Donnerstag, 18. Februar 2021

Gewichtsabnahme und Ketose - wie sehen die Zusammenhänge aus?

Mein Gewicht heute früh nach drei von vier Fastentagen: 96,7 Kilogramm. Das käme mir zuviel vor, es sind nämlich 200 Gramm mehr als bei meinem letzten langen Fastenintervall nach Tag 3, wenn ich nicht - und das ist echt ungewöhnlich - seit vollen vier Tagen keinen Stuhlgang gehabt hätte. Keine Ahnung, warum (es fühlt sich in mir eigentlich alles recht normal an), aber das dürfte die Erklärung dafür sein, daß ich nach bisherigen Erfahrungswerten noch "zu viel" wiege für dieses Stadium. Ich kann mich nicht erinnern, daß mir so was bei mehrtägigen Fastenintervallen schon einmal passiert wäre, also hoffe ich natürlich darauf, daß ich morgen früh entsprechend mehr als das letzte Mal abgenommen haben werde, nachdem ich dann endlich die zu erwartende "Sitzung" gehabt habe. Die kommt ja schon noch - irgendwann muß das ja doch wieder raus, was ich bis zum Sonntag gegessen habe. 

In der Nacht auf Sonntag bekam ich Sodbrennen und hatte in der darauffolgenden Nacht das Gefühl, das könnte wieder passieren. Das geschah nicht, aber ein gewisses Völlegefühl bestand schon. Vielleicht besteht dazu ja irgendein Zusammenhang, obwohl ich keine Ahnung habe, wie er aussehen könnte. Es ist jedenfalls das einzig Ungewöhnliche, das ich im zeitlichen Zusammenhang anzugeben wüßte. 

Ketose ist so ein Schlagwort, das mir bislang immer schwer über die Tastatur geflossen ist, weil es mir so wichtigtuerisch vorkommt. Jede Fachsprache hat ja ihr eigenes Rotwelsch, mit dem sich die "Eingeweihten" von uns Normalsterblichen abzugrenzen versuchen. Ich habe da nie Ambitionen gehabt, also schrieb ich immer von der Fettverbrennung, was dasselbe meint wie Ketose. 

Da ich ja im Herbst eventuell einmal mit Low Carb oder Keto experimentieren will, hat mich jetzt aber vorab schon mal interessiert, wie das mit der Ketose sich eigentlich bei langen Fastenintervallen entwickelt, und weil es die einfachste und billigste Methode ist (wenn auch nicht allzu genau), habe ich mir Ketostix zur Urinanalyse gekauft und seit dem Abend des ersten Fastentags immer morgens und abends einmal verwendet. Zu meiner Überraschung dauerte es volle 48 Stunden, bis zum ersten Mal eine leichte Verfärbung Spuren von Ketonen im Urin anzeigte. Auch am Morgen des dritten Tages wurde mir dies angezeigt. Abends am dritten Tag war die Menge "gering" und erst heute früh "mittel". Eigentlich hätte ich erwartet, daß das früher meßbar sei. Aber diese Teststreifen sind sehr ungenau, und bei einer Online-Recherche vorin ließ ich mich gerne darüber belehren, daß es so lang wie breit sei, ob nun viele oder wenige Ketone im Urin gemessen würden; wenn sie im Urin ausgeschieden werden, ist man definitiv in Ketose. 

Jetzt, wo ich dieses Wort in letzter Zeit so häufig gehört und mich mit der zugehörigen Wirkung befaßt habe, fange ich doch langsam an, mich an seine Verwendung zu gewöhnen.

Die Streifen sind vor zwei Wochen bei mir eingetroffen, und ich konnte sie schon einmal am Tag nach einem zweitägigen Fastenintervall ausprobieren, allerdings hatte ich da schon etwas gegessen. Da fing ich trotz der bereits genossenen Mahlzeit mit "mittel" an, und noch bis zum nächsten Mittag waren "Spuren" von Ketonen im Urin. Die Sache wird also wohl mit einiger Zeitverzögerung angezeigt. Als ich letzte Woche nach einem 36stündigen Fastenintervall gemessen habe, wurden keine Ketone im Urin angezeigt, aber das muß dann offenbar noch nichts heißen. Nächste Woche probiere ich vielleicht einmal aus, was am Tag nach einem solchen Fastenintervall mittags und abends für ein Ergebnis herauskommt.

Vielleicht sollte ich ja doch noch ein paar weitere Euros in eine exaktere Meßweise investieren, um die Ergebnisse miteinander zu vergleichen. 

Mich beschäftigt die Frage schon länger, wie und warum die Abnahmen unter verschiedenen Voraussetzungen zustande kommen. Im ersten halben Jahr habe ich ja - ganz ohne Zweifel - mit 20 Kilo minus extrem abgenommen, ohne aber jemals in Ketose gewesen zu sein, da meine Fastenintervalle nur 18 bzw. 21 Stunden dauerten. Das heißt, dieser Modus ist nicht immer und unter allen Begleitumständen eine Voraussetzung, um abzunehmen. Ich wüßte dann doch gerne, wie es trotzdem zur Abnahme kommt, da ja rein theoretisch der Weg zur Fettverbrennung blockiert sein müßte. Aber ebenso spannend fände ich es, zu wissen, warum das nicht dauerhaft funktioniert, denn das scheint, wenn ich so beobachte, was für Erfahrungen andere mit Intervallfasten machen, keine seltene Entwicklung zu sein. 

Das Problem dabei ist, daß schon die Insulin-Theorie zugrundeliegen müßte, um diese Abweichung von der Regel zu erklären. Mit kalorienbasierten Ansätzen fange ich nichts an, denn nach Kalorienlogik war meine hohe Abnahme ja noch viel weniger zu erklären. 

In dieser Anfangsphase muß irgendetwas anderes wirksam werden als später, und ich finde es bedenklich, daß die Intervallfasten-Anhänger gerne so tun, als ginge es bei Interfallfasten im Großen und Ganzen um eine lineare, beliebig weiter fortsetzbare Entwicklung. Das ist so offensichtlich nicht der Fall, daß sie damit riskieren, daß ihre Methoden den Weg der Atkins-Diät gehen, von deren Langzeitwirkung so viele zunächst begeisterte Anhänger enttäuscht waren, daß sie für lange Zeit in Vergessenheit geriet, bevor sie als "Low Carb" eine Wiederauferstehung feierte.

Inzwischen scheinen 36-Stunden-Fastenintervalle bei mir nicht mehr für eine auf der Waage meßbare Abnahme auszureichen, aber das war zwei Jahre lang noch anders, und weitere 25 Kilo Abnahme verdanke ich solchen Fastenintervallen. Ob und wie lange ich in diesem 36-Stunden-Zeitraum in Ketose gelangt bin, weiß ich aber nicht. Laut den Urin-Teststreifen gar nicht, aber vielleicht würde eine Blutanalyse ein anderes Ergebnis bringen. Dieser Zeitraum der Abnahme hätte im Prinzip auch mit Kalorienlogik erklärt werden können, und eine Menge Leute haben das mir gegenüber auch versucht. Da ich aber - neben einer langen Vorgeschichte mit kalorienbasierten Abnahmeversuchen - auch das vorausgegangene halbe Jahr erlebt hatte, bissen sie bei mir auf Granit. 

Ich finde es übrigens bemerkenswert, was für weit hergeholte Vermutungen alles dafür herhalten müssen, etwas wegzuerklären, das so offensichtlich ist wie mein erstes halbes Fastenjahr, in dem ich mit nur ca. hundert ausgelassenen Mahlzeiten 20 Kilogramm von mir abgeschüttelt habe. Es gab Leute, die mir allen Ernstes unterstellten, ich hätte "unbewußt gesünder" gegessen. Auf so etwas konnte ich nur mit hysterischem Gelächter reagieren, denn das waren dieselben Leute, die mir, als ich noch zunahm, ebenso unterstellten, ich müsse ungesünder gegessen haben, da ich ja zugenommen hatte.

Meine aktuellen viertägigen Fastenintervalle, mit denen ich letzten Sommer begonnen habe, bringen mich ohne jeden Zweifel (und neuerdings auch nachgewiesenermaßen) in Ketose, aber gemessen daran ist meine tatsächliche Abnahme bislang enttäuschend ausgefallen, was aber auch daran liegen kann, daß der Herbst mit seiner alljährlichen Zunahme und der Winter mit der ebenfalls alljährlichen frustrierenden Stagnation dazwischenkam. Ich hatte den Eindruck, daß es diesmal noch zäher als sonst war. Das kann Einbildung sein, es könnte aber auch bedeuten, daß die Wirkung des unbekannten Faktors, der im Herbst die Zunahme auslöst, stärker zu Buche schlägt, weil die Wirkung des Fastens, die ihm gegenübersteht, immer schwächer wird. 

Über die tatsächliche Wirkung von Fastenintervallen, bei denen ich längere Zeit in Ketose bin, kann ich erst im September seriös urteilen, denn eigentlich sollte das Was-auch-Immer, das mir jedes Jahr über den Winter alles versaut, jetzt sein jahreszeitliches Ende gefunden haben. Viertägige Fastenintervalle müßten aber sowohl nach der Keto- als auch nach Kalorien-Theorie zu einer deutlicheren Abnahme führen, als ich sie bislang vorzuweisen habe. Wieder habe ich keine Ahnung, wieso das nicht der Fall ist. Ich sehe aber, dass mein Körperumfang sich weiter verringert, und das ist immerhin ein Zeichen, daß ich nichts Grundsätzliches falsch mache, obwohl ich mich schon manchmal mit leichter Besorgnis frage, in welchen Körperteil sich die Körpersubstanz, die sich zuvor am Oberkörper befunden hatte, wohl verkrümelt haben mag.

Ich scheine bei weitem nicht die einzige zu sein, der das so geht, aber so richtig ernsthaft sucht bislang noch niemand nach den Gründen, sondern betont nur diesen letzten von mir erwähnten Punkt, um die Motivation aufrechtzuhalten, oder es kommen wieder Ernährungsvorschriften, die mehr oder weniger unbegründet aus dem Zylinder gezaubert wurden und vielleicht insgeheim der Mottenkiste der Kalorienlogiker entnommen wurden. Das ärgert mich ein bißchen. 

Eine interessante Begegnung hatte ich auf Twitter, ein Mann, der erfolgreich mit Low Carb abnahm, auf das berüchtigte Plateau gelangte und anschließend mit "High Carb" (was immer damit gemeint war) den Rest bis zum Wunschgewicht abnahm. Die Details kenne ich nicht und habe gerade keine Lust, sie zu erfragen, da ich auf meine Antwort keine Reaktion mehr bekam. Aber das behalte ich mal im Hinterkopf, daß Low Carb möglicherweise bei Eintreten von "Umstand x" (den ich aber nicht kenne) nicht mehr weiter wirkt, während ein Methodenwechsel einen wieder auf die Erfolgsspur bringen kann. Und damit gilt das für Fasten wohl ebenfalls.

Ich muß allerdings auch klar sagen, daß ich absolut unwillens bin, mich mit diesen Kaloriengedöns jemals wieder abzugeben, und zwar auch dann, wenn es zwingend erforderlich wäre, um mein Zielgewicht zu erreichen. Falls ich also mit Fasten nicht mehr weiterkäme und auch keine mir komfortable andere Methode finden sollte, würde ich wohl eher mein Gewichtsziel aufgeben, als mich mit so was herumzuquälen.

Aber so weit sind wir noch lange nicht. Ich möchte in jedem Fall dieses Jahr noch unter die 90. Falls das mit der jetzt angewandten und für den Herbst angestrebten Methode nicht klappt, kann es aber sein, daß ich 2022 für ein Jahr in den Haltemodus gehe, also immer nur so viel faste, um mein Gewicht konstant auf demselben Level zu halten, und mir in diesem Jahr dazu ein paar Gedanken mache, was ich bereit bin, für eine weitere Gewichtsreduktion auf mich zu nehmen. Denn eigentlich fühle ich mich in meiner Haut ja schon richtig wohl. Wenn ich die Zahl 73,5 Kilogramm mit den von mir gewünschten Mitteln entgegen meiner anfänglichen Erwartung doch nicht erreichen kann, ändere ich vielleicht ja doch einfach mein Ziel.

Gerne machen würde ich das nicht, es hätte so einen Beigeschmack von Versagen, und für so was bin ich eigentlich viel zu eitel und zu störrisch. Aber andererseits, wenn meine Grundannahmen nicht stimmen, muß ich den Fehler in ihnen finden und die Grundannahmen dem anpassen, sonst komme ich natürlich kaum auf einen grünen Zweig. Und das kann natürlich ebenso zu einer Anpassung der Zielsetzungen führen.

Was mir sonst noch zu denken gibt

Ich sah gestern in einem Kommentar aus den Tagesthemen von einer gewissen Sabrina Fritz, in dem sich die Kommentartorin zu folgendem Fazit verstieg: 

"Herr #Altmaier, öffnen sie die Geschäfte! (...) Niemand kann mir erklären, warum es gefährlicher ist eine Bluse zu kaufen als einen Blumenkohl"

Eigentlich sollte sich dieser Unterschied ja von selbst verstehen. Daß niemand es ihr erklären konnte, spricht außerdem nicht für die Leute, die sie gefragt hat. 

Der entscheidende Unterschied ist eigentlich ja mit Händen zu greifen. Beim Blumenkohl handelt es sich um ein Lebensmittel, und Lebensmittel sind mit gutem Grund von den Ladenschließungen ausgenommen, denn was hätten wir davon, wenn wir kein Corona kriegen, aber dafür verhungern? Die Option "Entweder beides schließen oder beides öffnen" besteht also in diesem Fall von vornherein nicht. Damit spielt aber auch von vornherein keine Rolle, ob und wenn ja was von beidem gefährlicher ist. Der Blumenkohl wird politischerseits mit gutem Grund anders als die Bluse behandelt, und das ließe sich auch nicht ändern, nicht einmal dann, wenn er zehnmal gefährlicher als die Bluse wäre. 

Denn wie sollte das nach Meinung von Frau Fritz eigentlich funktionieren, den Blumenkohl (stellvertretend für sämtliche Lebensmittel) so wie die Bluse zum hungrigen Bürger zu bringen, wenn er ihn nicht selbst einkaufen kann?

Lieferdienste? Daß ich nicht lache. Die Infrastruktur, um mehr als 80 Millionen Deutsche mit Essen zu beliefern, ist im kommerziellen Bereich schlicht nicht vorhanden. Die Paketboten ächzen schon unter all den Blusen (stellvertretend für die Produkte, bei denen die Läden gerade geschlossen sind). Wer also sollte sich darum kümmern, etwa ebenfalls die Bundeswehr, so wie bei der Kontaktnachverfolgung? Bei der Vorstellung, es könnte bei der Lebensmittelversorgung genausoviel schieflaufen wie bei der Kontaktverfolgung, den Tests oder den Hilfsgeldern rieselt es mir eiskalt das Kreuz runter. Reicht es nicht, sich mit Corona herumplagen zu müssen, brauchen wir auch noch Hungerkrawalle, Überfälle auf Lebensmittellieferanten, vergessene Einzelfälle, die sich nicht selbst helfen können und in ihren vier Wänden einfach verhungern?

Es ist  immer WESENTLICH empfehlenswerter, nicht auf die reibungslose Funktion von Behörden existentiell angewiesen zu sein. Das kann jeder bestätigen, der einmal wirklich darauf angewiesen war. 

Vergessen wir also die Frage von Sabrina Fritz, jeder, der für fünf Pfennig Verstand hat, kann sich selbst die richtige Antwort darauf geben. 

Interessanter würde die angesprochene Frage aber, wenn nach dem Unterschied zwischen der Bluse und dem Haarschnitt gefragt wird; beides ist ja nicht lebensnotwendig, und den Haarschnitt bekommt man nach den letzten Beschlüssen trotzdem voraussichtlich eine Woche früher. Ein paar Journalisten haben in den einschlägigen Pressekonferenzen schon danach gefragt, und mich haben die Antworten von Merkel über Spahn bis Söder nicht zufriedengestellt. Sie haben das meiner Meinung nach falsch zu verkaufen versucht, indem sie dem Haarschnitt eine besondere Rolle in der Menschenwürde zusprachen. In Wirklichkeit ist es aber so, daß Bluse und Haarschnitt in Bezug auf Menschenwürde durchaus gleichrangig sein können, je nachdem, warum jemand eines von beidem gerade besonders dringend zu benötigen glaubt. Nur: Den Haarschnitt kann man im Gegensatz zur Bluse halt nicht online bestellen.

Dem Gesamtkontext konnte man entnehmen, daß Sabrina Fritz eigentlich eher auf diesen Vergleich hinauswollte, nur war ihr statt dessen gewähltes Vergleichsbeispiel ein Griff ins Klo. Das illustriert mir deshalb vor allem, was ich von den Analysefähigkeiten der Leiterin der Wirtschaftsredaktion im SWR zu halten habe. Ihr Gesamtvorstoß deutet wohl darauf hin, daß sie die Interessen der weiter geschlossenen Geschäfte vertritt, ob aus eigenem Antrieb oder im Auftrag von interessierter Seite, lasse ich mal dahingestellt. Vielleicht wählte sie den Blumenkohl ja, weil man im Moment den Haarschnitt derzeit auch noch nicht kriegt.

Was wir gerade erleben, und das nicht nur durch die Forderung von Frau Fritz, ist jedenfalls ein Lehrbuchbeispiel für Futterneid unter den coronageschädigten Branchen, die nun die Lautsprecher ihrer Interessengruppen losschicken, um so viel Rabatz wie möglich zu machen. Diejenigen, die noch weiter zubleiben müssen, gönnen denen, die eine einzige Woche früher aufmachen dürfen, nämlich schlicht und einfach diese Woche nicht. Dabei sollte es doch eigentlich klar sein, daß eine etwaige Forderung "Entweder alle oder keiner" solle aufmachen dürfen, unter den aktuellen Umständen ohne jeden Zweifel mit "Gut, dann eben keiner" beantwortet werden müßte. Ob es die Modegeschäfte aber wirklich glücklicher machen würde, wenn die Friseure eine weitere Woche lang genauso unglücklich wären?

Wenn "alle" offen haben, dann vervielfachen sich nämlich schon die direkten, aber ganz besonders indirekten Kontakte jedes Einkaufenden, und das Infektionsrisiko vervielfacht sich damit natürlich ebenfalls. Erstens, weil er häufiger einkauft, zweitens, weil er häufiger die zugehörigen Einkaufswege zurücklegt, drittens weil er je Einkauf mehr Stationen anläuft. 

Die Hygienekonzepte dieser oder jener Branchen, von Fitnessstudios bis Gaststätten zu lobpreisen, wenn jeder, der sich dort einfindet, sich mutmaßlich mit einer sagen wir: zehnmal so hohen Wahrscheinlichkeit wie jetzt schon irgendwo anders vorher infiziert hatte, ist damit sinnloses Wortgeklingel. Die Hygienekonzepte haben im Oktober nicht gegen die Ansteckungen geholfen, und im November im Lockdown light, als nur die Gastronomie zumachen mußte, auch nicht. Geholfen hat es aber ab Mitte Dezember, die Leute davon abzuhalten, sich mehr als unbedingt nötig außerhalb ihrer Wohnung aufzuhalten und damit ihre direkten, aber noch viel mehr ihre indirekten Kontakte zu reduzieren. Die Entwicklung der Infektionszahlen spricht da eine deutliche Sprache. 

Wenn ich mich selbst als Beispiel nehme, ich bin schon immer im Homeoffice und pflege wenige regelmäßige Kontakte. Meine größte Infektionsgefahr sind die Arbeitskollegen meines Mannes, die er natürlich nicht vermeiden kann. Sein Ansteckungsrisiko ist hoch genug, um auch meines deutlich zu erhöhen. Und daß das nicht nur reine Theorie ist, zeigt mir, daß ein Kollege von ihm - obwohl gerade in Quarantäne, weil seine Frau infiziert ist -, ärgerlicherweise letzte Woche am Samstag zur Arbeit gekommen ist. Da waren zwar nicht viele Leute da, aber ein anderer Kollege, der mit meinem Mann regelmäßig direkt zusammenarbeitet. 

Von diesem einen Kollegen weiß ich, daß er meine Infektionsgefahr erhöht hat, bei allen anderen, von denen ja jeder im Alltag noch andere Kontakte außerhalb des Betriebs hat, weiß ich es nicht, aber da mein Mann mit ihnen allen täglich zu tun hat, hatte ich schon auf der zweiten Ebene der indirekten Kontakte (also die Kontakte, die die Arbeitskollegen meines Mannes haben, der wiederum mein direkter Kontakt ist) mit einer höchstwahrscheinlich dreistelligen Zahl von Menschen zu tun.

Um dem Risiko indirekter Kontakte zu entgehen, müßte ich mich also auch von meinem Mann fernhalten, der sie nun einmal nicht vermeiden kann. Vergleichbares trifft aber immer auch auf die Supermarktkassiererin, die junge Mutti vor mir in der Schlage an der Kasse oder den Mann im Bus auf dem Sitz hinter mir zu. Die Gefahr liegt also nicht im einzelnen Geschäft, sondern in der höheren Zahl der von einer einzelnen Person aufgesuchten Geschäfte, wenn sie alle wieder offen sind, und damit zwangsläufig auch dem höheren Risiko, in Kontakt mit einem anderen Infizierten zu kommen und sich bei ihm anzustecken. 

Wenn man sich aber bei der Öffnung erst einmal auf eine einzige Gruppe beschränkt - ob das nun die Friseure oder die Modegeschäfte oder die Kinos sind -, dann erhöht sich die Zahl der Kontakte um einiges weniger. Also hat es seinen guten Sinn, mit einer einzigen Branche vorzufühlen. Und die Friseure bieten sich dafür deshalb mehr an als andere Branchen, weil ihr Angebot auf andere Weise als ihre Öffnung beim besten Willen nicht zu bekommen ist. 

Ich kann es ja einsehen, daß die Leute die Nase voll haben von den Schließungen. Aber könnten wir bitte - BITTE - wenigstens noch abwarten, was nach den Schulöffnungen passiert, die ja als Erstes dran sind? Die Rolle der Schulen wurde bislang meines Erachtens ohnehin unterschätzt, und es könnte durchaus sein, daß die Infektionszahlen nach den Schulöffnungen stärker nach oben gehen, als es jetzt erwartet wird. Es wäre schön, Ursache und Wirkung dann auch einander zuordnen zu können, anstatt wieder mit dem Rätselraten und dem Anpreisen der diversen Hygienekonzepte von vorne anzufangen, ohne wirklich zu wissen, woran es gelegen hatte. 

Mein Gedächtnis ist übrigens immer noch gut genug, um mich sehr genau daran zu erinnern, daß dieselben Branchen, die jetzt am lautesten die Öffnung fordern, letzten Sommer ebenfalls am lautesten gejammert haben, weil ihre Kunden nicht ausreichend in Kauflaune waren. Das wurde oft auf die Maskenpflicht zurückgeführt, die man dementsprechend gerne losgehabt hätte, aber ich vermute eher, es fehlten die Anlässe zum Shopping insbesondere im Bereich Mode, da man sich ja immer besonders gerne für Festivitäten schick neu herausputzt, und die fielen ja großteils aus. Die Frage ist also, ob die Modebranche, die gerade am lautesten klagt, nach der Wiederöffnung überhaupt mit einer zufriedenstellenden Geschäftsentwicklung wenigstens mit der Ware für die neue Saison rechnen könnte. Daß die "verderbliche Ware" Mode aus der letzten Saison wohl vielfach kaum noch verkäuflich ist, begreife ich sehr wohl, und ebenso, daß das ein immenser Schaden für Hersteller wie Händler ist. 

Für die Gesellschaft wäre der Schaden andernfalls aber, nüchtern betrachtet, gering. Daß die Menschheit problemlos ohne die Mode einer einzigen Saison auskommen kann, weil niemand deswegen in Lumpen herumlaufen muß, begreift jeder, der einen Blick in eBay wirft, wo Millionen Privatleute Klamotten verscherbeln, die sie einmal im selben Handel gekauft, aber dann selten oder nie getragen haben. Wenn es aber für das Überleben des Mode-Handels nötig sein sollte, daß jeder soundsoviele überflüssige Kleidungsstücke pro Jahr kauft (überflüssig definiert als: wird maximal ein- bis zweimal getragen und dann aussortiert), dann besteht schon ein Zielkonflikt, denn die Massenproduktion an Kleidung hat ja auch ihre problematischen Seiten. 

Die Gerechtigkeitsfrage zu stellen, steht also gerade dieser Branche nicht sonderlich gut zu Gesichte, dazu sitzt sie in anderen Gerechtigkeitsangelegenheiten zu sehr im Glashaus. Aber da es in der Corona-Frage niemals eine Lösung geben konnte, die alle Betroffenen, die sich persönlich oder als Geschäftsinhaber um den bestmöglichen Coronaschutz bemüht haben, akzeptabel finden, wäre es vielleicht besser gewesen, wenn die Politik deutlich artikuliert hätte, daß eine gerechte Lösung, mit der Bemühungen und guter Wille aller belohnt werden könnten, im Moment schlicht nicht möglich ist, aber eine dritte Coronawelle eine viel größere Ungerechtigkeit wäre als die durchaus ernstzunehmenden Nöte der schließungsgeplagten Branchen.

Übrigens: Die Infektionszahlen haben diese Woche leider aufgehört, weiter zu sinken, jedenfalls bundesweit betrachtet. Noch sind Anstiege nur in bestimmten Regionen dafür verantwortlich, daß die Zahlen insgesamt wieder ganz leicht steigen - ähnlich, wie es während des "Lockdown light" zu beobachten war -, aber es könnte durchaus sein, daß sämtliche Öffnungen, einschließlich derer der Friseure, am Ende doch gar nicht stattfinden werden. Dann wäre die Frage "Alle oder keiner" beantwortet, aber glücklich wird der Handel damit wohl nicht werden.




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