Dienstag, 23. September 2025

Maithink: halbe Wahrheiten über Low Carb

Mein Gewicht heute früh nach dem ersten von vier aufeinanderfolgenden Fastentagen: 76 Kilogramm. Ein klarer Fall von: Na ja, aber jetzt sind es ja bloß noch drei Wochen bis zum Start der nächsten Low-Carb-Phase. Blöd nur, daß ich nächste Woche nicht mehr als einen einzigen Fastentag einbauen kann, weil ich für ein paar Tage zu meiner Mutter fahre. Und in der Woche danach muß ich mich auf drei Fastentage beschränken, weil ich am Freitag den Port rauskriege und keine Lust auf Wadenkrämpfe auf dem OP-Tisch habe, also am Tag vorher keinen vierten Fastentag haben sollte. 

Den Traum von weniger als 77 Kilogramm zum Start von Low Carb habe ich inzwischen begraben. Aber dann ist das halt so.  

Wie es der Zufall fügte, ergab es sich, daß ich heute auch über Low Carb etwas zu schreiben habe, und zwar über ein Video von Frau Dr. Mai Thi Nguyen-Kim und ihrem Kanal "Maithink x". Ein Geständnis vorab: Ich habe es bislang vermieden, Videos aus diesem Kanal anschauen, weil mir dieses überdrehte Gequake, die Witzisch-Witzisch-Tralala-Ästhetik und die schnellen Schnitte des Formats wahnsinnig auf die Nerven gehen. Bis dieses Low-Carb-Video kam, fehlte mir allerdings ein Anreiz, der Frage nachzugehen, ob hinter der nervigen Fassade vielleicht doch mehr inhaltliche Substanz steckt, als ich beim Anblick spontan vermutet hatte. Immerhin, Thomas Seyfried hat mich ja schließlich doch inhaltlich überzeugt, obwohl die Interviews mit ihm auf den ersten Blick so unseriös wirkten, daß ich spontan erst einmal etwas reserviert reagierte. 

Daß ein Video, das nach Eigenangabe des Kanals "Die ganze Wahrheit" über Low Carb enthüllen würde, im Grunde nur Bockmist sein konnte, den Verdacht hatte ich allerdings trotzdem gleich. Der Vorteil bestand darin, daß ich bei diesem Thema keine langen Recherchen machen mußte, um benennen zu könne, was meines Erachtens inhaltlich davon zu halten war. Ich mußte mich nur überwinden, es anzuschauen. Also überwand ich mich. Ich gebe aber zu, das mußte ich in zwei Etappen tun. Ein komplettes Video auf einmal von dieser Frau halte ich einfach nicht aus.  

Dieses Video brachte mich also, anders als das von Seyfried, nicht ins Grübeln und Rätselraten. Ich halte es, kurz gesagt, für untauglich, um jemandem die Frage zu beantworten, ob es sinnvoll ist, es mal mit Low Carb zu versuchen. Und das, obwohl Frau Dr. Nguyen-Kim ihre Hausaufgaben eigentlich schon gemacht hat. Ich kann ihr noch nicht einmal vorwerfen, sich zu einem Thema, zu dem sie erkennbar ansonsten keinen Bezug hat, nur die Basics angelesen und ein paar einschlägige Studien zitiert zu haben, denn sie trieb daneben auch noch eine junge Frau namens Saadet auf, die bereit war, einen Selbstversuch über zehn Tage zu machen. Über dessen Ergebnisse wurde dann in dem Video ebenfalls berichtet. In Kürzestform: Saadet war erstens enttäuscht von nur 800 Gramm Abnahme in zehn Tagen. Und zweitens beschrieb sie in geradezu herzzerreißender Weise, wie gräßlich es gewesen sei, für so ein enttäuschendes Ergebnis zehn Tage lang leiden zu müssen. 

800 Gramm in zehn Tagen, das kann bei Low Carb auch tatsächlich unterdurchschnittlich sein, aberauch noch noch im Rahmen des Erwartbaren liegen. Das kommt darauf an, ob Saadet ihren Gewichtsendstand vor ihrer ersten Nicht-LC-Mahlzeit festgestellt hat. In dem Fall verstehe ich ihre Frustration. Sollte sie aber ihr aktuelles Gewicht ein bis zwei Tage nach diesem Ende wiedergegeben und sich dazwischen mit den so bitter entbehrten Kohlenhydrate vollgestopft haben, erzählt das Video die falsche Geschichte. Ich weiß außerdem nicht, was sie gegessen hat - einmal abgesehen davon, daß sie sich vegetarisch ernährt und nach eigenem Bekunden viel Käse konsumiert hat. Hat sie selbst gekocht oder auf einschlägige Fertigprodukte zurückgegriffen, etwa bei Brot und Brötchen? Und hat sie sich für das interessiert, was sie essen kann und was man Leckeres daraus machen könnte oder folgte sie irgendeinem vorgegebenen Ernährungsplan? Und wie war das noch gleich mit dem Obst? Ist es ihr damit wirklich gelungen, unter 75 Gramm Carbs zu bleiben oder gab's in den zehn Tagen auch Ausreißer und wenn ja, wieviele? 

Tatsächlich wäre das Video interessanter gewesen, hätte Saadet die Zuschauer daran teilhaben lassen, was sie in diesen zehn Tagen wirklich gegessen hat. Daß es so vage geblieben ist, macht mich ein bißchen mißtrauisch. 

Wie auch immer.  Daß man bei Low Carb immer in den ersten zwei bis drei Tagen Unmengen an Wasser verliert, weil sich zunächst die Glykogenspeicher in der Muskulatur leeren und dieses Wasser freigeben, wird so gut wie nirgends in Studien erwähnt, obwohl es eigentlich eine Binse ist und jeder es wissen sollte, der sich mit dieser Art von Ernährung befaßt. Die Frage, ob Saadet vor ihrem letzten Wiegen und Notieren eines Endstands schon wieder einen Tag oder auch nur eine Mahlzeit lang in KH geschwelgt hatte, ist also entscheidend dafür, ob sie überhaupt bei einem echten Gewichtsminus herausgekommen ist oder sie im Gegenteil sogar zugenommen hatte. Der Verlust und die Wiederzunahme von Wasser sind keine Ab- bzw. Zunahme im eigentlichen Sinne, denn das hat nichts mit dem zu tun, was man beim Abnehmen verlieren und anschließend nicht wieder aufbauen möchte, nämlich Fettgewebe. Es ist außerdem unvermeidbar, wenn man eine LC-Ernährung beendet. Wenn ich Anfang Dezember meine sechswöchige LC-Phase beende, dann werde ich vermutlich um die 5 Kilo abgenommen haben und innerhalb von zwei bis drei Tagen zwei davon wieder zugenommen haben. Die verbleibenden drei Kilo sind als Abnahme für sechs Wochen aber absolut zufriedenstellend. Sie bewegt sich, nebenbei bemerkt, in etwa in derselben Größenordnung wie bei Saadet. 

Die Sache mit dem Wasser zeigt immerhin, wo der Hund begraben ist, wenn man sich darauf verläßt, daß es reicht, Studien zu lesen und zu verstehen, um zutreffende Gesundheitsinformationen geben zu können. Im vorliegenden Fall sogar ganz besonders, weil Studien, die kürzer als zwei Jahre laufen, bei der Frage, wie man sein Körpergewicht reduziert bzw. eine Zunahme verhindert, sowieso immer und zwangsläufig falsche Antworten geben, weil dabei immer bei gleichbleibend hoher Energiemengeeine lineare Entwicklung unterstellt wird, anstatt zu berücksichtigen, daß der Stoffwechsel ein Gleichgewicht zwischen Zufuhr und Verbrauch von Energie herzustellen versucht, wenn ihm das Mißverhältnis zu lange andauert. 

Oh ja, ich kann Wissenschaftsskeptiker sehr gut verstehen. Ich finde es ziemlich frustrierend, mit welcher Regelmäßigkeit einem Ergebnisse von Vier-Wochen- oder Vier-Monats-Studien als angebliche wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über erfolgreiche und weniger erfolgreiche Abnahmemethoden verkauft werden. In JEDER Studie, die länger als ein Jahr dauert und in der die Abnahme im Zeitverlauf in einer Kurve wiedergegeben wird, erkennt man auch als Laie mit bloßem Auge, daß spätestens nach zwölf Monaten im Durchschnitt aller Teilnehmer bereits eine Wiederzunahme eingesetzt hat. Trotzdem bleibt das von den zugehörigen Studienautoren wie auch von allen Wissenschafts- und sonstigen Journalisten, die die Studie aufgreifen, fast immer hartnäckig unerwähnt. Schlimmer noch, sie verkaufen einem eine erkennbar ins Negative abrutschende Entwicklung unweigerlich als einen Erfolg, wenn nur am Ende des Studienzeitraums das Gewicht immer noch ein bißchen unter dem Ausgangsgewicht liegt. So, als wäre der Endpunkt ein endgültiger Endstand, obwohl man sich den Gewichtsverlauf ja weiterdenken müßte. 

Eigentlich müßte jeder, der sich wissenschaftlich mit der Frage beschäftigt, wie man der Adipositas-Epidemie zu Leibe rücken sollte, das schon lange erkannt haben. Sollte das nicht der Fall sein, kommen mir Leute, die sich solche Merkwürdigkeiten wie üblich nur mit einer Verschwörung erklären können, zumindest nicht vernagelter als die Studienautoren selbst vor.

Aber zurück zu Maithink. 

Frau Dr. Nguyen-Kim hätte besser daran getan, auch noch jemanden zu Rate zu ziehen, der sich mit LC aus der Praxis auskennt und auch mit diesem Phänomen der wasserbedingten Anfangsabnahme vertraut ist, die nach dem Ende eine entsprechende Zunahme bedeutet - freilich muß ich aber zugeben, daß nicht einmal allzu viele LC-Enthusiasten darüber Bescheid wissen, da einem Low Carb ja als eine lebenslänglich geltende Ernährungsumstellung verkauft wird. Gestehen wir ihr also zu, daß dieser Irrtum für sie schwer zu vermeiden gewesen wäre, da sie ja keine Ernährungexpertin ist, sondern sozusagen bei diesem Thema nur fortgeschrittener Laie mit professionellem Vorwissen darüber, wie man wissenschaftliche Studien liest. 

In jedem Fall hätte jemand mit LC-Erfahrung sie aber vermutlich vor dem Fehler Nr. 2 bewahren können, nämlich einer gar zu ehrgeizigen Kohlenhydrat-Reduktion. Mich würde mal interessieren, auf welche Weise sie auf diese 75 Gramm KH gekommen ist, denn es kursieren ja ganz unterschiedliche Werte. Aber 100 Gramm sind meinem Eindruck nach die häufigere Variante, und sie kommt mir auch sinnvoll vor. Wenn ich als Durchschnittswert 100 Gramm KH anpeile, dann reicht das nämlich locker, um damit abzunehmen, und es bietet so viel mehr Spielräume bei der Ernährung, daß es in jedem Fall die einfacher umsetzbare Variante ist. 75 Gramm bedeuten meiner Erfahrung nach aber auch keine besser Abnahme - dies vorauszusetzen ist der übliche "Viel hilft viel"-Irrtum. Anfang des Jahres habe ich ja ein paar Wochen lang testweise 50 Gramm als Obergrenze ausprobiert, und das habe ich nicht nur drei Wochen lang durchgehalten, sondern ich kann bestätigen, daß es die mit 100 Gramm gewohnte Abnahmewirkung nicht verbessert hat. 

Und richtig, je weniger Kohlenhydrate erlaubt sind, desto schneller macht die Sache keinen so richtigen Spaß mehr. Trotzdem fand ich das theatralische Gestöhne und Gejammer von Saadet reichlich übertrieben. Die 50 Gramm Obergrenze habe ich mehr als doppelt so lang durchgezogen wie sie die 75 Gramm, ohne mich deshalb so anzustellen. Was, frage ich mich außerdem, war eigentlich der Sinn dieser Theatralik? Soll dieses Video Leute, die darüber nachdenken, es mal mit Low Carb zu probieren, vor allem davon abhalten, es zu tun? Und warum eigentlich? 

Eine freudlose Dauerverzicht-Veranstaltung aus einer Low-Carb-Ernährung zu machen, wie es in diesem Video dargestellt wird, ist sowieso nicht nötig. Es ist nämlich ein Märchen, daß eine Diät bzw. hier Ernährungsumstellung sich wie eine Strafe anfühlen muß, um zu wirken, wie das einem zwischen den Zeilen immer suggeriert wird. Tatsächlich ist es sogar eine der wichtigsten Voraussetzung für den Erfolg, daß man es sich damit so komfortabel wie möglich macht. Verzicht auf Alkohol  etwa ist unnötig, wenn man Weinschorle mag, vorzugsweise weiß/sauer. Aber auch dunkle Schokolade geht. Und Kartoffeln gehen an sich auch, auch wenn man höchstens halb so viel verwenden sollte also man es sonst gewohnt war. Es spricht auch nichts dagegen, bei besonderen Anlässen, etwa Familienfeiern, zu unterbrechen und einen Tag lang normal zu essen. Ich mache das jedesmal im Herbst am Geburtstag meiner Mutter. Ebenso ist es sehr wohl möglich, Low Carb nur phasenweise zu machen. 

Erst kürzlich habe ich mich an einem Flohmarktstand mit einer jungen Frau unterhalten, der ich ein Keto-Kochbuch abgekauft habe, weil ich vor jeder LC-Phase neben meinen LC-Klassikern auch gerne mal ein paar neue Ideen finden will. Aber erst als ich dann daheim das Buch durchblätterte, begriff ich so richtig, warum auch diese Frau, wie so viele, ihre Ernährungsumstellung nicht durchgehalten hatte. Käme ich von null auf Keto und hätte dabei dieses Buch als Hauptinformationsquelle, würde ich bestimmt auch nicht durchhalten. Die Rezepte waren fast alle einfach zu langweilig. Omelettes mit dieser und jener Gemüse-Ergänzung, dafür braucht man doch wirklich kein Kochbuch. Da bin ich über YouTube-Videos und oft genug auch von ganz alleine auf viel interessantere und bessere Rezepte gekommen. 

Diese freudlos-miesepetrige Verzichtslogik ist natürlich auch ein wichtiger Faktor dafür, daß Low-Carb-Ernährung, wie das Video es auch anspricht, am Ende auch nicht vor einer Wiederzunahme schützt. Natürlich nicht, wenn man es nur zeitlich begrenzt durchhält, weil man so vieles von seiner vorherigen Ernährung vermißt. Essen muß halt auch Spaß machen. Eine Ernährungsweise, die einem zu viel Spaß verbietet, wird bei niemandem auf Dauer funktionieren. 

***

Keine Frage, unser Altersversorgungssystem funktioniert schon jetzt nur noch so lala, und das wird im Lauf der nächsten Jahre auch nicht besser, sondern tatsächlich schlimmer werden.  Das kann allerdings nicht der Grund dafür sein, daß ausgerechnet jetzt mit soviel Getöse alle möglichen Änderungsvorschläge durch die Medien gehen. Dahinter steckt wohl das Bestreben, ein Zeitfenster nutzen zu wollen, um die jeweils eigenen Vorstellungen in den zugehörigen Gesetzesänderungen unterzubringen. So ist es auch legitim, sich zu fragen, wer eigentlich hinter welchem Vorschlag stecken mag und welche Interessen damit verfolgt werden.

 Wenn's nach mir ginge, wäre schon vor dreißig Jahren auf ein Grundrentensystem umgestellt worden. Aber das Zeitfenster, in dem das sinnvoll gewesen wäre, hat sich so kurz vor dem Eintritt meiner Generation in den Ruhestand mittlerweile geschlossen. 

Als "oberste Wirtschaftsweise" hat die ZEIT Frau Prof. Monika Schnitzer vorgestellt, von der ein Interview zu dieser Thematik wiedergegeben wurde. Dieses Interview ließ mich sehr an der Weisheit oder wenigstens dem Wissen dieser Frau zweifeln, denn es wimmelt nur so von wirklich groben Anfängerfehlern. Ein Beispiel:

 Das Problem ist: Wir leben länger. Das ist eine tolle Sache. Aber es heißt auch, dass wir im Schnitt acht Jahre länger in Rente sind als noch vor 40 Jahren. Ich kann es am Beispiel meiner eigenen Familie erläutern: Zur Zeit meiner Großeltern lag das Renteneintrittsalter bei 65. Das haben meine Großeltern nicht erreicht. Meine Eltern aber sind schon über 90 geworden.  

Frau Schnitzer gehört meiner Generation an und ist nur vier Jahre älter als ich, somit ist ihre Elterngeneration meiner vergleichbar und dasselbe gilt auch für meine Großelterngeneration. Eigentlich müßte sie wissen, daß Frauen beider Generationen keineswegs mit 65, sondern bereits mit 60 in Rente gegangen sind. Das Renteneintrittsalter 65 galt nur für Männer. Haarsträubend finde ich es aber auch, daß sie den Tod ihrer Großeltern vor Renteneintritt als normal darstellt, denn das war auch vor vierzig Jahren keineswegs der Normalfall. Meine Großeltern beispielsweise wurden 78 bzw. 87 Jahre alt. 

In meiner Familie war es jedenfalls meine Mutter, die bei der Rente am besten weggekommen ist. In Wirklichkeit zahle ich, sofern ich bis 67 arbeite, sieben Jahre länger als sie, aber ebenso wie meine Großmutter in die Rentenkasse ein.  

Richtig ist dagegen, daß die Geburtenrate schon seit vierzig Jahren zu niedrig ist, um in jeder neuen Generation eine vergleichbare Zahl an Erwerbspersonen hervorzurufen. Die Frage, welche Wirkung eine dauerhafte Geburtenrate von 2,1 oder mehr dann eigentlich auf die Arbeitslosenzahlen gehabt hätten, darf man trotzdem ruhig mal stellen. Die Kinder meiner Generation standen zum Beispiel nach Schule und Ausbildung vor dem Hartz-IV-Arbeitsmarkt wie bestellt und nicht abgeholt und wurden jahrelang mit Hungerlöhnen abgespeist. Und das, obwohl wir "Boomer" uns ja auch durchschnittlich auf 1,3 Kinder beschränkt hatten. Ich mag mir überhaupt nicht ausmalen, wie 2005 gewesen wäre, hätten wir Schnitzers Wunschzahl an Kindern bekommen. 

 Das hier ist auch ärgerlich: 

 ZEIT: Das Thema Rente ist für junge Menschen vertrackt. Im Prinzip ist es die Psychologie der Vorsorge: Geh regelmäßig zum Zahnarzt, achte auf deine Ernährung, denk dran, dass du irgendwann 70 bist und Geld brauchen wirst.  Mit 20 sind solche Themen nicht so sexy. Müssten wir nicht alle schon mit 20 anfangen zu sparen?

Schnitzer: Mit 20 ist es schwierig zu sparen, denn da hat man ja noch jede Menge Ausgaben, sei es für die Ausbildung, sei es, weil man gerade eine Familie gründet. Dann will man vielleicht eine Wohnung kaufen und braucht sein Geld. Man sollte spätestens mit 30 anfangen, zu sparen, und dann steigend etwas zurücklegen.

Wo lebt Frau Schnitzer eigentlich - irgendwo im Orient oder gleich auf einem ganz anderen Planeten? Mit 20 gründet hierzulande so gut wie niemand mehr eine Familie. Ich bin mit 21 Mutter geworden, und das war schon vor fast vierzig Jahren ungewöhnlich früh. Im Kolleginnenkreis kam die große Schwangerschaftswelle erst, als für die meisten die 30 entweder in Sicht oder bereits überschritten war. 

Der nächste Satz ist noch viel haarsträubender, denn eine Wohnung zu kaufen, IST Altersvorsorge und widerlegt außerdem den vorausgegangenen Satz, weil man ohne gespartes Geld von keiner Bank Geld bekommt und folglich auch keine Wohnung kaufen kann. Wer aber bis zu diesem Punkt gekommen ist, der hat es eigentlich fast schon geschafft mit der sinnvollen Altersvorsorge, weil er nun zwar die zugehörige monatliche Belastung stemmen muß, aber im Gegenzug keine Miete mehr zahlt, und das bis an sein Lebensende. Das läßt sich auch ganz einfach überschlagsmäßig ausrechnen, was das finanziell bedeutet: Wer jetzt im Monat 1000 Euro Kaltmiete bezahlt, der kann beim Erwerb einer selbstgenutzten Eigentumswohnung pro Jahr 12.000 Euro in Zins und Tilgung stecken, die er andernfalls seinem Vermieter bezahlt hätte. Eine solche Finanzierung läßt sich für einen Mittzwanziger oder -dreißiger auch noch problemlos so planen, daß sie bis zum Ruhestand abgeschlossen ist. Anschließend wohnt man miet- und belastungsfrei bis an sein seliges Ende und kann das, was Freunde und Nachbarn dann für die Miete abdrücken müssen (vermutlich in dreißig Jahren erheblich mehr als die aktuellen 1000 Euro Kaltmiete) als seine Zusatzrente betrachten. 

Also, bitte: Mit welcher anderen Kapitalanlage schafft man es so einfach auf eine Zusatzrente in vierstelliger Höhe? Als Mieter würde ein Normalverdiener solche Beträge pro Jahr für die Altersvorsorge überhaupt nicht zusätzlich abzweigen können. Das macht jede andere Altersvorsorge weniger effektiv. 

Man braucht nun wirklich kein Wirtschaftsweiser sein, um das zu kalkulieren. Frau Schnitzer weiß davon aber augenscheinlich nichts. Deshalb empfiehlt sie auch nicht eine Reform der Förderung von Wohneigentum für die Eigennutzung, damit möglichst viele im Alter mietfrei wohnen können, sondern ETFs. Angeblich lohnen die sich auf lange Sicht immer. 

Nun ja. Auf dem Flohmarkt, wo ich war, sah ich an mehreren Ständen gerahmte Aktien aus der Vorkriegszeit, die nur noch Kuriositätenwert haben. Breite Streuung hin oder her, Aktien, noch dazu solche, die andere Leute für einen ausgesucht haben, haben aus meiner Sicht den gravierenden Nachteil, daß sie immer nur soviel wert sind, wie der Markt™ das gerade glaubt. Und was der Markt gerade glaubt, enthält ziemlich viele irrationale Elemente. Als Besitzerin von einigen ausgewählten Einzelaktien kann ich das live viel besser beobachten als jemand, der regelmäßig in einen ETF einzahlt und alles weitere den Fondsmanagern überläßt. Einen ETF habe ich aber auch, und das ist mein beitragsfrei gestellter Riestervertrag. Ich habe ihn beitragsfrei gestellt, als sein Wert ein Jahr nach der Finanzkrise immer noch weit unter dem Garantiebetrag lag, und meinen monatlichen Einsatz lieber zusätzlich in meine Immobilienfinanzierung gesteckt. Anschließend konnte ich beobachten, wie sich der enthaltene Betrag nach und nach mühsam wieder nach oben rappelte. Erst zum Jahreswende 2021 wurde dann wieder ein Betrag knapp oberhalb der Garantiesumme angezeigt - und dann überfiel Putin die Ukraine, und alles sackte wieder steil nach unten. 

Also, sorry, für so etwas ist mir mein gutes Geld dann doch zu schade. Da lobe ich mir meine Einzelaktien, auch wenn die nur eine Art Spielerei sind. Für die kriege ich wenigstens Dividenden. Aber auch die machen nur einen Bruchteil meiner Mieteinnahmen aus, die sich aus meiner "ernsthaften" Altersvorsorge ergeben haben. Und das, obwohl ich mich aus prinzipiellen Gründen an den Mietspiegel halte. 

Immobilien haben im Vergleich zu den meisten anderen Kapitalanlagen die Besonderheit, daß sie ihren praktischen Nutzen auch dann behalten, wenn sie durch eine ungünstige Preisschwankung an Verkaufswert verlieren sollten. Man kann eine eigengenutzte Immobilie dazu nutzen, um in ihnen zu wohnen, und muß keine anderen Wohngelegenheiten mehr suchen. Ist man knapp bei Kasse, ermöglicht sie es, zahlende Mitbewohner zu suchen. Man kann sogar einen Teil seiner Lebensmittel im Selbstversorgermodus auf dem Balkon anbauen (freilich, da ist ein Haus mit Garten allemal effektiver). Kurz, eine Wohnung hat einen praktischen Hauptnutzen und bietet mehrere Möglichkeit von Nebennutzungen. Gegen so was stinken Aktien doch ziemlich ab. 

Dann behauptet Frau Schnitzer wahrhaftig, daß Menschen, die 45 Jahre gearbeitet hätten, mit 63 abschlagsfrei in Rente gehen dürfen. 

 Aber gerade die Älteren verabschieden sich oft schon recht früh aus dem Berufsleben, nämlich mit 63, 64 – dank der abschlagsfreien Rente, wenn man 45 Jahre in die Rente eingezahlt hat. An der Arbeitsmoral der Älteren könnte man etwas verbessern. Und: Bei einem vorzeitigen Renteneintritt müsste klar sein, dass man Renteneinbußen in Kauf nimmt. Die Rente mit 63 wurde eigentlich eingeführt für Menschen, die lange in sehr belastenden Berufen gearbeitet haben, für den Dachdecker oder die Krankenschwester. Aber im Schnitt gehen Menschen in diesem Alter in Rente, die durchschnittlich verdienen und überdurchschnittlich gesund sind, also eben gerade nicht der Dachdecker und die Krankenschwester. Die halten überhaupt nicht so lange in ihrem Job durch und sind schon vorher gesundheitsbedingt ausgeschieden. Bei vorzeitigem Renteneintritt reden wir über Menschen, die eigentlich noch gut arbeiten könnten, die es aber vorziehen, nicht mehr zu arbeiten, weil es finanziell attraktiv ist. Jeder sollte die Freiheit haben, aufzuhören, wann immer er will. Aber man sollte das dann nicht bei vollen Rentenbezügen machen.

Das ist noch nicht mal eine Verdrehung, sondern eine glatte Lüge. Die abschlagsfreie Rente für besonders langjährig, also mindestens 45 Jahre lang Versicherte gibt es ab 65. Vorher nicht. Wer mit 63, 64 in Rente geht, tut das mit entsprechenden Abschlägen, und die sind gesalzen. Ich weiß das, weil ich letzte Woche von der Rentenversicherung die Antwort auf meine Anfrage bekommen habe. Will ich mit 63 in Rente, dann muß ich dauerhaft Abschläge von 400 Euro monatlich akzeptieren oder alternativ mehr als 63.000 Euro vorab einzahlen. Laut Frau Schnitzer müßten die Abschläge doppelt so hoch werden. Wenn ich gemäß ihrer Empfehlung anstelle von 400 Euro weniger 800 Euro weniger bekäme, falls ich schon mit 63 aufhören will, läge ich - wäre ich alleine auf die gesetzliche Rente angewiesen - bei weniger als 1000 Euro Rente. Wie soll sich aber erst ein Rentner mit der aktuellen Durchschnittsrente für Neurentner (männlich: 1355 Euro/weiblich: 929 Euro (West) bzw. 1218 Euro (Ost)) bereits jetzt einen vorzeitigen Renteneintritt leisten können? 

Es liegt eigentlich auf der Hand, daß schon jetzt die vorzeitige Rente nur denjenigen möglich ist, für die Frau Schnitzers Vorschlag auch kein Hindernis wäre. Das sind zum einen diejenigen, der mietfrei wohnen können, aber andererseits auch diejenigen, deren künftige Rente sowieso niedriger liegt als die Grundsicherung, also um die 1000 Euro oder weniger. Wenn man sowieso aufstockende Grundsicherung in Anspruch nehmen muß, dann spielt es doch auch keine Rolle, ob deren Anteil nun ein paar hundert Euro niedriger oder höher ausfällt. 

Die Ironie in Frau Schnitzers Ideen liegt darin, daß gerade die Kinderlosen, die sie für die Schieflage der Rentenversicherung hauptverantwortlich macht, in beiden Gruppen, für die sie keinen oder nur einen geringen Unterschied machen würden, stärker vertreten wären. Die würden sich also einen früheren Ruhestand weiterhin leisten können. Benachteiligt wären dafür Familienväter und -mütter. Bemerkenswert ist außerdem, was Frau Schnitzer in dem langen Interview gar nicht erwähnt, nämlich die Beitragsbemessungsgrenze. Ich habe immer noch nicht verstanden, warum es sie gibt und was dagegenspräche, sie abzuschaffen. Falls es gute Gründe geben sollte, sie beizubehalten, wäre dieses Interview die Gelegenheit gewesen, sie zu nennen. Daß das nicht geschehen ist, betrachte ich als ein Indiz dafür, daß es solche Gründe nicht gibt. Gleichzeitig handelt es sich um den Teil der Bevölkerung, der die besten Chancen hat, parallel zur gesetzlichen Rente auch noch zusätzliche Altersversorgungsmöglichkeiten zu nutzen. Genau diese Leute haben somit die besten Möglichkeiten, schon mit 63 in Rente zu gehen. 

Das in dem Interview sind alles so komische Milchmädchenrechnungen, die ganz leicht als solche erkennbar sind. Einer "Wirtschaftsweisen" sollte so was eigentlich ganz schön peinlich sein. Ich weiß nicht, ob sie Frau Schnitzers ehrliche Überzeugung widerspiegeln oder ob sie irgendwelche Interessen vertritt, und ich bin mir auch nicht sicher, welche von beiden Möglichkeiten ich noch unangenehmer fände. Für beide Fälle sortiere ich Frau Schnitzer aber in dieselbe Kategorie ein wie Marcel Fratzscher: Das sind Leute, auf deren Empfehlungen nicht allzuviel zu geben ist. 

 

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