Freitag, 28. Mai 2021

Optimierung und Suffizienz oder: Warum weniger auch mehr sein kann

Mein Gewicht heute früh nach drei von vier aufeinanderfolgenden Fastentagen: 94,7 kg. Das sieht gut aus für ein Gewicht unter 94 Kilogramm morgen, ob es sogar für ein neues All-time-Low reichen wird, muß ich aber noch abwarten. 

 ***Update Samstag, 29.5.2021: Mit 93,5 Kilogramm hat es tatsächlich zu einem neuen All-time-Low gereicht.***

Schade, daß ich damit rechnen muß, mich nach meinem Besuch bei meiner Mutter längere Zeit herunterarbeiten zu müssen, bis ich wieder in diesen Gewichtsbereich kommen werde. Aber das ist es mir wert, und eines meiner wichtigsten Prinzipien lautet ja: Ich will nicht, daß mein ganzes Leben nur ums Abnehmen kreist. Das gilt immer noch, obwohl ich eigentlich schon so schnell wie möglich bei meinem Zielgewicht sein möchte. 

"So schnell wie möglich" definiere ich halt so: "So schnell, wie es möglich ist, ohne daß ich andere Lebensbereiche dafür opfern oder vernachlässigen muß." 

Vor ein paar Tagen habe ich zum ersten Mal einen Begriff gelesen, der die dahinterstehende Philosophie perfekt umschreibt: Suffizienz. 

Diese Bezeichnung bürgert sich offenbar im Zusammenhang mit Klimaschutz und Nachhaltigkeit gerade ein. Man könnte Suffizienz übersetzen als "Genügsamkeit", aber das bringt meines Erachtens einen falschen Ton in die Sache, es hat so einen moralinsauren Anklang von Verzicht oder gar Askese, wie er ja fast immer mitschwingt, wenn es um die Dinge geht, die man gefälligst zum Wohle des Klimas zu tun habe. Aber das muß mit "Suffizienz" eigentlich gar nicht gemeint sein, und vielleicht täte es auch den Klimazielen besser, wenn dieser Eindruck nicht erweckt würde. 

Es ist nämlich kein Verzicht, wenn man mit etwas aufhört, weil es einem genug ist. Das ist einfach nur vernünftig. Beim Essen begreift das jeder, man sollte ja aufhören, wenn man satt ist.

Aber näher bedacht, taugt der Begriff Suffizienz für praktisch alles als sinnvolle Herangehensweise. Suffizienz ist gewissermaßen das Gegenteil von Optimierung, also einer Lebensstrategie, bei der man das maximal Mögliche aus allem herauszuquetschen versucht, ob das nun Geld oder Gesundheit, schöne Erlebnisse oder was weiß ich alles betrifft. An dem allem kann man sich nämlich in gewisser Weise "überfressen". 

Intuitiv verhalte ich mich eigentlich schon immer suffizient, ich kannte bloß kein Wort dafür. So habe ich in Debatten über angemessenes Honorar im Kollegenkreis noch nie diejenigen verstanden, die mit aller Gewalt das maximal Mögliche aus ihren Kunden herausquetschen wollen und nie mit weniger als dem zufrieden sind, als der Allerteuerste der Branche - oder auch irgendwelche generell teureren Berufsgruppen -, von seinen Kunden erhält. 

Erstens bin ich in meiner Branche glücklich und mache meine Arbeit gerne. Wäre ich das nicht, könnte ich ja diese besserbezahlte Branche stattdessen auch mal ausprobieren. Nur, dafür habe ich ja keinen Grund. 

Ich lege zweitens natürlich auch Wert auf eine angemessene Bezahlung, aber "angemessen" definiere ich so, daß noch ein bißchen Luft nach oben enthalten sein darf. Wenn ich mich ungefähr in der Mitte des Branchenüblichen bewege, finde ich das genau richtig. Nach dem Pareto-Prinzip sind die letzten Prozentpunkte, um der höchstbezahlte Dienstleister am Platz zu sein, die Mühe nämlich einfach nicht wert. Kunden, die den Teuersten wählen, sind meistens eher unangenehm im Umgang und kosten einen unbezahlte Zeit und Nerven, die man sowieso niemandem in Rechnung stellen kann, reklamieren viel und schlimmstenfalls muß man sich in Rechtsstreitigkeiten um das Honorar verwickeln lassen.

Auf so was kann ich gerne verzichten. Ich leiste mir stattdessen den Luxus, Kunden, die sich als unangenehm im Umgang erweisen, umgehend wieder loszuwerden. Bestandteil meiner Bezahlung ist damit auch, daß ich nur mit netten und umgänglichen Kunden zu tun habe, und meiner Meinung nach ist es sowieso nicht mit einer noch so hohen Summe Geld aufzuwiegen, wenn man einem Traumberuf nachgehen kann und dabei nur mit netten Leuten zu tun hat.

Genauso gehe ich auch beim Vermieten vor, und in beiden Fällen glaube ich noch nicht einmal daran, daß ich unter dem Strich finanziell schlechter fahre (wenn man die unbezahlte Arbeitszeit mit dazurechnet), aber vor allem bezahle ich die paar Euro fuffzig hin oder her, die möglicherweise herauskommen, nicht mit ständiger schlechter Laune, Schlaflosigkeit und werde nicht zum Dauergast beim Anwalt oder fange an, andere Menschen von vornherein immer das Schlechtestmögliche zuzutrauen. 

"Suffzienz" heißt, das, was man tut, so zu tun, daß man sich dabei möglichst wohlfühlt. Würde ich wirklich erkennbar unterbezahlt, dann würde ich mich natürlich auch nicht wohlfühlen. Aber wenn ich mich innerhalb des marktüblichen Bereichs befinde, habe ich dafür keinen Grund. Und ich wundere mich immer darüber, wie vielen Kollegen das anders zu gehen scheint, die also immer das rechnerische Optimum verlangen, um sich wohlfühlen zu können, dann aber erst recht unzufrieden sind, weil sie die Nebenwirkung des Optimums halt auch nicht aushalten wollen.

Sogar meine Haltung zu politischen Fragen ist von Suffizienz geprägt. Ich bin gerne bereit, mich mit Politikern zufriedenzugeben, die ich als "gut genug" empfinde. Es müssen weder Helden noch Lichtgestalten sein, und sie dürfen auch fehlbar sein. Aber was ich nicht für suffizient, somit für ungenügend, halte, sind Dinge wie Lügen und Vertuschungen und Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen des eigenen Handelns. Und jetzt, da ich Optimierung und Suffizienz als Gegensatzpaar erkannt habe, werde ich auch übertriebenen Optimierungswahn in Gesetzesvorhaben, die ich ja schon seither kritisiert habe, noch kritischer sehen.

Genauso bin ich aber auch an meine Ziele beim Abnehmen herangegangen.

Indem ich mein Ziel auf 73,5 Kilogramm festgesetzt habe, habe ich mich ja schon dem verweigert, was die meisten Leute für "suffizient" beim Abnehmen halten würden, indem ich nämlich den Endpunkt ein kleines Stückchen oberhalb des BMI-Normalgewichts gesetzt habe. Ich glaube nicht an die magische Wirkung solcher Zahlen, deshalb gehe ich davon aus, daß ich mit einem BMI von 25,6 kein höheres Gesundheitsrisiko eingehe als mit einem von 24,9. Das Risiko, daß mich das dann bei jedem Arztbesuch in Form von weiteren Abnahmeempfehlungen verfolgen würde, gehe ich ein. 

Aber die meisten Abnehmenden scheinen auch einen BMI von 24,9 nicht für suffizient zu halten, sondern streben von vornherein in den niedrigstmöglichen BMI-Bereich, der noch als normal gilt, also knapp vor dem, was als Untergewicht gilt, weil sie aus irgendeinem Grund glauben, das wäre optimal. Und weniger als das Optimale wollen sie nicht anstreben, weil ihnen dieses Optimierungsprinzip schon längst in Fleisch und Blut übergegangen ist.

Etwas ganz ähnliches beobachte ich gerade in der Low-Carb-Community auf Twitter, wo die Vorteile der Low Carb/Low Fat-Variante vor allem dadurch zusammengefaßt werden, daß einzelne Protagonisten, die gar kein Übergewicht mehr haben, total begeistert darüber sind, durch diese Ernährungsweise noch einmal ein paar Kilo abgenommen und ihren Körperfettanteil noch weiter verringert zu haben. 

Ich kann mir aber nur schwer vorstellen, daß diese zusätzliche Abnahme ihnen auch noch zusätzliche gesundheitliche Vorteile bringt. Deswegen stelle ich mir die Frage: Wozu soll das dann eigentlich noch gut sein, etwaige Eitelkeiten oder Einfach-ausprobieren-Wollen einmal ausgeklammert? Steckt in diesen Leuten vielleicht, und das gerade wegen der meist bei ihnen vorhandenen Übergewichts-Vorgeschichte, einfach die Vorstellung so tief drin, daß abnehmen immer gut ist und Fett etwas ist, dessen Abbau immer eine physische Verbesserung darstellt? In Wirklichkeit ist zu wenig Körperfett ebenfalls ein Gesundheitsrisiko, und niemand kann einem auf ein Kilogramm plusminus genau sagen, wo die Grenze bei einem selbst liegt, ab der man in einen Bereich rutscht, in dem man sich mit noch weniger Körperfett nicht gesünder, sondern ungesünder machen würde. Deshalb fände ich es naheliegender, weil unriskanter, wenn schon, dann genau die Mitte des Normalgewichtsbereichs auszuwählen. 

Nur, für mich selbst brauche ich kein Normalgewicht. 73,5 Kilogramm hören sich für mich sehr suffizient an. Sollte ich mich mit ihnen dann nicht wohlfühlen, werde ich darüber nachdenken, ob ich weiter abnehmen oder vielleicht auch umgekehrt wieder ein bißchen zunehmen sollte. (Mindestens das letztere sollte ja leicht zu erreichen sein ...)

"Suffizienz" ist außerdem - und zwar in allen Bereichen - ein sehr individuelles Konzept, denn was ich aus welchen Gründen als genügend empfinde, kann niemand festlegen außer mir selbst. (Natürlich kann aber unter dem Schlagwort "Suffizienz" politisch festgelegt werden, womit ich es mir gefälligst genügen lassen soll, aber das heißt noch lange nicht, daß ich mich damit wohlfühlen werde, wenn mein eigenes Suffizienz-Empfinden mir etwas anderes sagt.) Das gilt für die Raumtemperatur genauso wie für Art und Menge meiner Mahlzeiten, die Größe meiner Wohnung oder andere Aspekte meiner Lebensweise.

Mein Zielgewicht ist nicht "optimiert", aber ich empfinde es als "suffizient": Es kommt mir einfach ausreichend vor, bis dahin und nicht weiter abzunehmen. Falls es in den nächsten Jahren noch schwieriger wird, weiter abzunehmen, kann es auch sein, daß ich "Suffizienz" bei meinem Gewicht umdefiniere, denn natürlich kommt es beim Wohlfühlen nicht auf die Zahl auf der Waage an, sondern auf das Gefühl beim Blick in den Spiegel und das Körpergefühl bei Bewegungen. Momentan merke ich dabei noch mein Bäuchlein, aber gerade in letzter Zeit konzentriert sich meine Abnahme durch lange Fastenintervalle erfreulicherweise vor allem auf den Bauch, und ich beobachte sein Schrumpfen mit Befriedigung. Deshalb kann ich sicher sagen, daß ich mit dem Fasten weitermachen werde, was auch immer die Waage anzeigt. Es führt ja durch den schrumpfenden Bauch zu mehr ganz konkretem Wohlbefinden.

Ebenso ist meine Abnahmestrategie als solche auch nicht optimiert, sondern nach Suffizienzkriterien gewählt, denn mir war es ja von Anfang an wichtig, daß ich das, was ich gerade mache, so lange weitermachen kann, wie ich will, ohne etwas in meinem Leben zu vermissen. Das habe ich sowohl Diäthaltenden als auch Low-Carb-Fans voraus, denn trotz aller anderslautenden Lippenbekenntnisse müssen die meisten von ihnen das, worauf sie verzichten, tatsächlich vermissen. Die Rückfallhäufigkeit in die berüchtigten "alten Verhaltensmuster" spricht da eine deutliche Sprache. 

Ob das, was ich mache, gesund ist oder nicht, kann ich nicht sicher sagen, obwohl mir die Vorstellung gefällt, daß ich meinem Stoffwechsel damit etwas Gutes tue. Ich mache es aber nicht für meinen Stoffwechsel, sondern für mein subjektives Wohlbefinden, und an dem habe ich nichts auszusetzen.

Was meine Gesundheit insgesamt betrifft, hat es mich bei WHO-Definition von Gesundheit eigentlich schon immer gegruselt, anstatt mich anzuspornen, sie erreichen zu wollen: 

"Gesundheit ist ein Zustand völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen. Sich des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu erfreuen ist ein Grundrecht jedes Menschen, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Überzeugung, der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung."

Ich finde diese Definition total demotivierend. Nach ihr ist Gesundheit nämlich ein rein fiktiver Zustand. Niemand ist aus Sicht dieser Definition gesund genug, um es sich damit genügen zu lassen. Das ist doch ein trostloser Gedanke, sich ständig an einem Ideal messen zu müssen, gegen das man natürlich, wenn man die eigene Gesundheit betrachtet, immer meilenweit abfallen muß und deshalb pausenlos irgendwas "für die Gesundheit" tun zu müssen glaubt.

So betrachtet ist es kein Wunder, daß der Gesundheitsbereich eine ständige Brutstätte medizinischen Optimierungswahns geworden ist. Aber in wie vielen Bereichen reicht das medizinische Wissen überhaupt aus, um Optimierungsempfehlungen zu geben, die sich nicht nachträglich als falsch und oft sogar kontraproduktiv erweisen? Ich glaube, es könnten viel mehr Krankheiten verhindert werden, wenn in der Gesundheitspolitik und im Public-Health-Bereich das Prinzip der Suffizienz das der Optimierung als unterschwellige Motivation in den einzelnen Zielsetzungen ersetzen würde.

Interessante Vorstellung, daß ich gerade etwas herausgefunden hatte, womit man rein theoretisch die Welt besser machen könnte, zum Beispiel, indem man eine politische Bewegung für einen suffizienzorientierten gesellschaftlichen Ansatz gründet. Aber "Suffizienz" bedeutet für mich auch, meine Ziele nicht unrealistisch hoch zu stecken. Es reicht mir deshalb, wenn neben mir selbst auch der eine oder andere Leser meines Blogs das Gefühl bekommen hat, "Suffzienz" sei ein gutes Mittel, um selbst ein besseres Leben zu führen.




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