Dabei habe ich natürlich ein bißchen gemogelt. Erstens deshalb, weil es ja ein "Nachher-Wert" ist, von dem aus ich wieder auf schätzungsweise zwischen 109 und 110 Kilogramm zunehmen werde, bevor ich nächste Woche am Dienstag meinen ersten Fastentag der nächsten Woche einlegen werde. Aber auch, weil mich vor drei Tagen schon wieder eine Magen-Darm-Geschichte erwischt hatte, und zwar mit ganz ähnlichen Symptomen wie die vor einem Monat. Als Nebeneffekt sorgte das auch dafür, daß mein Gewicht steiler als sonst nach unten ging. Ich habe zwei Tage lang nichts gegessen, nicht als bewußtes Fasten, sondern weil ich beim besten Willen nichts heruntergebracht hätte. Deshalb lasse ich den eigentlich für heute geplanten Fastentag auch ausfallen, obwohl ich immer noch vorsichtig mit dem Essen bin.
Die Sache war unangenehm genug, um mich darüber nachdenken zu lassen, einen Arzt aufzusuchen, denn immerhin habe ich das jetzt zum zweiten Mal erlebt und auf ein drittes Mal kann ich echt verzichten, die erste Nacht fühlte ich mich beide Male sterbensschlecht. Bislang bin ich nicht dazugekommen, einen Termin zu vereinbaren (immerhin hatte ich einen Tag krankfeiern müssen und die Arbeit türmte sich auf meinem Schreibtisch), aber eine Google-Recherche bestätigte meine Befürchtung: Mein Hausarzt, den ich zuletzt, glaube ich, 2013 aufgesucht habe, ist inzwischen im Ruhestand. Ich werde mir also einen neuen suchen müssen.
Meinen Hausarzt mochte ich, weil er erfahren und pragmatisch war, nicht angesteckt von all diesem aufgeregten Präventions-Getue, Cholesterin hin und Blutdruck her. Ich habe ihn nicht aktiv vermieden, es hat sich einfach jahrelang kein Grund ergeben, ihn aufzusuchen. Ich war seither bei der Frauenärztin, einmal bei einem HNO-Facharzt, einmal bei einem Orthopäden. Und natürlich beim Zahnarzt.
Falls ich mich zu einem Arztbesuch entschließen sollte, wäre es mein erster seit 2015. Ich gehe ungern zum Arzt und mache das nur, wenn es zwingend erforderlich ist, also eine Eigenbehandlung nicht sinnvoll erscheint, aber gleichzeitig sollte ich auch damit rechnen können, daß der Arzt mich nicht mit Allerweltsphrasen abspeist (etwa, ich solle abnehmen, haha, guter Witz), und das passiert meiner Erfahrung nach regelmäßig, wenn die Sache nicht auf den ersten Blick korrekt diagnostiziert werden kann. Mit einer Mandelentzündung gehe ich ohne Zögern zum Arzt, weil ich weiß, daß er mir das Richtige dagegen verschreiben wird. Kniebeschwerden unklarer Ursache waren der Auslöser dafür, daß ich es mir seit ein paar Jahren sehr genau überlege, wann mir ein Arztbesuch etwas bringt und wann nicht.
Diese Kniebeschwerden traten sehr plötzlich auf, als jäher Schmerz beim Aufstehen vom Schreibtisch. Die Schmerzen waren beim Gehen ca. 24 Stunden spürbar, dann waren sie wieder weg. Etwa eine Woche später traten sie allerdings wieder in genau derselben Form auf, als ich eine Treppe stieg, deren Stufen eine etwas ungewöhnliche Höhe aufwiesen. Gleichzeitig hatte ich auch das Gefühl, als wäre irgendetwas an meinem Knie locker. Ich tippte deshalb darauf, daß ich mich beim ersten Auftreten des Schmerzes irgendwie unglücklich bewegt und dabei irgendwelche Bänder überdehnt hatte.
Eigentlich wollte ich von dem Orthopäden, den ich bis dahin nicht gekannt hatte und bei dem ich durch reines Glück einen Termin nach zwei, drei Tagen bekam, lediglich wissen, wie lange es dauert, bis sich das wieder normalisiert, und wie ich mich bis dahin am besten verhalten solle. Der Halbgott in Weiß hat sich allerdings meine Beschreibung nicht einmal angehört, nachdem ich "Knie" gesagt hatte. Beim Hereinkommen hatte er ja schon gesehen, daß ich fett war, und ich hatte Kniebeschwerden, also konnte das ja nur eine beginnende Arthrose sein. Daß er mir schon nach den ersten Worten gar nicht mehr zuhörte, merkte ich unter anderem daran, daß er immer wieder auf meine "aktuellen Beschwerden" zu sprechen kam, obwohl ich laut und deutlich gesagt hatte, daß die Beschwerden, wie beim ersten Mal, innerhalb von 24 Stunden, also längst wieder abgeklungen seien.
Laut Röntgenbild lag er mit der Arthrose noch nicht einmal falsch. Allerdings bekäme er das in meiner Altersgruppe ungefähr bei jedem Zweiten heraus, und die allermeisten davon haben keinerlei Symptome. Es paßte außerdem einfach nicht zu dem plötzlichen Auftreten und dem Lockerheits-Gefühl. Kurz, ich glaube ihm schon, daß ich eine beginnende Kniearthrose habe, aber nicht, daß sie auch nur das Geringste mit diesen Beschwerden zu tun hat.
Was mich aber am meisten in Harnisch brachte, waren seine superklugen Ratschläge. Schwimmen gehen sollte ich, um dadurch abzunehmen, empfahl er mir. "Schon fünf Kilogramm hin oder her helfen!" Er hatte davor nicht einmal danach gefragt, ob ich in letzter Zeit schon einmal versucht hatte, abzunehmen (die Antwort hätte "Ja" gelautet), auf welche Weise ("Verschiedenes, seit einem halben Jahr probiere ich es mit Gymnastik") und mit welchem Erfolg ("Keiner. Ich nehme ständig weiter zu."). Aus irgendeinem Grund schien er fest daran zu glauben, daß ich mit voller Absicht fett sei. Der Fokus seiner ärztlichen Beratung lag somit darauf, mir in Mediziner-Rotwelsch verklausuliert zu vermitteln, wie riskant mein störrisches Beharren darauf, fett zu bleiben, aus gesundheitlicher Sicht doch sei.
Dieser Arztbesuch war ohne Übertreibung eine Zäsur in meinem Leben. Geärgert habe ich mich über Ärzte schon seit meinem vierzigsten Geburtstag mehr oder weniger regelmäßig, aber nun zog ich eine Bilanz und stellte fest, daß ich im Lauf von zwölf Jahren noch NIE eine vernünftige Antwort bekommen hatte, wenn ich mit einer Sache zum Arzt gegangen war, von der ich nicht von vornherein selbst sagen konnte: Ich vermute, ich habe ... (Mandelentzündung, eine Helicobacter-Infektion ...). Eine ganze Reihe von vergleichsweise harmlosen, aber lästigen Zipperlein habe ich deshalb nach einigen Fehlversuchen ohne weiteren ärztlichen Rat mehr oder weniger ausgesessen, und wundersamerweise haben sich die meisten von ihnen tatsächlich früher oder später in Wohlgefallen aufgelöst, teils, nehme ich an, sogar als direkte Folge des Fastens, jedenfalls besteht ein zeitlicher Zusammenhang.
Das Ergebnis meiner Bilanz vor vier Jahren war, daß ich entschied, nur noch im Akutfall zum Arzt zu gehen, und das möglichst auch nur dann, wenn ich darauf hoffen kann, daß er weiß oder herauszufinden bereit ist, was mir fehlt. Ich habe mich, da ich schon dabei war, auch entschieden, nicht mehr an Vorsorgeuntersuchungen teilzunehmen; dabei gab am Ende den Ausschlag, daß meine Frauenärztin mir einfach zu geschäftstüchtig dabei ist, ihre IGEL-Leistungen für Selbstzahler unters Volk zu bringen, und mir damit die Besuche bei ihr verleidet hat. Einmal hat sie wahrhaftig sogar eine Unterschrift von mir verlangt, mit der ich bestätigen mußte, daß ich eine solche Selbstzahlerleistung ausdrücklich nicht wolle. Da ich inzwischen jenseits der Menopause war und von ihr die Pille nicht mehr benötigte, ging es bei ihr ja nur noch um die Krebsvorsorge, deren Sinn ja auch von manchen Fachleuten mit guten Argumenten bezweifelt wird.
Vielleicht erhöhe ich durch meine Entscheidung mein Risiko, eines gräßlichen Krebstods zu sterben, aber sollte das wirklich geschehen, werde ich niemand anderem die Schuld daran geben, versprochen.
Das einzige, was ich also weiterhin mache, sind Besuche beim Zahnarzt, weil mir dabei Sinn und Nutzen einfach einleuchten.
Aktuell wiege ich übrigens nicht die von ihm angedachten fünf, sondern 18 Kilo weniger als bei jenem Besuch beim Orthopäden, und das nicht etwa, weil ich seinen Ratschlägen gefolgt wäre. Im Gegenteil habe ich sein Rezept für Physiotherapie daheim sofort weggeworfen und mich gar nicht erst mit den Öffnungszeiten von Hallenbädern befaßt, weil die mir alle zu umständlich zu erreichen gewesen wären und ich nicht einsah, warum das besser wirken sollte als die tägliche Gymnastik, die ich mir selbst schon viele Monate zuvor verordnet hatte. Die ebenfalls verschriebene Kniebandage, die mir intuitiv eigentlich schon sinnvoll vorkam, hätte ich mir dagegen beschafft, aber als ich ein paar Tage später vor dem Sanitätshaus stand, hatten sie wegen Urlaub geschlossen, und als sie wieder offen hatten, wußte ich schon, daß ich die Bandage sowieso nicht brauchen würde. Also landete dieses Rezept auch im Papiermüll.
Die Kniebeschwerden sind bis heute nie wiedergekommen. Ein paar Tage hatte ich dieses Lockerheitsgefühl im Knie noch, aber nach etwa einer Woche verging es von alleine.
Deshalb bin ich mir im Moment noch unschlüssig, ob ich in dieser Magen-Darm-Geschichte einen Arzt aufsuchen sollte, noch dazu einen wildfremden Weißkittel. Bei meinem alten Hausarzt hätte ich es wohl getan. Vielleicht versuche ich doch als Erstes, selbst herauszufinden, was diese Beschwerden ausgelöst haben könnte.
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