Mein Gewicht heute früh nach dem ersten Tag des viertägigen langen Fastenintervalls: 75,8 Kilogramm. Gestern startete ich mit 77,9. Ein Pfund weniger als vor zwei Wochen, und das, nachdem ich mich vorgestern abend - was mir selten passiert - richtiggehend überfressen hatte.
Schuld waren Reste, die sonst verdorben wären: der halbe Kilo-Eimer Joghurt, die Zwetschgen, die Birnen und der letzte Apfel von meinem Baum, den ich eigentlich noch ein paar Tage hätte fertigreifen lassen, aber es stellte sich vorgestern früh heraus, daß die Wespen ihn schon süß genug fanden, und so mußte ich ihn notfallmäßig ernten. Schuld war außerdem die Menge an Zucchinis im Kühlschrank und der Umstand, daß wir am Samstag so spät frühstückten, daß es bei dieser einen Mahlzeit geblieben ist, weshalb es die gefüllten Zucchini am Sonntag gab. Ach ja, und daß ich unbedingt Rosmarinkartoffeln aus dem Backofen dazu essen wollte. Und das bereue ich auch nicht, denn die Kartoffeln, die ich im Hofladen bekommen habe, waren mit dem erstmals frisch geernteten Rosmarin sagenhaft gut. Alles zusammen führte aber dazu, daß ich nach dem Abendessen einen viel zu üppigen Nachtisch hatte, der sich ohne das bevorstehende Fasten sicherlich auf zwei Tage verteilt hätte, und danach zum ersten Mal seit langer Zeit unangenehm übersatt war.
Gemessen daran bin ich fast ein bißchen überrascht, daß ich doch deutlich unter dem Gewicht vor dem letzten langen Fastenintervall lag. Was natürlich nicht heißt, daß ich mich darüber beschweren würde. Gestern waren es übrigens noch genau fünf Wochen bis zur nächsten Low-Carb-Phase, und da ich sie am liebsten mit einem Gewicht beginnen würde, das weniger als vier Kilo über dem Zielgewicht liegt, habe ich entschieden, diese und übernächste Woche jeweils vier Tage zu fasten und bezüglich der Gewichtsentwicklung das Beste zu hoffen. In der Woche vor dem Start von LC beschränke ich mich aber auf drei Tage Fasten, denn da wird mir am Freitag der Port entfernt, und ich bin gar nicht scharf darauf, dabei von Wadenkrämpfen überrascht zu werden, wie das ja bei vier Tagen Fasten nie völlig auszuschließen ist.
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Ich habe heute einen längeren Text (scheint ein Vortrag gewesen zu sein) von Gary Taubes zumindest überflogen. Der Wissenschaftsjournalist Taubes zählte zu den Pionieren, was die Rolle des Zuckers bzw. der Kohlenhydrate in der Ernährung betrifft; hier referiert er aber über hochverarbeitete Lebensmittel. Was mir gut gefällt, ist, daß er trotz seiner unüberlesbaren Skepsis, was die Rolle von Nicht-Zucker-Faktoren betrifft, durchaus auch ein paar Fakten erwähnt, die in im Kontext seiner Grundannahmen keinen so richtigen Sinn ergeben, und seine Ahnungslosigkeit zu den Gründen auch zugibt.
Trotzdem habe ich aber auch etwas zu meckern.
The concept of refined (aka processed) carbohydrates as being uniquely harmful dates back to the 19th Century. As sugar and white flour spread around the world with the industrial revolution, as I’ve discussed in my books, so apparently did what observers took to calling diseases of civilization—most notably, hypertension, obesity, diabetes mellitus, and coronary heart disease, clustering together both in populations and in patients.
Gehen wir mal davon aus, daß Taubes hier richtig liegt, dann bleibt dennoch festzuhalten, daß industriell verarbeitetes Weißmehl und Zucker im Lauf des 19. Jahrhunderts NICHT zu einer Adipositasepidemie geführt haben. Zwar gab es Menschen mit Adipositas, aber die hatte es in früheren Zeiten auch schon gegeben. Und zwar waren das fast durchweg Menschen ab dem mittleren Alter. Zahlen kenne ich keine, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß ihr Bevölkerungsanteil im 19. Jahrhundert auch nicht auffällig höher lag als im 18.
Ob irgendwer schon einmal wissenschaftlich zu erforschen versucht hat, ob sich das auf bestimmte gesellschaftliche Schichten (mit bestimmten Ernährungsgewohnheiten) beschränkt hat oder alle betraf, diese Frage muß ich leider offen lassen. Ich tippe aber darauf, daß die Quellenlage leider bei allem unterhalb des besonders wohlhabenden Bürgertums eher spärlich ist. Trotzdem ahne ich, daß sie - außer in Zeiten bzw. an Orten mit ausgeprägter Unterernährung - nicht an Klassenschranken halt machte. Dazu fallen mir die einmal privat gesehenen Fotos einer Familie von einem Südtiroler Bergbauernhof ein, auf denen ich mitverfolgen konnte, wie aus schlanken Mädchen stattliche fünfzigjährige Matronen mit ausgeprägter "Kittelschürzenfigur" wurden. Und das an einem Ort, zu dem zu jener Zeit noch nicht einmal eine mit Autos befahrbare Straße führte, weshalb alle Wege zu Fuß zurückgelegt wurden und selbstverständlich auch Ernten noch ohne Maschinenpark erfolgten. Ich riskiere die Behauptung, daß industriell gemahlenes Weißmehl und Zucker dort die Ernährung nicht dominiert haben können. Trotzdem wurden vor allem von den Frauen viele in einem Alter übergewichtig, in dem die Menopause vermutet werden kann.
Übergewicht in mittleren Jahren ist also ein uraltes Problem, und ich sehe deshalb den Zusammenhang mit feinem Weißmehl und Zucker nicht, wenn beides erst ab dem 19. Jahrhundert immer mehr Menschen in immer größeren Mengen verfügbar war. Aber auch die Entwicklung der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen spricht m. E. nicht für die Rolle von Mehl und Zucker, die Taubes ihnen zuschreibt. Denn diese Entwicklung erfolgte dafür zu spät, das hätte spätestens in meiner Kindheit schon zu einem Problem werden müssen, denn gerade wir Boomer haben in unserer Kindheit bestimmt mehr Süßes als spätere Kinder konsumiert, da zu jener Zeit der "schlechte Esser" von unseren Eltern viel mehr gefürchtet war als übergewichtige Kinder. Es gab schlicht noch kaum Problembewußtsein. Bei Kindern setzte Adipositas als immer häufigeres Problem aber erst ein, als Eltern immer mehr darauf achteten, daß ihre Kinder möglichst nicht dick werden sollten.
Der Unterschied zwischen 1970 und 2010 ist nicht, daß heute mehr Zucker konsumiert wird (in vielen Familien ist die Ernährung ja sogar bewußt zuckerarm), sondern daß die Verarbeitungsintensität der Lebensmittel so zugenommen hat. Das gilt auch für Brot und sonstige Backwaren, die abgepackt oder als vorgefertigte Teiglinge aufgebacken verkauft werden und auf die der Stoffwechsel zudem - mindestens bei manchen Leuten - anders als auf handwerklich gebackene Varianten reagiert. Der Unterschied ist mindestens in diesem Fall nicht das Mehl, sondern es sind die die Zusatzstoffe. Wobei Taubes möglicherweise gar nicht klar ist, wie anders so ein Brot auch sein kann. Spricht er von Brot, dann meint er natürlich die Art von Brot, die in den USA üblich ist. Dort gibt es aber anscheinend kaum mehr handwerklich gefertigtes Brot.
Richtig mag allerdings sein, daß das durchschnittliche Körpergewicht jedenfalls der US-Amerikaner bereits ab dem 19. Jahrhundert zunahm, und ich meine, irgendwo hätte ich dazu auch schon einmal eine Grafik gesehen, bei der es um die Durchschnittsgewichte von wehrpflichtigen jungen Männern ging. Das könnte daran liegen, daß es im Laufe dieses Jahrhunderts weniger Unterernährte gab. Wenn ich so darüber nachdenke: Eigentlich müßte das dann doch bedeuten, daß es in den wohlhabenderen Schichten auch mehr Übergewicht gab, wenn es auch sehr weit entfernt von unserem heutigen Problem war. Eines von beidem muß man offenbar in Kauf nehmen, entweder die Tendenz zu Unterernährung in bestimmten Gesellschaftsschichten, wenn die erzeugte Nahrungsmittelmenge nicht ausreicht, oder die Tendenz zu Übergewicht bei den über 40- bis 50jährigen, wenn diese Menge ausreicht.
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Mich beschäftigt außerdem gerade folgende (freundliche) Mahnung an meine generationelle Verantwortung, die ich auf Bluesky bekommen habe:
Meine Beiträge vorher, auf die damit geantwortet wurde, kann man dort nachlesen. Meine Antwort lautete wie folgt:
Und das war natürlich eine verkürzte Aussage, wie das die Zeichenbegrenzung halt immer bewirkt, aber im Kern ist es tatsächlich das, was ich wirklich für richtig halte, und das gilt unabhängig davon, was genau hier gemeint war, denn das habe ich nicht gefragt. Mich wundert das, daß jemand sich als Angegriffener mit solcher Selbstverständlichkeit die Anliegen der Angreifer zu eigen macht. Das ist so ein typisches "Gewaltbeziehungsverhalten", sich beim Angreifer anbiedern zu wollen, auf das ich nicht einmal gekommen bin, als ich mit einem meiner Partner tatsächlich mal einen von der richtig üblen Sorte erwischt hatte, der handgreiflich wurde. (Stattdessen ging ich zum Angriff über, tobte wie eine Geisteskranke, und wer von uns beiden am Ende tot liegengeblieben wäre, hätten nicht die Nachbarn die Polizei gerufen, darüber kann man nur spekulieren.) Also, solche Statements berühren mich schon ein bißchen unangenehm, weil ich so etwas weder sagen noch denken würde und es einfach spontan so falsch finde, daß ich nicht einmal darüber nachdenken will.
Gleichzeitig habe ich das Gefühl, daß auch dieses implizite Schuldbekenntnis - stellvertretend für die ganze Generation, ob ihr das paßt oder nicht -, das hinter einer solchen Selbstverpflichtung erkennbar ist, davon zeugt, wie leicht es ist, uns als Gesellschaft in diverse Interessengruppen auseinanderzudividieren. Wie man als Angegriffener darauf reagiert, kann unterschiedlich sein, und Schuldgefühle und entsprechende Demutsgesten sind eine der möglichen Reaktionen. Problem dabei ist, daß das keine Erleichterung verschafft, weil die Radikaleren der Angreifer das eher als Einladung zu weiteren Angriffen verstehen, während die nicht Radikalen, die die Worte noch wohlwollend aufgenommen hatten, für einen keinen Finger rühren würden. - Erfahrungswerte!
Ich bin ja mittlerweile eine alte Schachtel, aber ich erinnere mich noch gut, wie es sich anfühlte, jung zu sein, was ich damals wollte, welche voreiligen Schlüsse ich zog und an welchen Stellen ich rückblickend ganz froh sein kann, daß mir manches nicht durch vorauseilende Hilfeleistung zu einfach gemacht wurde. Die Probleme waren zeitbedingt teils andere als bei heutigen um die Zwanzigjährigen, aber sie waren deshalb nicht weniger schwerwiegend. Heute fürchten sich viele von ihnen vor dem Klimakollaps, bei uns war es der Atomkrieg und das explodierende Atomkraftwerk und das Waldsterben. Wer so tut, als wären das keine stichhaltigen Gründe für bei manchen meiner Altersgenossen überwältigende Existenzängste, der lügt oder gibt sich, freundlicher formuliert, einer Selbsttäuschung hin. Ach ja, und die Zukunftsängste finanzieller Art hatten wir natürlich ebenfalls, wenn auch aus anderen Gründen. Denn die Millennials haben es im Vergleich zu uns wesentlich einfacher, einen beruflichen Einstieg zu finden.
Da bei uns der von vielen heraufbeschworene Weltuntergang ausgeblieben ist und außerdem meine Generation zum großen Teil doch nicht brotlos geblieben ist, nehme ich an, auch für die Millennials wird es so schlimm nicht kommen, wie es viele von ihnen gerade glauben. Wie es aussieht, werden wir bis auf weiteres sowieso akutere Probleme haben als das Klima oder die Aussichten für die Rente in vierzig Jahren, da uns unter anderem ja gerade Demokratie und Rechtsstaat zu zerbröseln drohen. Wer das Klima schützen will, täte gut daran, sich um das letztere Problem vorrangig zu kümmern, da der Fortbestand unserer staatlichen Verhältnisse die Voraussetzung dafür ist, um das erstere Ziel auch erreichen zu können.
Es gibt da aber etwas, das mich ein bißchen verwundert: Die Millennials sind ja, grob gesagt, schon die Kinder der Kinder meiner Generation. Wieso plärren die jetzt eigentlich ausgerechnet uns an und nicht ihre eigenen Eltern, wie das - sicherlich schon seit den Neandertalern - früher immer gewesen ist? Man denke nur daran, wie hart die Achtundsechziger mit ihren Eltern ins Gericht gegangen sind. Unsere Kindergeneration hatte an uns aber erstaunlich wenig auszusetzen, aber an ihren Großeltern auch nicht. Das fällt mir jetzt erst so richtig auf. Aus irgendeinem Grund hat der gute alte Generationenkonflikt offenbar eine Generation übersprungen. Schon merkwürdig. Ich frage mich, wie es den Millennials einmal ergehen wird, wenn sie älter werden. Ob es dann wieder deren Kinder sind, die ihnen zum Vorwurf machen, daß sie die bis dahin neu aufgetauchten Probleme nicht schon frühzeitig gelöst haben, anstatt sich mit veganer Ernährung, Gendern und Klima die Zeit zu vertreiben? Oder lassen die dann auch den Enkeln den Vortritt?
Was für neue Probleme werden die der Enkel unserer Enkel wohl sein? Ich kann nur raten, aber vermutlich werden sie in einem engen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Veränderungen stehen, die sich durch eine alternde und daneben auch schrumpfende Bevölkerung ergeben. Ich las heute einen Artikel zu der Frage, wie man Frauen dazu bringen könnte, wieder mehr Kinder in die Welt zu setzen, den ich sehr unausgegoren fand. Vor der Lösung des Problems, falls man es für ein Problem hält, wäre erst mal die Einsicht nötig, daß alle Industriegesellschaften Familien mit Kindern schwerwiegende Nachteile verschaffen. Auch wenn man versucht, diese Nachteile auszugleichen, etwa durch Kindergeld oder durch Gestaltungen der Arbeitswelt, die es Müttern nicht von vornherein unmöglich machen, einer Berufstätigkeit nachzugehen, ändert das nichts daran, daß Kinderlose allemal besser dran zu sein scheinen, weil sie mittlerweile die Norm sind und den Standard setzen, was Konsum, Alltags- und Freizeitgewohnheiten betrifft. Zum neoliberalen Weltbild gehört außerdem das Streben nach Unabhängigkeit, und mit Kindern ist man in tiefgreifender Weise abhängig. Solange die individuelle wirtschaftliche Unabhängigkeit ein so hoher Wert ist, daß man für sie soziale Beziehungen durch bezahlte Dienstleistungen ersetzt, wird sich daran wohl nichts ändern.
Pflegebedürftige Kinderlose könnten der Gegenstand apokalyptischer Visionen sein, denn der Großteil der Pflege wird ja momentan innerhalb der Familien geleistet, und dabei spielen die Kinder eine bedeutende Rolle.
Von den Ende der vierziger/Anfang der fünfziger Jahren Geborenen - als sie erwachsen wurden, gab es die Pille schon - waren nur 14 Prozent dauerhaft kinderlos geblieben. Die Mitte der Siebziger Geborenen, die 2022, als das erhoben wurde, auch schon aus dem gebärfähigen Alter raus waren, waren zu 21 Prozent auf Dauer kinderlos. Wie es bei den noch Jüngeren weitergehen wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls, die Generation, über deren Renteneintritt gerade diskutiert wird, hat noch um die zwanzig Jahre, bis sie massenhaft ins betreute Wohnen drängt und Pflegeplätze blockiert, und das vermutlich tendenziell auch länger als unsere untugendhafter lebenden Vorgänger. Welche Auswirkungen das haben wird, kann ich schwer einschätzen. Irgendwo las ich neulich, im Osten gäbe es immer weniger Kinder, so daß mittlerweile Kitas schließen müßten. Das wird natürlich dazu führen, daß Erzieherinnen ihren Wohnsitz dorthin verlagern, wo man sie weiterhin braucht, und das könnte in einen Teufelskreis führen, daß auch werdende Eltern ihren Lebensmittelpunkt dort suchen, wo ihre Kinder auch betreut werden können. Das könnte beträchtliche Ungleichgewichte in der Altersverteilung bestimmter Regionen haben, aber vielleicht gerade dort, wo Kinder fehlen, wenigstens zu einer altengerechten Infrastruktur führen, die weitere Zuzüge dieser Altersgruppe verlockender machen würde.
Ein weiterer Punkt, in dem ich annehme, daß er in spätestens dreißig Jahren relevant wird und das lange bleiben wird: Leerstehender Wohnraum. In 30 Jahren sind die 1965 Geborenen 90. Nur ein Bruchteil von ihnen ist dann noch am Leben und ein noch geringerer lebt noch in der eigenen Wohnung. Je eifriger man im Moment zusätzlichen Wohnraum schafft - daß er jetzt wirklich benötigt wird, zweifle ich nicht an -, desto stärker wird das zu Buche schlagen. Beginnend natürlich wie immer in den abgehängteren Regionen.
Was wirklich passieren wird, kann ich natürlich nicht sagen. Wahrscheinlich werden die apokalyptischen Visionen von übermorgen irgendetwas betreffen, das im Moment noch gar niemand ahnt. Sicher bin ich mir nur, daß auch in zwanzig, dreißig und fünfzig Jahren aus irgendeinem Grund die nahende Apokalypse heraufbeschworen wird, und daß diese Apokalypse nichts mit der heute gefürchteten zu tun haben wird.
Am Ende wird es mir in zwanzig Jahren wohl gehen wie Frau Petrell, als die Menschen in Vimmerby wegen des versehentlich unkontrolliert zur Explosion gebrachten Feuerwerks glaubten, der Halleysche Komet und damit das Ende der Welt sei gekommen: Ich werde mir beim Anblick der brüllenden Schlagzeilen (oder was immer man dann haben wird), einfach nur sagen: "An Kometen glaube ich nicht mehr. Das ist sicher bloß Michel, der wieder in Fahrt ist."
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Ich frage mich, was aus dem Hund geworden sein mag, den wir am Samstagnachmittag beobachtet haben. Er fiel mir beim verspäteten Frühstück auf der Terrasse auf. Von meinem Platz aus sieht man ein Nachbargebäude, das an ein unbebautes Grundstück angrenzt. Früher stand dort wohl eine Scheune, die zu diesem Haus gehörte, aber die wurde lange vor unsererm Einzug abgerissen. Dort jedenfalls fiel mir ein Tier auf, das sich in der Hausecke zu schaffen machte und sich schließlich dort im Schatten niederließ, und erst wußte ich nicht, was das für ein Tier sein sollte. Für eine Katze war es zu groß, aber irgendwie fand ich es auch für einen Hund etwas merkwürdig. Aber was hätte es denn sonst sein sollen? Also holte ich das Fernglas und stellte fest, daß es wirklich ein Hund war. Er war schwarz mit weißer Zeichnung am Hals und am Bauch, ziemlich groß - meiner Schätzung nach etwa die Größe unseres Nachbarhunds, der mit mir auf Augenhöhe ist, wenn er mich begrüßt, indem er an mir hochspringt - und trug ein Halsband. Ich sah ihn von hinten, aber manchmal drehte er den Kopf weit genug, daß man die Hundeschnauze erkennen konnte. Merkwürdig fand ich seine Ohren. Sie hingen schlaff nach unten und vermittelten von hinten eher den Eindruck, das Tier wäre vielleicht schwarzes Schäfchen. Inzwischen ist mir klar, daß ich daran eigentlich schon hätte merken können, daß mit dem Hund etwas nicht stimmt. Aber ich habe nie einen Hund gehabt. Die Hundekörpersprache ist für mich eine Fremdsprache.
Erst dachte ich mir aber nicht viel, denn in der Nachbarschaft wimmelt es nur von Hunden, irgendwo, dachte ich, wird er schon hingehören. Eigenartig fand ich es nur, daß er durstig wirkte, aber keine Anstalten machte, dort hinzugehen, wo er seiner Erfahrung nach Wasser herbekommen würde. Ich spielte mit dem Gedanken, ihm selbst Wasser rüberzubringen, aber weil ich kein "Hundemensch" bin und man bei fremden Hunden ja nie sagen kann, ob sie womöglich aggressiv auf einen Fremden reagieren werden, ließ ich es doch bleiben. Unruhig wurde ich aber, als der Hund drei Stunden später, als ich mich kurz auf der Terrasse zu meinem Mann setzte, der dort gerade Pause von seinem Projekt in der Werkstatt machte, immer noch an derselben Stelle lag.
Diese Stelle lag nun in der prallen Sonne, und er hatte doch vorher schon Anzeichen für Durst gezeigt. Was tat er nur so lange ganz alleine dort? Auch mein Mann runzelte die Stirn. Aber noch bevor wir uns einig werden konnten, was wir nun tun wollten, kam ein hundebesitzender Nachbar am Zaun vorbei. Genau die Person, die wir brauchten, dachte ich, sprach ihn an und zeigte ihm den merkwürdigen Besucher auf dem Nachbargrundstück. Der Nachbar erkannte den Hund jedenfalls nicht, ging aber gleich zu ihm hin - ich hatte ihm nun wirklich einen Napf mit Wasser in die Hand gedrückt -, aber er näherte sich wohl zu forsch an. Denn der Hund ließ ihn nicht ganz herankommen, sondern stand auf und lief davon. Genauer gesagt, er humpelte davon, denn einen Fuß hatte er hochgezogen. Erst jetzt sah ich außerdem, daß er zwar etwa so groß war, wie ich geschätzt hatte, aber sehr schmal, und ich fragte mich plötzlich, ob er vielleicht gar nicht zierlich, sondern schlicht abgemagert war. Aber was von beidem zutraf, kann ich rückblickend auch nicht sicher sagen.
Der Hund humpelte jedenfalls zur Straße - trotz allem viel zu schnell, um ihm folgen zu können, ohne immer weiter zurückzufallen - und weil just in diesem Moment ein anderer Nachbar uns ansprach, waren wir für einige Momente abgelenkt und danach war er schon ein gutes Stück die Straße weitergelaufen und verschwand gerade in einer Seitenstraße. Vielleicht hätte ich hinterherlaufen sollen. Aber es war ja offensichtlich, daß der Hund vor uns Angst hatte, und so, dachte ich, würde er auch dann, wenn ich ihn einholen könnte, nur noch weiter weglaufen. Also ließ ich es bleiben. Aber nachträglich ärgere ich mich darüber. Wenigstens hätte ich mich vergewissern sollen, ob er vielleicht in dieser Straße sein Zuhause hatte bzw. ob er sich noch dort befand.
Hätte, wäre, wenn und aber ... So isses jetzt halt. Aber ein schlechtes Gewissen habe ich doch. Ich wüßte gerne, ob der Hund jetzt daheim ist - oder wenigstens irgendwo, wo er es gut hat. Was mag ihm nur passiert sein? War er ausgerissen oder ausgesetzt worden, oder hatte er nur etwas ausgefressen und traute sich vor schlechtem Gewissen nicht heim? Es war jedenfalls herzzerreißend, wie er vor uns davonhumpelte, statt wenigstens ein bißchen von dem Wasser zu trinken, nachdem er mehrere Stunden lang nichts weiter von der Welt gewollt hatte, als in Frieden in dieser vermeintlich einsamen Ecke zu liegen, wo ich ihn durch das Sonnenblumenfeld an meinem Zaun beobachtet hatte.
Der arme traurige Hund. Das nächste Mal frage ich niemanden, auch meinen Mann nicht, sondern mache einfach das, was mir spontan richtig vorkommt.
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