen dasselbe gelten, nur sind die im Moment noch zu neu dafür. Unter ihren aktuellen Verwendern finden sich nach wie vor eher Leute, die darum kämpfen mußten, ihren Wunsch durchzusetzen. Aber das kann ziemlich schnell kippen, denn bei den Magen OPs war das noch vor ungefähr zehn Jahren genauso. Wann genau das kippte, kann ich nicht sicher sagen, aber es war auffallend, daß parallel dazu, daß man immer häufiger von Prominenten las, die sich einem solchen Eingriff unterzogen hatten (Rainer Calmund, Siegmar Gabriel ...), auch die Zahl derjenigen zunahm, die - beispielsweise im Abnehmen-Forum - davon berichteten, von ihrem Arzt, einem Adipositaszentrum oder sonst einem Mitarbeiter einer einschlägigen Institution manchmal massiv unter Druck gesetzt worden zu sein, eine solche OP vornehmen zu lassen. Leute, die sich dem widersetzt hatten und nach anderen Lösungen suchten, schlugen in der Zeit, bevor ich das Forum verlassen habe, sicherlich alle ein bis zwei Wochen dort auf, und die waren ja nur die Spitze des Eisbergs. Angenommen, Milgrams Werte wären übertragbar, würden auf jede sich diesem Druck verweigernde Person wohl etwa zwei kommen, die sich trotz inneren Widerstrebens oder sogar lautstarken Maulens fügten und die OP vornehmen ließen. Wenn es um die eigene Haut geht, steigt die Bereitschaft zum Widerstand aber sicherlich im Vergleich zu Milgrams Versuchspersonen noch ein wenig an. Trotzdem wäre ich überrascht, wenn das Verhältnis Nachgeben/Weigern niedriger als 1:1 liegen würde.

Es kann sein, daß sich das aber durch die Abnehmspritze verändert hat. Speziell den Leuten, die bei den Magen-OPs unter Druck gesetzt wurden, hat sie ja tatsächlich einen neuen Weg eröffnet. Vielleicht ist das auch der Grund, warum das Thema Magen-OPs in den letzten Monaten im Forum immer weniger diskutiert wird.

Womit wir wieder bei der Frage gelandet sind, ob dies auch bezüglich der mit beiden Verfahren verbundenen möglichen Gesundheitsrisiken eine Verbesserung ist. Meine Bedenken, was mögliche Langzeitschäden durch Abnehmspritzen betrifft, kommen daher, daß durch sie neurologische Funktionen beeinflußt werden, die bislang nur unzureichend verstanden sind. GLP1-Rezeptoren haben ja, ähnlich wie die sogenannten Nikotinrezeptoren, wahrscheinlich nicht nur die eine Funktion, die man aktiv zu beeinflussen versucht, sondern eine ganze Reihe weiterer Aufgaben, die man durch ihre Beeinflussung natürlich unweigerlich mitbeeinflußt. Wenn man aber nicht weiß, was man da mitbeeinflußt, können sich daraus Nebenwirkungen ergeben, mit denen niemand gerechnet hat. Vareniclin, das ziemlich erfolgreich zum Rauchstopp eingesetzt werden kann, weil es durch seine Wirkung auf die Nikotinrezeptoren die Lust am Rauchen nimmt, hat beispielsweise bei manchen Anwendern offenbar die Nebenwirkung, zusätzlich auch die Lust am Leben zu nehmen. Es gab nämlich eine Reihe von darauf zurückgeführten Suiziden. In anderen dokumentierten Fällen kam es auch zu Gewaltausbrüchen, ebenfalls teilweise verbunden mit Todesfällen, manchmal von Angehörigen, manchmal von völlig Unbeteiligten, oder zu erhöhten Unfallrisiken. Die wesentlich häufigeren abgeschwächteren Versionen bestanden in Schlaflosigkeit, Alpträumen und ähnlichen Symptomen. 

Was für andere als auf den Appetit bezogene Funktionen der GLP1-Rezeptoren durch die Abnehmspritzen beeinträchtigt werden und welche Folgen das mittel- oder langfristig haben kann, weiß im Moment aber kein Mensch so genau. Erwähnt werden immer nur die kurzfristigen Nebenwirkungen, von Übelkeit aufwärts. Aber wie schon weiter oben erwähnt, wenn ein im biologischen System eigentlich allgegenwärtiges Phänomen wie das ständige Wiederherstellen eines Gleichgewichts, der Homöostase, durch diese Mittel ausgehebelt oder jedenfalls verzögert werden kann, wäre ich mir nicht zu sicher, daß daraus keine ungewollten negativen Wirkungen resultieren können. Gelesen habe ich beispielsweise schon, daß die Gewichtsabnahme mit Abnehmspritze einen auffällig hohen Anteil an fettfreier Masse enthalten soll, aber damit habe ich mich noch nicht intensiv genug befaßt, um mir ein eigenes Urteil zu bilden, ob das wirklich so ist und ob es sich bei dieser fettfreien Masse wirklich um Muskeln handelt, nicht um Haut und Bindegewebe, die man beim Abnehmen ja tatsächlich gerne loswerden will, um lose herumhängende Hautlappen zu vermeiden.

Ich kenne nur eine einzige andere Form der (allerdings ungewollten) Gewichtsabnahme, bei der auch ein erhöhter Anteil fettfreier Masse verloren wird und sich dies tatsächlich um Muskelmasse handelt, nämlich die Tumorkachexie. Diese Abnahmen sind ein extrem schlechtes Zeichen. Sie durch kalorienreiche Ernährung oder Sport zu bekämpfen, erhöht die ziemlich düstere Überlebensprognose auch nicht nennenswert. Das einzige bislang bekannte wirksame Mittel gegen die Kachexie als Begleiterscheinung von Krebserkrankungen ist die erfolgreiche Bekämpfung der zugrundeliegenden Krankheit, die allerdings selten zu erwarten ist, weil diese Abnahmen in der Regel erst bei weit fortgeschrittenen Krebserkrankungen auftreten.

Was das alles mit den Abnehmspritzen zu tun hat? Nichts. Mit Ausnahme der möglichen Parallele, daß die Verteilung der Abnahme in Fett- und fettfreier Masse sich in beiden Fällen möglicherweise (!) ähnelt. Von einer verringerten Lebenserwartung durch Abnehmspritzen ward bislang noch nie etwas gehört, aber alleine das wäre für mich schon ein guter Grund, die Finger davon zu lassen, und zwar so lange, bis ich mir halbwegs sicher sein kann, daß die Parallele entweder gar nicht besteht oder die Ähnlichkeit nur oberflächlich ist, aber unterschiedliche Mechanismen dahinterstehen. 

Aber das ist eine individuelle Gewichtung der Argumente, die ich niemandem aufdrängen will. 

Wenn ein Erwachsener sich bewußt entscheidet, die Möglichkeit in Kauf zu nehmen, daß er später unerwünschte Folgen tragen muß, weil er die Wirkung jetzt bestehenden hohen Übergewichts unterträglich findet, ist das ja durchaus rational - sogar rationaler als eine "normale" Diät, da die Abnehmspritze ja nachweislich bei der großen Mehrheit ihrer Anwender die Wirkung erbringt, auf die sie hoffen. Das betrifft ja auch nicht nur gesundheitliche Folgen, obwohl fast jeder Anwender dies als Begründung besonders betont (sicherlich wiederholt er da das, was sein Milgram-Versuchsleiter, nämlich sein Arzt, besonders betont hat), sondern auch soziale und psychische. Und diese Nachteile haben es wahrscheinlich sogar noch mehr in sich, jedenfalls bei Patienten, die sich physisch noch halbwegs gesund fühlen. Es gab mal eine Studie, in der zehn Prozent der Befragten angaben, lieber zehn Jahre früher sterben zu wollen als dick zu sein. (Das sind übrigens die gleichen zehn Jahre, die man uns als zusätzliche Lebenszeit versprochen hat, falls wir mit dem Rauchen aufhören.) Ich fände es angebracht, danach zu fragen, was genau eigentlich diese Leute dazu bringt, lieber tot als dick sein zu wollen, und ob dies vielleicht ja eine Sache ist, an der man etwas zu ändern versuchen sollte. Die Body-Positivity-Bewegung mag ihre fragwürdigen Seiten haben, aber in diesem Punkt ist ihre Zielrichtung definitiv unterstützenswert.

Das Leiden daran, anders zu sein, als es gesellschaftlich für akzeptabel gehalten wird, spielt jedenfalls wahrscheinlich häufig eine wichtigere Rolle für die davon Betroffenen als ihr etwaiges Leiden an auf Übergewicht zurückzuführenden Krankheiten. Und dieses Leiden ist ja auch genauso real. Es ist ein hinreichender Grund, ihnen  zuzugestehen, ihr Leiden verringern zu wollen, und es wäre anmaßend, ihnen vorzuschreiben, auf welche Weise sie das zu bewerkstelligen versuchen.

Aus meiner persönlichen Sicht sind Abnehmspritzen jedenfalls etwas, das ich nach Douglas Adams gerne als ein PAL bezeichne - ein Problem Anderer Leute. Ich habe so etwas nicht gebraucht, um an die 70 Kilo abzunehmen, und ich werde es auch nicht brauchen, um diese Abnahme weiter zu halten, weil ich genügend andere Stellschrauben habe, an denen ich drehen kann. Andererseits, wer bin ich, um einen einzelnen Menschen, der jahre- oder sogar jahrzehntelang erfolglos gegen seine Gewichtszunahmen angekämpft hat, dafür zu kritisieren, daß er von der nicht abstreitbar viel besseren Wirkung von Abnehmspritzen begeistert ist?


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