Montag, 3. November 2025

Das Narrenschiff-Orakel. Oder: Wie man Vertrauenskrisen messen kann.

Mein Gewicht heute früh zum Start des zweiten viertägigen Fastenintervalls während der Low-Carb-Phase: 76,1 Kilogramm. 1,1 Kilogramm weniger als vor zwei Wochen zum ersten langen Fastenintervall, das gefällt mir schon wesentlich besser. Für ein neues Tiefstgewicht am Freitag - zur Erinnerung: das bisherige liegt bei 71,1 Kilogramm und war im April 2024 - wird es zwar nur mit sehr viel Glück reichen, da ich während Low Carb beim Fasten weniger Wasser verliere und nach vier Tagen ziemlich selten mehr als 5 Kilogramm weniger habe. Aber Freitag in zwei Wochen sollte es dann eigentlich klappen, und ich nehme an, ich werde in zwei Wochen auch mit einem neuen "Vorher-Tiefstgewicht" starten können (bisheriges: 75,4 kg). Zeit wird's ja langsam mal wieder, auch wenn ich mir die zunehmende Lässigkeit mit meinem jetzigen Gewicht im Grunde leisten kann. 

Ich rede ja dauernd von sechs Wochen Low Carb, aber mittlerweile ist mir aufgegangen, daß es dieses Jahr sieben sind, weil ich den Start ja aus organisatorischen Gründen um eine Woche vorverlegt habe. Außerdem wird der letzte Low-Carb-Tag am 30.11. dann sofort von einem viertägigen Fastenintervall gefolgt, nach dem ich dann immer einen Low-Carb-Übergangstag habe. In Wirklichkeit werden es also knappe acht Wochen. Das ist aber auch ganz gut so, denn im März möchte ich als Abschluß der zweiten LC-Phase ab Mitte Januar verdammt nochmal mein Zielgewicht erreicht haben (immerhin sind es am 20. März 2026 schon neun Jahre, seit ich mit dem Fasten angefangen habe), also sollte die Normalernährungsphase dazwischen auch nicht zu lang ausfallen. 

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Wer hier hört auch die SWR1-Hitparade, die nach einer Hörerabstimmung einmal im Jahr im Oktober eine ganze Woche lang im Radio (und online in einem Livestream auch mit bewegten Bildern) ungefähr 1000 Titel wiedergibt? Ich erinnere mich noch gut an die erste Ausgabe in den späten Achtzigern, damals noch beim SDR 3, unter dem Titel "Top 1000x" mit Stefan Siller und Thomas Schmidt. Die war damals ein Ereignis, das alle bewegte. Ich habe irgendwo noch einige Musikcassetten, die mir eine Kollegin überspielte, die einen großen Teil davon aufgenommen hatte. Die letzten Titel liefen dann auch im Südwest-Fernsehen, und die habe ich auch noch auf Videocassette. 

Seit die Hitparade jährlich kommt, ist sie eher eine Routineveranstaltung geworden, in der Abstimmungsseilschaften etwa die konkurrierenden Landeshymnen der Badener und der Schwaben möglichst hoch zu pushen versuchen. Und natürlich gibt es wenig Spannung um den Titel, der ganz vorne landen wird, denn das ist entweder Stairway to Heaven von Led Zeppelin oder Bohemian Rhapsody von Queen. Ich höre das eigentlich nur, weil es eine nette Abwechslung ist, alle Stilrichtungen, Sprachen und Arten von Interpreten wie Kraut und Rüben durcheinander präsentiert zu bekommen. Die Musik im Radio neigt sonst ja doch ein wenig dazu, sich zu viel zu wiederholen. 

Was mir dieses Jahr aufgefallen ist, das ist, wie sehr politische Statements bei der Titelwahl, aber auch für mich selbst als Hörer an Bedeutung gewonnen haben. Bei "Kristallnaach" von BAP (Textübersetzung auf Hochdeutsch) lief es mir eiskalt das Kreuz runter. Wie aktuell das auf einmal geworden ist! Dabei fanden sich damals, als das Lied neu war und bei meiner damals noch jungen Generation einen Nerv trafen, offenbar die üblichen intellektuellen erhobenen Zeigefinger, die behaupteten, die fehlenden klaren Bezüge zur heute nicht mehr Kristallnacht, sondern Pogromnacht genannten "Reichskristallnacht" von 1938 seien relativierend und verharmlosend. Die Mahner mögen sich das Lied im Kontext des Jahres 2025 bitte noch einmal anhören. 

Übrigens habe ich es sehr bedauert, als der Begriff Kristallnacht irgendwann (neunziger Jahre?) plötzlich pfuibäh wurde und man gefälligst Pogromnacht oder Novemberpogrome sagen sollte. Kein Mensch hat ein klares Bild davon, was ein Pogrom ist, und dazu kommt, daß mindestens die Hälfte der Leute nicht imstande ist, das Wort richtig zu schreiben und daraus eine Progromnacht macht. Ich fand jedenfalls den Kontrast zwischen dem vordergründig so harmlosen Wort Kristallnacht, zu dem man spontan ja nichts Schlimmes assoziiert, und der Erkenntnis, was sich dahinter verbirgt, sehr eindrucksvoll. 

Ein Antikriegslied von Reinhard Mey, "Nein, meine Söhne geb ich nicht", stand auf Platz 12. Ich habe nachgesehen: Letztes Jahr war es schon auf Platz 13. Aber 2018, das ich für einen Stichprobencheck verglichen habe, kam es gerade mal auf Platz 175. Damals kam "Kristallnaach" auf Platz 250, geklettert ist es 2025 vergleichsweise weniger Plätze auf Platz 119. Vielleicht hat das den Grund, daß jüngere Leute mit dem Wort nichts mehr anfangen können, seit sie in der Schule nur noch lernen, daß das Ereignis "Novemberpogrome" heißt? 

Übrigens fand ich gerade dieses äußerst populäre "Nein, meine Söhne geb ich nicht" immer ein bißchen irritierend. Es handelt sich ja darum, daß der Vater Reinhard Mey seine Söhne dem Kriegsdienst verweigert. Nur, was legitimiert ihn eigentlich dazu, dies über die Köpfe der Söhne hinweg zu tun? 1986, als Mey das Lied schrieb, war sein älterer Sohn zehn Jahre alt und der zweite im Kindergartenalter und niemand hätte von ihnen einen Kriegsdienst verlangt. Aber zur Zeit ihrer etwaigen Musterung wären sie schon volljährig gewesen und hätten alles Recht der Welt gehabt, solche Entscheidungen selbst zu treffen - und was, wenn sie die Sache anders als ihr Vater gesehen hätten? Ich will Mey aber zugute halten, daß ihn die Vorstellung, seine Kinder könnten einmal in den Krieg ziehen müssen, damals wohl emotional zu sehr überwältigt hat. Mein Sohn kam ein Jahr nach diesem Lied zur Welt, und ich erinnere mich noch, daß es im Lauf seiner Kindheit ab und zu Nachrichten gab, bei denen ich bei der Vorstellung, mein Sohn könnte davon betroffen sein, emotional regelrecht in die Knie gegangen bin. Immerhin geht aus dem Liedtext js auch hervor, daß Mey es als seine Aufgabe als Vater betrachtete, seine Kinder so zu erziehen, daß auch ihnen, wenn sie einmal gemustert würden, die Vorstellung, zur Bundeswehr zu gehen, völlig unvorstellbar wäre. Vielleicht sollte ich da also nicht gar so erbsenzählerisch sein und ihm zugute halten, daß man in einem Songtext keine ellenlangen Fußnoten mit Präzisierungen unterbringen kann. 

Die Plazierung knapp vor den Top 10 speziell dieses Lieds zeigt jedenfalls, wie sehr die aktuellen Debatten um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht die Gemüter bewegen. Aktuelle politische Bezüge haben eine Reihe von auffällig besser als vor einigen Jahren plazierten Songs, etwa Konstantin Weckers "Sage Nein" (Platz 45; 2018: Platz 292) oder Hannes Waders "Es ist an der Zeit" (Platz 59; 2018: Platz 152). Den Vogel abgeschossen hat aber mit Platz 4 noch einmal Reinhard Mey, und zwar mit dem Song "Das Narrenschiff" (2018: Platz 65). Das haben auch die Moderatoren so sehr als politische Botschaft der abstimmenden Hörer gesehen, daß es eine längere einführende Vorrede gab, die ebenfalls ziemlich politisch ausfiel. Ich lege hiermit den Lesern ans Herz, das verlinkte Video anzusehen, denn auch die Bewegtbild/Text-Kombination des Lieds hat in Verbindung mit der heutigen politischen Situation Gänsehaut-Potential. Man kann es gar nicht fassen, daß Reinhard Mey das schon 1998 geschrieben hat und dabei die damalige Kohl-Regierung vor dem geistigen Auge hatte. Es klingt, als wäre es der Regierung Merz auf den Leib geschrieben worden. 

Eigentlich waren mir Reinhard Meys direkt politische Lieder immer auf eine zu platte Art feindselig gegenüber nicht etwa dem politischen System, sondern den Personen, die darin tätig waren. Das Urteil gegen die in der Politik tätigen Personen war in "Das Narrenschiff" meiner Meinung nach um kein Haar schärfer oder verächtlicher als in "Was kann schöner sein auf Erden, als Politiker zu werden" aus dem Jahr 1974 und, eher nebenbei vorkommend, in einer Reihe anderer Lieder aus seiner gesamten Liedermacherkarriere, und die begann immerhin schon in den sechziger Jahren. Ich habe mir das immer damit erklärt, daß er ja zur Zeit der Studentenbewegung der sechziger Jahre studierte, noch dazu in Berlin, und irgendwie nie auf den Gedanken kam, die damaligen Denkschemata im Rückblick zu hinterfragen. Denn von heute aus betrachtet, wirken auch Bundespolitiker der siebziger oder achtziger und sogar der neunziger Jahre geradezu integer. Was auch immer damals an Gemauschel ablief - und natürlich lief da Gemauschel ab -, verglichen mit der Dreistigkeit der Generation Schröder war das ja nur Kinderkram. 

Ich wüßte, ehrlich gesagt, gerne, was Reinhard Mey angesichts der Personalien im heutigen politischen System rückblickend über sein Urteil über die seinerzeitigen der sechziger bis neunziger Jahre denkt und falls er es immer noch richtig findet, welche Worte er im Vergleich dazu eigentlich für die heutige Politikerriege fände, da ich eigentlich nicht sehe, wie er das harte Urteil über die früheren noch toppen kann - was er meiner Meinung nach aber müßte, falls er wie die Hörer seines Songs der Meinung ist, daß wir mit der aktuellen Regierung noch tiefer als jemals zuvor ins Klo gegriffen haben. 

Das fanden die Hörer übrigens auch schon bei der vorherigen Regierung, 2024 kam der Song nämlich auf Platz 5. Den eigentlichen Sprung hat "Das Narrenschiff" aber im Corona-Jahr 2020 gemacht: von Platz 53 im Vorjahr auf Platz 12, und man braucht wohl keinen gelernten Psychoanalytiker, um zu wissen, was die Hörer damit zum Ausdruck bringen wollten. Danach kletterte es aber auch ohne Lockdowns und Impfdiskussionen Jahr um Jahr immer noch ein oder zwei weitere Plätze nach oben. Nun könnte man das vielleicht ja damit erklären, daß das den wachsenden Anteil der AfD-Wähler in der Bevölkerung widerspiegelt. Ich riskiere aber folgende Prognose: Sollte die Regierung Merz in den nächsten drei Jahren dermaßen bei der Aufgabe versagen, die "Köpfe und Herzen" der deutschen Bevölkerung zu gewinnen, daß im Oktober 2028 "Das Narrenschiff" "Bohemian Rhapsody" und "Stairway to Heaven" überholt und Platz 1 der Hitparade belegt, dann steht uns im Februar 2029 wohl endgültig eine AfD-Regierung ins Haus. Und die wird anschließend das Lied dann verbieten. 

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Es ist jetzt ungefähr vier Wochen her, daß an unserem Feigenbaum die Früchte zu reifen begonnen haben, und wie im letzten Jahr ist das Angenehme daran, daß ich immer noch ein- oder zweimal die Woche rausgehen und weitere Feigen pflücken kann, meistens zehn bis 15 Stück, eine nette Portion, um sie in einem Kuchen oder einem Nachtisch zu verarbeiten, auch wenn die "große" Ernte schon vor drei Wochen gewesen ist, in der ich zwei Schüsseln voll hatte. Eine schenkte ich den Nachbarn und bekam als Dankeschön ein Glas Quitten/Pfirsich-Marmelade. 

Eigentlich dachte ich, Feigen wären bei Low Carb pfuipfui, aber in Wirklichkeit haben frische Feigen mit 19 Gramm Glukose je 100 Gramm gar nicht so viel mehr Kohlenhydrate wie die empfohlenen Kiwis. Getrocknete Feigen haben natürlich einen sehr viel höheren Zuckeranteil. Gestern früh habe ich die seit letzten Sonntag gereiften Feigen geerntet und einen Nachtisch daraus gemacht: Mascarpone-Creme mit einem Rest Schlagsahne (weil ich eine angebrochene Sahne vor dem Fasten verbrauchen mußte) sowie zwei Löffeln Kakao und Xylit/Erythrit/Stevia-Mischung, dazu die kleingeschnittenen Feigen, und das paßte wirklich hervorragend zusammen. Nächstes Wochenende werde ich wohl eine Cremetorte mit dieser Schokocreme mit Feigen machen, falls der Feigenbaum bis dahin noch ein paar der verbleibenden Früchte reifen läßt. Da es diese Woche sonnig werden soll, wird das hoffentlich auch klappen. Unreife Feigen sind immer noch mehr als genug auf dem Baum, und letztes Jahr war es erst Ende November aus mit dem Ernten. 

Der Feigenbaum ist ziemlich ausladend, aber zum Glück nicht sonderlich hoch. Ich komme ohne Leiter auch an die obersten Früchte ran, wenn ich den zugehörigen Ast zu fassen kriege und ihn herunterbiegen kann. Freilich, wenn es - wie gestern - in der Nacht zuvor geregnet hatte, bekommt man auf diese Weise eine ziemlich kalte Dusche verpaßt.

Drei Wochen Low Carb habe ich jetzt schon hinter mir, und wieder haben wir eigentlich immer richtig gut gegessen. Die Pogatschen-Wunderwaffe aus gemahlenen Mandeln und Käse hatte ich bislang nur einmal, aber dafür gefüllt mit unserem letzten eigenen Mangold sowie Pinienkernen und Feta, und das schmeckte unheimlich gut. Dazu gab es Tsatsiki, und wir haben zwei Tage daran gegessen, obwohl ich sie relativ klein gemacht hatte, weil ich das Problem ja schon kenne, daß die Mandel-Mozzarella-Mischung viel sättigender ist, als man es den Dingern beim bloßen Ansehen zutraut.

Mein Mann ist ja skeptisch, aber ich will jetzt auch einmal eine Pizza aus diesem Mandel/Mozzarella-Teig machen und dabei den Teig dünnstmöglich machen. Was Pizza betrifft, fand ich bislang die Version mit einem Boden aus verflochtenen Baconstreifen, übergossen mit verquirlten Eiern mit geraspeltem Käse und vor dem Belegen vorgebacken, am besten. Eigentlich wollte ich in dieser LC-Phase aber auch mal ein Rezept mit einem Boden aus Thunfisch ausprobieren, das Rezept sah vielversprechend aus. Jetzt überlege ich, ob ich nicht nächsten Samstag einfach alle drei Varianten parallel machen soll. Dann werden wir ja sehen, ob eine dabei ist, die uns so viel besser als die anderen schmeckt, daß wir künftig bei ihr bleiben möchten. 

Langsam frage ich mich beunruhigt, ob ich es wahrhaftig auch diesmal wieder nicht schaffen werde, endlich einmal einen Low-Carb-Käsekuchen zu backen. Das will ich schon seit einer Ewigkeit, aber bislang drängelten sich immer irgendwelche anderen Rezepte vor, und so kam es bislang nie dazu. Nächste Woche werde ich aber wohl erst einmal anfangen müssen mit den Lebkuchen. Ich habe nämlich versprochen, welche zu einem Adventskaffee am ersten Advent beizusteuern, und die will ich nicht zu knapp vorher machen müssen, weil ich ja erst einmal probieren muß und Lebkuchen gerne ein paar Tage Zeit haben möchten, bevor man sie ißt. 

Die Zeit vergeht außerdem gerade irrsinnig schnell. Erstaunlich, immerhin war November immer mein Horrormonat und schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Aber irgendwie hat sich das seit meinem Umzug - der übermorgen exakt ein Jahr her ist - verändert. Das liegt an dem Ausblick im Wohnzimmer, wenn ich morgens Kaffee trinke. Auf der einen Fensterseite haben wir einen schönen Blick auf eine bewaldete Anhöhe, und wenn die Sonne scheint, sind die Herbstfarben eine wahre Pracht - und der Anblick verändert sich jeden Tag. Sogar bei trübem Wetter ist der Anblick aber eindrucksvoll, weil dann meistens der vom Fluß aufsteigende Nebel ganz unheimlich um die Bäume wabert und man manchmal dabei zusehen kann, wie er sich aufzulösen beginnt. 

Wir haben das letztes Jahr im Mai, als wir das Haus zum ersten Mal gesehen haben, schon ganz richtig erkannt: Dieses Haus wollte genau von uns bewohnt werden. 

 

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